15. März 2022
Seit in der Ukraine Krieg herrscht, hat sich das Land extrem verschuldet. Die EU und der IWF gewähren ihre Finanzhilfe nur, wenn das Land im Gegenzug kapitalfreundliche Maßnahmen umsetzt. Was der ukrainischen Bevölkerung tatsächlich helfen würde, ist ein Schuldenerlass.
Bewohner der Stadt Irpin auf der Flucht vor russischen Bombardements, 5. März 2022.
Während die Ukraine gegen die verheerende russische Invasion ankämpft und bereits über 1,5 Millionen Menschen das Land verlassen haben, um Schutz vor dem Krieg zu suchen, sicherten zahlreiche Regierungen dem Land finanzielle und militärische Unterstützung zu. Diese Abhängigkeit von Hilfe aus dem Ausland ist nicht neu.
Seit den 1990er Jahren ist die Wirtschaft der Ukraine im Vergleich zu anderen postsowjetischen Ländern stark im Rückstand. Unter dem Einfluss der globalen Finanzkrise, des seit 2014 andauernden Krieges und der Pandemie hat das Land immer wieder Kredite des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der Europäischen Kommission in Anspruch genommen. Diese Kreditvergabe war jedoch alles andere als selbstlos. Seither dient ein immer größerer Anteil der öffentlichen Ausgaben der Tilgung der Schulden. Hinzu kommt, dass die Kredite nur unter der Auflage gewährt werden, dass sich die Ukraine dazu verpflichtet, »wirtschaftsfreundliche Bedingungen« zu schaffen und den Sozialstaat abzubauen.
Kurz vor der Invasion – am 21. Februar – kündigte die Europäische Kommission an, die Ukraine mit 1,2 Milliarden Euro zu unterstützen. Doch auch für diese Kredite wurden als Gegenleistung nicht näher bezeichnete »strukturpolitische Maßnahmen« gefordert. Aktivistinnen und Aktivisten fordern jetzt den Erlass der Auslandsschulden der Ukraine. Das allein wird nicht ausreichen, um die Ukraine zu retten. Dennoch wäre dieser Schritt von zentraler Bedeutung, um zu gewährleisten, dass die ukrainische Bevölkerung in Zukunft nicht noch abhängiger von Gläubigern und Oligarchen ist, sobald das Land seinen Frieden wiedererlangt hat.
Alexander Krawtschuk ist Wirtschaftswissenschaftler und Redakteur bei Commons: Journal of Social Critique, wo er bereits über die Kreditbedingungen, die der IWF an die Ukraine stellt, berichtet hat. Im Interview mit David Broder von JACOBIN spricht er über die wirtschaftliche Lage des Landes und erklärt, warum ein Schuldenerlass so wichtig ist, wenn die Ukrainerinnen und Ukrainer ihre Zukunft selbst bestimmen können sollen.
In den westlichen Medien ist immer wieder zu lesen, die Ukrainerinnen und Ukrainer seien »Menschen aus der Mittelschicht wie wir«. Manchmal wird dabei ein Unterschied zu Kriegsopfern in anderen Teilen der Welt impliziert. Wie war der durchschnittliche Lebensstandard der ukrainischen Bevölkerung vor der Invasion?
Diese Darstellung ist schlichtweg falsch. Die Ukraine gehörte gewissermaßen zum nördlichen Teil des Globalen Südens und konkurrierte mit Moldawien um den Titel des ärmsten Landes in Europa.
In der folgenden Grafik habe ich vergleichende Daten zu der wirtschaftlichen Entwicklung in der Ukraine, der EU und den USA zusammengefasst:
Das Pro-Kopf-Einkommen der Ukraine ist weitaus niedriger als in der EU, im Vergleich zu den USA zeigt sich das noch drastischer. Neuere Daten zeigen, wie hoch die Armut in der ukrainischen Bevölkerung ist, mit Durchschnittslöhnen von unter 500 Euro pro Monat:
Seit dem Ausbruch des Krieges im Osten, der Wirtschaftskrise von 2014 und dem Verlust von Absatzmärkten haben sich die Einkommen der Menschen kaum erholt. Aber das Lohnniveau war selbst damals schon zu niedrig. Dafür gibt es mehrere Gründe:
Erstens floss durch Offshore-Firmen, die oftmals nach der Privatisierung in den ehemaligen sowjetischen Industrien gegründet wurden, Vermögen ins Ausland. Zweitens beschränkte sich der Export weitestgehend auf Rohstoffe (Getreide, Metall, chemische Industrie). Drittens liegt das an einer verfehlten Schuldenpolitik. Die Bedingungen, zu denen der IWF seine Kredite vergab, sahen vor, selbst noch die Überreste des Sozialstaats abzubauen. Die Bedienung der Staatsschulden ist zu einer der größten Haushaltsausgaben des Staates geworden (im Jahr 2021 wurden 8,5 Prozent der Gesamtausgaben darauf verwendet). Und viertens mangelt es an Unterstützung für ukrainische Hightech-Produkte, insbesondere aufgrund unfairer Handelsabkommen mit ausländischen Partnern (einschließlich des Assoziierungsabkommens mit der EU).
Der Krieg ab 2014 hat den Investitionsfluss blockiert, wodurch sich die Lage noch verschlechterte. Seither wurden auch die Möglichkeiten der politischen Mitbestimmung eingeschränkt. Sozioökonomischer Protest wurde bagatellisiert und galt in Anbetracht des Krieges als »deplatziert«.
Anstatt für eine bessere Zukunft in der Ukraine zu kämpfen, migrierten massenweise Ukrainerinnen und Ukrainer ins Ausland. Im Jahr 2020 rangierte die Ukraine laut Angaben der UN auf Platz acht der Länder mit der höchsten Arbeitsmigration. Millionen sind in den letzten Jahren in osteuropäische EU-Mitgliedstaaten (etwa nach Polen oder Tschechien) ausgewandert. In diesen Ländern haben sie jene Arbeitskräfte ersetzt, die auf der Suche nach besseren Perspektiven nach Deutschland, Großbritannien und in andere wirtschaftsstarke Länder gegangen sind. Die EU rechnet damit, dass im Zuge dieses Krieges bis zu 5 Millionen Menschen die Ukraine verlassen werden – qualifiziertere Arbeitskräfte, die in die europäische Gesellschaft integriert werden sollen.
Der IWF und die Weltbank haben der Ukraine in den letzten acht Jahren größere Beträge zur Verfügung gestellt. Waren auch diese Kredite an bestimmte Bedingungen geknüpft? Wie populär ist die Forderung nach einem Schuldenerlass in der ukrainischen Bevölkerung?
Der IWF und andere Finanzinstitutionen haben die sogenannten »Marktreformen« in der Ukraine vorangetrieben. Wir haben darüber im Rahmen unseres Projekts »Alternative Mechanisms for the Socio-Economic Development of Ukraine« geschrieben. Schon 2015 habe ich in einem Artikel über die Gründe für die Schuldenabhängigkeit und ihre negativen Folgewirkungen in der Ukraine berichtet.
Auf dem Energiemarkt wurden in diesem Bereich bis zuletzt »Erfolge« verzeichnet: Unter dem Druck des IWF sind die Energiepreise in der Ukraine seit 2014 um das Zehnfache gestiegen. Im November 2021 einigte sich die ukrainische Regierung mit dem IWF darauf, den Energiemarkt endgültig zu deregulieren und ukrainisches Gas zu hohen Wechselkursen zu verkaufen. Im Zuge dieses Krieges könnten sich die Tarife nochmal um das Drei- bis Fünffache erhöhen.
Ich habe das in folgender Infografik noch einmal zusammengefasst:
Wir haben es geschafft, die Idee einer Reformierung der Schuldenpolitik in der breiteren ukrainischen Gesellschaft in Umlauf zu bringen. Der Vorschlag wurde von verschiedenen Akteuren – auch nationalistischen Kräften – aufgegriffen. Aber der Druck von außen war zu stark und die neue Regierung unter Selenskyj zu schwach, um diesen Vorschlag ernsthaft zu verfolgen. Allerdings hätte es dazu auch eine starke Wirtschaftspolitik und die Wiederherstellung der uneingeschränkten Souveränität gebraucht.
In Eurer Petition schreibt Ihr: »Die chaotische Kreditaufnahme und die unsozialen Kreditbedingungen waren eine Konsequenz der totalen Oligarchisierung: Da sich die Regierung nicht traute, den Reichen die Stirn zu bieten, verschuldete sie sich immer weiter.« Kannst Du das näher ausführen? Und zwingt die hohe Verschuldung den Staat dazu, auch bei Infrastrukturprojekten auf Oligarchen zu setzen?
Der Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Verschuldung und der Abhängigkeit von der Privatwirtschaft ist zwar indirekt, aber dennoch bedeutend. Schon lange wird behauptet, die Ukraine habe einen völlig aufgeblähten Staat. In Wirklichkeit ist der Anteil des Nationaleinkommens, der durch Besteuerung und Budgetierung verteilt wird, in der Ukraine viel niedriger als in den wirtschaftlich stärkeren Ländern Europas.
Hinzu kommt, dass die meisten staatlichen Unternehmen privatisiert wurden. Das führt dazu, dass die Ukraine nicht über die nötigen Ressourcen und Kapazitäten verfügt, um Infrastrukturprojekte durchzuführen. Das Privatkapital in der Ukraine konzentriert sich in der Rohstoffindustrie und im Finanzsektor. Dieser Trend wird sich nach dem Krieg noch verschärfen, da die Instabilität der Region das Privatkapital abschreckt.
Viele westliche Länder haben der Ukraine humanitäre Hilfe versprochen und geleistet. Welche Bedeutung hätte ein Schuldenerlass im Kontext des Krieges, aber auch um der ukrainischen Bevölkerung die Möglichkeit zu geben, ihre Zukunft selbst zu gestalten?
Früher oder später wird dieser Krieg ein Ende finden, und die Ukraine wird nicht nur mit kaputt gebombter Infrastruktur, sondern auch mit riesigen Staatsschulden dastehen.
Die Option einer Umschuldung ist für die ukrainische Wirtschaft ungeeignet und wäre eher im Interesse der Gläubiger. Nach dem Kriegsausbruch im Jahr 2014 wurde schon einmal so vorgegangen: 2015 wurden einige der Zahlungen an kommerzielle Kreditgeber um drei Jahre aufgeschoben und 20 Prozent der Kreditsumme abgeschrieben. Doch zu welchem Preis? 15 Prozent des BIP-Anstiegs über 3 Prozent und 40 Prozent des BIP-Anstiegs über 4 Prozent musste die Ukraine an ihre Gläubiger abtreten. Wir konnten unsere Schulden schon vor dem Krieg kaum noch bedienen. Die Bedingungen der Kredite müssen daher transparent überprüft werden.
Was wäre dafür notwendig? Und was denkst Du über den Präzedenzfall des Londoner Schuldenabkommens, das 1953 die Schulden der Bundesrepuklik erließ?
Ich kann jetzt gerade keinen Mechanismus vorschlagen, der eine solche Überprüfung ermöglichen würde – gerade auch deswegen, weil in diesem Moment draußen Bomben einschlagen.
Aber ich bin überzeugt, dass wir uns in dieser Frage an der Arbeit des Komitees für die Abschaffung illegitimer Schulden orientieren können: Im Jahr 2008 wurden in Ecuador 70 Prozent der Staatsschulden für illegal erklärt und die frei gewordenen Mittel daraufhin für die wirtschaftliche Entwicklung und den Ausbau des Sozialstaats verwendet.
In diesen Tagen fällt es schwer, sich ein friedliches Leben in der Ukraine vorzustellen. Dennoch müssen wir weiter daran arbeiten, eine unabhängige und sozial gerechte Gesellschaft aufzubauen. Genau deshalb gehört das Joch der Schulden auf den Müllhaufen der Geschichte – zusammen mit der Armee der russischen Invasoren.
Alexander Krawtschuk ist Redakteur der Zeitschrift Commons: Journal of Social Critique. Er lebt in der Ukraine.
Alexander Krawtschuk ist Redakteur der Zeitschrift Commons: Journal of Social Critique. Er lebt in der Ukraine