15. September 2022
Die organisierte Linke ist zu defensiv. Wenn wir gewinnen wollen, brauchen wir die Gewerkschaften. Und die brauchen eine Arbeiterpartei.
Die Zögerlichkeit der großen Gewerkschaften, sich den Protesten gegen die Regierung anzuschließen, ist auch ein Symptom der Schwäche der Linkspartei.
IMAGO / ReichweinEs steht schlecht um die Linkspartei. Das ist keine Neuigkeit. Die Klassenbindung der Partei ist quasi nicht existent. Das Sammelsurium von Aktivistinnen, (ostdeutschen) Protestwählern und Akademikerinnen, das bisher ihre Wählerbasis gebildet hat, ist kaum noch in der Lage, sie ins Parlament zu bringen.
Während sich innerhalb der Bevölkerung langsam Protest gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und die Politik der Regierung formiert, steht noch im Raum, welche Rolle DIE LINKE dabei im Herbst spielen wird.
Klar ist, dass die kurzfristigen Ziele, die wir uns setzen, im Verhältnis zu den Kapazitäten unserer Organisation stehen müssen. Linke tappen oft in die Falle, sich unabhängig von einer sozialen Basis zu radikalisieren, die die gestellten Forderungen umsetzen könnte. Eigentlich sollte klar sein, dass es uns keinen Schritt näher ans Ziel bringt, wenn zwanzig oder dreißig Seelen durch die Straßen laufen und fordern: »Kapitalismus abschaffen, jetzt!«. Kritiken daran wirkten jedoch oft wie ein Aufruf zu politischer Mäßigung und zur Aufgabe von ambitionierten Zielen.
Der vorauseilende Gehorsam von reformistisch orientierten Linken wirkt ebenso verfehlt. Reformvorschläge, die so kleinschrittig sind, dass sie niemanden mehr begeistern und keine spürbaren Verbesserungen erzielen, sind den Aufwand kaum Wert – besonders wenn sie von der Regierung trotzdem wortlos abgeschmettert werden.
Letzteres wiederum sollte eigentlich niemanden verwundern. Denn warum sollte sich die Regierung einen einzigen Millimeter bewegen, wenn sie nicht auf Stimmen aus der Opposition angewiesen ist? Wenn sich eine Partei wie DIE LINKE immer weiter auf die Regierungsparteien zubewegt, aus welchem Grund sollten Wählerinnen und Wähler dann ihr Wahlverhalten ändern? Man kann natürlich auf die großen Ziele im Wahlprogramm verweisen. Aber mit einer schwachen LINKEN ist es unrealistisch, dass die Dinge, für die man öffentlichkeitswirksam kämpft, auch tatsächlich umgesetzt werden. Und weil man der LINKEN nicht abkauft, dass sie ihre Forderungen realisiert, sind die stagnierenden oder fallenden Wahlergebnisse auch keine Überraschung mehr.
Anstatt zu versuchen, Parlamentarier von anderen Parteien vom richtigen Weg zu überzeugen oder eine Diskusverschiebung herbeizuführen, bei der nie ganz klar ist, wessen Diskurs wohin genau verschoben wird und welche Konsequenzen das materiell überhaupt hat, sollten die Forderungen der Linkspartei darauf ausgerichtet sein, eine politische Basis zu schaffen, die sie durchsetzen kann. Das bedeutet, Etappenziele zu setzen, die nicht nur theoretisch auf Unterstützung treffen, sondern die Leute wirklich begeistern und zum Mitmachen anregen.
»Gewerkschaften, die nur wie ein Service Provider für bestehende Mitglieder verhandeln, werden langfristig nicht stärker werden.«
Auf der anderen Seite bedeutet das auch, nicht nur eine Wunschliste aufzustellen und Menschen das Blaue vom Himmel zu versprechen. Es braucht konkrete und glaubwürdig Ziele – und die müssen priorisiert werden. Die Fortsetzung des 9-Euro-Tickets, ein Wintergeld von 1.000 Euro, ein Energiepreisdeckel und eine Übergewinnsteuer würden das Leben der Mehrheit der Menschen unmittelbar verbessern – und niemand kann ehrlich behaupten, dass diese Dinge unmöglich umsetzbar wären.
Früher oder später wird sich DIE LINKE in der Arbeiterbewegung verwurzeln müssen, wenn sie die Gesellschaft nachhaltig verändern will. Das Potenzial für so eine Entwicklung ist mit Hinblick auf die kommenden Tarifrunden im Herbst zweifellos vorhanden. Der kanadische Gewerkschafter Sam Gindin weist darauf hin, dass wiederum auch die Arbeiterbewegung eine Partei braucht, die eine koordinierende Rolle spielen, ein Reservoir für Organizer bilden, die Errungenschaften der Arbeiterklasse institutionalisieren und nicht-organisierte Teile der Klasse einbinden kann. Und es ist seit langem klar, dass die SPD diese Rolle nicht mehr einnimmt.
Die großen Gewerkschaften sind bisher relativ zögerlich, sich Protesten gegen die Politik der Regierung anzuschließen. Zyniker schlussfolgern, dass liege schlichtweg daran, dass der DGB von der SPD vereinnahmt ist, und deshalb wenig Interesse daran hat, eine SPD-geführte Regierung anzugreifen.
»Nicht die Verbindung der Gewerkschaften zur SPD, sondern die fehlende Verbindung zu einer Arbeiterpartei ist das Problem.«
Gewerkschaftsfunktionäre mit sozialdemokratischem Parteibuch sind in Deutschland sicherlich keine Rarität. Aber dieser Erklärungsansatz bricht nicht nur mit dem materialistischen Weltbild früherer Generationen von Sozialistinnen und Sozialisten, er ist schlichtweg nicht überzeugend. Denn es ist nicht so, als wären die Gewerkschaften nur in Ländern wie Deutschland, die eine lange sozialdemokratische Tradition haben, über die Zeit hinweg weniger militant geworden. Dieser Trend ist spätestens seit der Welle neoliberaler Politik im späten 20. Jahrhunderts in fast allen industriellen Zentren der Welt zu beobachten. Inmitten eines koordinierten Angriffs der Arbeitgeberseite, der auf Arbeitsplätze und die Errungenschaften der Vergangenheit abzielt, ist es nicht verwunderlich, dass Gewerkschaften eine defensive Haltung einnehmen.
Vielleicht war es eine taktische Notwendigkeit, sich auf die engeren Interessen der Gewerkschaftsmitglieder zu konzentrieren und Kompromisse einzugehen. Aber nach jahrzehntelangen Rückzugsgefechten ist es schmerzhaft offensichtlich, dass diese Strategie nicht zum Vorteil der Arbeiterbewegung ist.
Gewerkschaften, die nur wie ein Service Provider für bestehende Mitglieder verhandeln, werden langfristig nicht stärker werden. Tarifverträge beinhalten oft Cost-of-living-adjustment-Klauseln (COLA), und selbst wenn das nicht der Fall ist, sind organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter in einer besseren Position, um Lohnanpassungen einzufordern. Sie sind somit weniger stark von den steigenden Preisen betroffen – was vermutlich einer der Gründe ist, warum Gewerkschaften bisher nicht die treibende Kraft hinter den Protesten sind.
Unter den jetzigen Bedingungen ist nicht garantiert, dass sie aus den anstehenden Tarifrunden siegreich hervorgehen werden. Schon im Vorhinein wurden Zugeständnisse gemacht. Große Straßenproteste hingegen könnten den Gewerkschaften genau den Boost geben, den sie jetzt brauchen.
Wenn sich die Gewerkschaften den Protesten anschließen, würde ihnen das wiederum dabei helfen, bei armen und prekär beschäftigten Menschen, die von der Inflation besonders betroffen sind und die – wie die Geschichte gezeigt hat – schwer zu organisieren sind, als Anlaufstelle sichtbar zu werden. Im Rahmen einer breiten Bewegung gegen sinkende Lebensstandards könnte sich die Linkspartei sich als Bindeglied zwischen den Gewerkschaften und der restlichen Arbeiterklasse etablieren. Es ist letztlich fast andersherum, als von den Zynikern behauptet wird – nicht die Verbindung der Gewerkschaften zur SPD, sondern die fehlende Verbindung zu einer Arbeiterpartei ist das Problem.
Es ist also auf beiden Seiten Potenzial da. Aber um dieses Potenzial zu nutzen, muss die Linkspartei erst einmal wieder relevant werden. Die Partei ist in so einem geschwächten und desorganisierten Zustand, dass man es arbeitenden Menschen in Gewerkschaften und außerhalb kaum verübeln kann, wenn keine Hoffnungen mehr auf DIE LINKE setzen.
Partei wie Gewerkschaften brauchen eine soziale Bewegung, die dem Protest der vielen Betroffenen und Desillusionierten eine organisierende Perspektive gibt und auch Leute mobilisieren kann, die keine Hobby-Aktivistinnen sind. So setzen wir langfristig auch Ziele auf die Agenda, die jetzt noch außer Reichweite sind.