03. Februar 2022
Am 3. Februar 1932 wurde der marxistische Kulturtheoretiker Stuart Hall geboren. Sein undogmatisches Denken über Rassismus, Klasse und Identität bleibt bis heute wegweisend.
Stuart Hall in den 1960er Jahren.
Als ich letztes Jahr einige Texte von Stuart Hall wieder zur Hand nahm, war das eine unerwartet folgenreiche Begegnung. Ich war zufällig auf Stuart Halls vor kurzem neu herausgegebene Essential Essays gestoßen – und je länger ich las, desto mehr staunte ich.
Die Texte in Essential Essays wirken seltsam aus der Zeit gefallen und sind doch frappierend aktuell. Die Fragen, mit denen Stuart Hall sich befasste, sind die Fragen unserer Gegenwart: Identität, Klassenpolitik, Antirassismus, Postkolonialismus, rechte Populismen, die Rolle der Linken.
Halls Antworten auf diese Fragen sind so bemerkenswert wie der Ton, in denen sie formuliert sind. Neben seinem Sinn für Humor und einer tiefen Bescheidenheit ist eine offene und interessierte Haltung charakteristisch für Hall. Aus seinen Texten sprechen intellektuelle und menschliche Großzügigkeit. Hall hörte genauso aufmerksam zu, wie er sprach.
Das heißt nicht, dass er Kontroversen scheute oder nicht klar Position bezog – im Gegenteil. Hall war ein leidenschaftlicher Kämpfer und Freund der politischen Auseinandersetzung. Seine Argumentation zielte aber nie darauf ab, seinen Gegner zu schlagen oder zu denunzieren. Sein Schreiben und Sprechen sollte vielmehr Diskussionen anregen, um schwierigen Fragen ergebnisoffen auf den Grund zu gehen und die eigene Position zu schärfen.
Eine Frage der Identität
Die Frage nach der Identität bezeichnete Stuart Hall einmal als »endloses, immer unvollendetes Gespräch«. Wir suchen, so Hall an einer Stelle in John Akomfrahs Dokumentarfilm The Stuart Hall Project, fieberhaft nach der Antwort auf die Frage, wer wir sind, aber finden sie nicht – weil es sie nicht gibt.
Identität sei keine tief in uns verborgene Wahrheit, die es zu entdecken gilt, sondern das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses, in dem wir uns zu Regeln, Annahmen und Vorstellungen, welche die Gesellschaft an uns heranträgt, verhalten. Identität sei daher keine statische, unveränderliche Essenz, sondern immer im Entstehen und bedürfe der dauernden (Neu-)Konstruktion.
Das gelte vor allem für politische Identitäten. Es gebe, so Hall im Aufsatz »Alte und neue Identitäten, alte und neue Ethnizitäten«, keine politische Garantie, die sich direkt aus einer Identität ergebe. Ein Film sei nicht automatisch gut, weil eine schwarze Person ihn gemacht hat, eine politische Idee nicht garantiert richtig, weil sie von einer Frau stammt.
Solche vermeintlichen Gewissheiten aus Identitäten abzuleiten sei zwar verlockend, weil es uns Stabilität und Orientierung in einer komplexen Welt bietet, es sei aber politisch weder haltbar noch nützlich. Man könne diskriminierende Stereotype nicht einfach aushebeln, indem man sie ins Positive umkehre. Es führe in der politischen und kulturellen Arbeit kein Weg an der Komplexität und Widersprüchlichkeit von Identitäten vorbei.
Gleichzeitig verliere man ohne Identität als stabilisierende Fiktion die Basis, von der aus man lebt, arbeitet und sich in der Welt verortet. Es sei auch unmöglich, sich politisch zu organisieren, zu handeln und zu kämpfen, wenn man sich als Gruppe nicht durch eine gemeinsame Identität konsolidiere.
Die politische Aufgabe bestünde darin, einen Prozess der Identifikation anzustoßen, durch den sich eine Gruppe auf Basis einer bestimmten Forderung formiert.
»Identifikation bedeutet, dass man auf eine bestimmte Art und Weise angesprochen wird … : ›Du, in diesem Moment, an diesem Ort, zu diesem Zweck, an dieser Barrikade, mit diesen Leuten‹.«
Wir müssten, so Hall, die Notwendigkeit und die Unmöglichkeit von Identitäten anerkennen. Wir brauchen Identität, aber wir müssen sie immer wieder in Frage stellen. Denn Identitäten wohnt die Gefahr inne, zu unhinterfragten Gewissheiten zu gerinnen und uns einzuengen.
Hall bezeichnete diese Perspektive als eine »Identitätspolitik zweiten Grades«: Um von Außen übergestülpte Identitäten, die man als Ausdruck der eigenen Benachteiligung eigentlich überwinden möchte, zu bekämpfen und nicht zu stabilisieren, bedürfe es eines selbstkritischen Umgangs mit kollektiven Identitäten. Dieser sei nur möglich, wenn wir uns in einen Schwebezustand begeben, in dem wir zwar anerkennen, dass wir auf Identität angewiesen sind, sie aber auch immer wieder hinterfragen.
Für Hall ergab sich diese politische Haltung auch aus seiner biographischen Erfahrung. Geboren 1932 im kolonialen Kingston, Jamaika, war Hall 1951 mit einem Rhodes-Stipendium – also einem der prestigeträchtigsten Stipendien der Welt – nach Oxford gekommen, wo er Literaturwissenschaften studierte. Wirklich zugehörig fühlte er sich im elitären Oxford jedoch nicht.
Ende der 1950er Jahre politisierte sich Hall zusehends. Er schloss sich einem Kreis undogmatischer linker Intellektueller um Raymond Williams und E.P. Thompson an und wurde 1961 Chefredakteur der neugegründeten Zeitschrift New Left Review. 1964 heiratete er die feministische Historikerin Catherine Hall, die er auf einer Demonstration für nukleare Abrüstung kennengelernt hatte. Im Jahr 1964 wechselte er ans Centre for Contemporary Cultural Studies in Birmingham, dessen Direktor er 1968 schließlich wurde. Hall wurde als Mitbegründer der Cultural Studies zu einem der wichtigsten und bekanntesten linken Intellektuellen Großbritanniens.
Sein Leben in der Diaspora, zwischen zwei Inseln, zwischen Kolonie und Metropole, nannte er einmal einen »langen, andauernden Prozess der Disidentifikation«. Sich selbst bezeichnete er als den »Zucker auf dem Boden der englischen Teetasse«: Während eine Tasse Tee den Inbegriff von traditionell britischer Kultur darstellt, basiert sie zugleich auf der Ausbeutung kolonialer Arbeitskraft auf Tee- und Zuckerplantagen. Selbst die scheinbar eindeutigsten Symbole von Identität und Tradition entpuppen sich bei näherem Hinsehen als zutiefst widersprüchlich.
Schwarz sei er, so Hall, nicht etwa zur Welt gekommen, denn in der Welt seiner Kindheit habe diese Kategorie so nicht existiert. Erst in Großbritannien habe er sich selbst als schwarz begriffen und definiert. Die Einwanderer, die in den 1950er Jahren aus den ehemaligen Kolonien nach England emigrierten, begannen, sich die Fremdbezeichnung »Black« selbst anzueignen. Sie wurde so zu einer kollektiven Identität, mit der sich eben diese Menschen gegen die Ausgrenzung in der britischen Gesellschaft zu wehren begannen. Die Identifikation als »Black«, so betont Hall, sei selbst gewählt und eine politische Kategorie, keine Hautfarbe.
Sein intellektuelles Projekt bezeichnete Hall als »Politik ohne Garantien« – eine Formel, die zu seinem Markenzeichen wurde. Sie besagt im Kern: Alles, was an einer Idee, Position, Denkschule oder Identität selbstverständlich, eindeutig oder natürlich erscheint, ist kritisch zu hinterfragen. Hall positionierte sich in kontroversen Debatten daher oft zwischen den Polen, anstatt sich auf eine Seite zu schlagen.
Hall war entschiedener Marxist – aber vehementer Kritiker des Stalinismus und eines dogmatischen Marxismus. Er hielt die Analyse populärer Alltagskultur und der Massenmedien für »todernste politische Fragen« – aber warnte davor, sich auf symbolische Kämpfe zu beschränken und die ökonomischen Verhältnisse aus dem Blick zu verlieren. Er gilt als Mitbegründer der Identitätspolitik – aber war gleichzeitig einer ihrer vehementesten Kritiker.
Gegner warfen ihm Beliebigkeit vor und kritisierten, er habe wenig Eigenes und Originelles beizutragen. Aber Stuart Hall hätte wohl kaum etwas weniger interessiert, denn als originell zu gelten. Ein Text, ein Gedanke oder eine Idee waren für Hall danach zu bewerten, ob sie politisch nützlich sind, ob sie die kritische Analyse der Gegenwart voranbringen. Als politischer Denker und undogmatischer, sozialistischer Intellektueller war sein Blick immer darauf gerichtet, für Veränderungen zu streiten, die uns dem Ziel einer gerechteren Welt für alle näher bringen.
Das Mittel, um die analytischen Grundlagen für diese Veränderungen zu schaffen, war für Hall die begriffliche und intellektuelle Arbeit. Hall betrieb Theorie nicht als Selbstzweck, sondern als Instrument, um die eigene Gegenwart besser zu verstehen – und sie verändern zu können.
Bei einem Vortrag im Jahr 2004 in seiner Geburtsstadt Kingston erklärte er:
Ich würde auf Theorie verzichten, wenn ich könnte! Das Problem ist, dass ich das nicht kann. Wir können es nicht. Die Welt tritt uns als Chaos von Erscheinungen gegenüber, und die einzige Art und Weise, wie man sie verstehen, aufschlüsseln, analysieren, begreifen kann, um etwas gegen die gegenwärtige Konstellation, mit der man konfrontiert ist, zu tun, besteht darin, diese Reihe erstarrter und undurchsichtiger Erscheinungen mit den einzigen Werkzeugen zu durchbrechen, die man hat: Begriffe, Ideen und Gedanken.«
Hall grenzte sein Projekt als Intellektueller ausdrücklich von dem eines Akademikers oder Wissenschaftlers ab. Zwar würde er die Universität jederzeit als einen Ort, an dem Wissen ohne Verwertungszwang als Selbstzweck verbreitet werden kann, verteidigen. Ihm sei es aber um etwas ganz anderes gegangen als um eine akademische Karriere.
In Anlehnung an den italienischen Marxisten Antonio Gramsci sah Hall seine Aufgabe weder in der Soziologie, noch der Theorie oder der Kulturwissenschaft, sondern in der Analyse der gegenwärtigen historischen Konstellation:
»Das Objekt meiner intellektuellen Arbeit … ist, was ich die gegenwärtige Konjunktur nennen würde: Die Geschichte der Gegenwart. In welchen Verhältnissen befinden wir uns heute und wie sind wir hierher gekommen? Welche Kräfte haben diese Verhältnisse geschaffen, und wie kann ich sie verstehen, um an ihnen etwas zu ändern?«
Hall war Zeit seines Lebens auch ein engagierter Pädagoge, der an die emanzipative Kraft der Bildung glaubte. Ende der 1950er Jahre hatte Hall als Hauptschullehrer in East London gearbeitet. 1979 begann er an der zehn Jahre zuvor gegründeten Open University zu lehren, einer staatlichen Fernuniversität ohne Zugangsbeschränkungen. Auch in zahlreichen Fernsehprogrammen für die BBC vermittelte Hall seine Ideen einem breiten Publikum.
Immer wieder betonte er, die Linke müsse strategisch vorgehen, um möglichst viele Menschen aus der arbeitenden Klasse zu erreichen. Dafür müsse man alle massenmedialen Kanäle nutzen – ein elitäres Kultur- oder Politikverständnis lag ihm fern. Auf dieser Haltung gründete auch auch Halls Begeisterung für Reggae und Calypso, die er als Musikkulturen des populären Widerstands beschrieb.
In einem Vortrag aus dem Jahr 1980 richtete sich Hall an Lehrende, die das Thema Rassismus im Schulunterricht behandeln. Was er den versammelten Lehrkräften mitzuteilen hatte, wirkt aus heutiger Sicht kontraintuitiv, vielleicht sogar skandalös:
»Man muss eine Atmosphäre schaffen, die es den Leuten erlaubt, unpopuläre Dinge zu sagen. Ich glaube nicht, dass es sinnvoll ist, im Klassenzimmer eine Atmosphäre zu schaffen, die so eindeutig und unmissverständlich antirassistisch ist, dass der alltägliche und selbstverständliche Rassismus, der Teil der ideologischen Luft ist, die wir alle atmen, nicht zum Vorschein kommen und sich äußern kann.«
Die Erfahrungen und das Alltagswissen aller Lernenden, sagte Hall, müsse an die Oberfläche kommen, auch wenn das teilweise schmerzhaft sei. Denn man könne sich nur mit den Dingen kritisch auseinandersetzen, die auch geäußert werden.
Halls Empfehlungen stehen im Gegensatz zu heute etablierten Forderungen nach diskriminierungsfreien Safe Spaces und antirassistischen Sprachregelungen. Man mag die Herangehensweise Halls für überholt halten, aber sie folgte direkt aus seiner Analyse des Rassismus.
Die Frage des Rassismus spielte in Halls konjunkturellen Analysen spätestens seit den 1970er Jahren eine zentrale Rolle. Im 2021 erschienenen Band Selected Writings on Race and Difference lässt sich nachvollziehen, wie stark Halls Analyse des Rassismus im Marxismus und dessen kritischer Weiterentwicklung verankert waren.
Während seit einigen Jahren wieder heftig um das Verhältnis zwischen Klassenpolitik und Antirassismus gestritten wird, ist Halls Analyse von der Einsicht geprägt, dass Klasse und »Race« untrennbar miteinander verstrickt sind. Die Gegenüberstellung dieser beiden Kategorien fußt für Hall auf einer falschen Opposition.
Über psychologisch oder rein pädagogisch orientierte Ansätze des Antirassismus müsse man laut Hall hinausgehen. Die heute populären Anti-Bias-Trainings oder die pädagogisch angeleitete Reflexion über weiße Privilegien sind keine ausreichenden Mittel, um Rassismus zu überwinden. Denn der Rassismus ist für Hall ein gesellschaftliches, kein psychologisches Problem. Angemessen verstehen könne man ihn nur in seinem spezifischen historischen, geographischen und gesellschaftlichen Kontext, weshalb Hall auch von Rassismen im Plural spricht.
Grundlegende Gedanken zur Rolle des Rassismus formulierte Hall 1980 im Essay »›Rasse‹, Artikulation und Gesellschaften mit struktureller Dominante«. Hall sah im Rassismus einen Mechanismus, der es dem Kapital ermöglicht, die Lohnabhängigen in zwei Gruppen zu spalten und so leichter zu dominieren. Obwohl die Ausbeutung »schwarzer« und weißer Lohnabhängiger objektiv ein Effekt ihrer Klassenposition sei, nehmen beide Gruppen diese Ausbeutung durch das Prisma des Rassismus wahr.
Sie grenzen sich von der jeweils anderen Gruppe ab und geben ihr die Schuld für das eigene Schicksal. So werde die arbeitende Klasse daran gehindert, sich ihre Situation bewusst zu machen und sich als Klasse gegen das Kapital zu organisieren. »Race ist also die Modalität, in der Klasse ›gelebt‹ wird, das Medium, in dem Klassenverhältnisse erfahren, die Form in der sie angeeignet und ›durchgekämpft‹ werden,« heißt es in einer berühmten Formulierung.
Das hatte strategische Folgen für eine Politik des Antirassismus. Hall formulierte diese wenig später im Aufsatz »The Whites of their Eyes: Racist Ideologies and the Media«. Eine antirassistische Politik, die nur Eingeweihte und Überzeugte erreiche, schrieb Hall hier, führe politisch in die Sackgasse. Neben dem Kampf gegen organisierte rechtsextreme und rassistische Organisationen sei die Entwicklung eines antirassistischen Common Sense eine dringende politische Aufgabe, um weit verbreitetes rassistisches Alltagswissen zu bekämpfen:
»Diese Aufgabe, antirassistische Ideen populär zu machen, ist und muss Teil sein eines umfassenderen demokratischen Kampfes, der sich weder primär an rechtsextreme Hardliner noch an die kleinen Zahl der Engagierten und schon Bekehrten richtet, sondern an die große Masse, den gesunden Menschenverstand in der Bevölkerung und vor allem unter den Arbeitenden, von denen der Kampf zum Aufbau eines antirassistischen populären Blocks letztlich abhängen wird.«
Das erfordere aber eine völlig andere Ansprache und Diskussionsbereitschaft als das abgeschottete Selbstgespräch antirassistischer Gruppen.
Eine wegweisende Analyse des Rassismus und seiner Verschränkungen mit Fragen der Klasse hatte Hall als Teil eines Autorenkollektivs 1978 mit dem Buch Policing the Crisis vorgelegt. Diese Arbeit hatte die mediale Panik um den angeblich dramatischen Anstieg von »Muggings«, also gewalttätigen Raubüberfällen, in Großbritannien in den frühen 1970er Jahren als Symptom einer tiefen gesellschaftlichen Krise interpretiert. Eine Serie von Raubüberfällen hatte 1972 und 1973 zu ungewöhnlich heftigen politischen und medialen Reaktionen und – nach schnellen Strafrechtsverschärfungen – zu harten Strafen für die überwiegend »schwarzen« jugendlichen Täter geführt.
Für Hall und die anderen Autoren der Studie verdeckte diese moralische Panik den Blick auf tieferliegende Krisen. In den frühen 1970er Jahren geriet die Weltwirtschaft erstmals seit dem Boom nach 1945 ins Stottern. Das Narrativ der Aufstiegsgesellschaft wurde brüchig, das Vertrauen in den Staat erodierte und militante Arbeitskämpfe in Form massiver Streiks brachen aus.
Die Konservative Partei reagierte darauf mit einer neuen Law-and-Order-Politik. Im Zuge derer wurden in erster Linie »schwarze« Jugendliche als Gefahr für die Gesellschaft gebrandmarkt. Die weißen Teile der Arbeiterklasse wurden über die rassistische Angstmache und den Appell an Recht und Ordnung auf die Seite der Konservativen gezogen – obwohl die Partei ihnen mit einer gewerkschaftsfeindlichen Offensive zeitgleich de facto den Kampf angesagt hatte.
Durch diese moralische Panik wurde die weiße Arbeiterschaft auf konservative Werte und nationale Stabilität eingeschworen und der Klassengegensatz in eine Frage der Kultur umgedeutet.
Diese Phase, in der der sozialdemokratische Konsens nach dem Zweiten Weltkrieg zerbrach, bildete die Grundlage für den Aufstieg Margaret Thatchers, deren Politik Stuart Hall schon vor ihrem Amtsantritt im Aufsatz »The Great Moving Right Show« als autoritären Populismus analysierte. Der Erfolg Thatchers sei eine Konsequenz der Schwäche der Linken und des gescheiterten Krisenmanagements der Labour Party gewesen.
Vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise der 1970er Jahre habe die Labour-Regierung zunehmend im Interesse des Kapitals agieren müssen, um das Wachstum wieder anzukurbeln. Als sozialdemokratische Regierung habe sie im Zuge dessen die Arbeiterklasse und die Gewerkschaften diszipliniert, obwohl sie ursprünglich als deren politische Repräsentanz angetreten war.
Damit hatte sich die Labour Party in ein Dilemma begeben, von dem die Rechten in den 1970er und 80er Jahren profitierten. Mit einer Rhetorik, die sich gegen den Staat und gegen das Establishment richtete, konnten die Tories die Unzufriedenheit der arbeitenden Klasse mit dem sozialdemokratischen Krisenmanagement politisch mobilisieren.
Der Erfolg des autoritären Populismus Thatchers sei nicht in einem falschen Bewusstsein der Arbeiterschaft begründet. Vielmehr habe der Thatcherismus Antworten auf echte Probleme, echte Begehren und Bedürfnisse der Arbeiterklasse gefunden und die arbeitenden Menschen so nach rechts gezogen.
Thatcher gelang es so mit einer Mischung aus kulturellem Konservatismus und dem Narrativ der Eigenverantwortung Teile der Arbeiterklasse davon zu überzeugen, es gäbe keine Alternative zur Demobilisierung der Gewerkschaften und dem Abbau des Sozialstaats. Höhepunkt dieser Auseinandersetzung waren die Streiks der Minenarbeiter Mitte der 1980er Jahre, deren Niederlage die organisierte Arbeiterschaft nachhaltig schwächte.
Die Phase, die in den 1970er Jahren begann, interpretierte Hall im Jahr 2011 als Teil derselben Konjunktur, die er den langen Marsch der neoliberalen Revolution nannte. Sowohl der 11. September 2001 als auch die Finanz- und Eurokrise seien zwar historische Zäsuren gewesen, aber keine Anfänge einer völlig neuen Konjunktur im Sinne Gramscis.
Stattdessen befänden wir uns in einem Zustand weitgehend unbestrittener neoliberaler Hegemonie. Der breite Konsens besage, dass es keine Alternative zur bestehenden Ordnung gebe – eine These, die der britische Theoretiker Mark Fisher etwa zur gleichen Zeit unter dem Schlagwort des kapitalistischen Realismus populär machte.
Das Killburn Manifesto, an dem Stuart Hall mit Doreen Massey und Michael Rustin bis kurz vor seinem Tod arbeitete und das 2015 erschien, bekräftigte, dass die ökonomische Krise von 2008 die Legitimität des Neoliberalismus trotz kritischer Bewegungen wie Occupy nicht grundlegend untergraben hätte: Die Banken wurden mit öffentlichen Geldern gerettet, die Zeche zahlten die arbeitenden Menschen. Die Linke müsse sich dringend zum Gegenangriff formieren.
»Wir müssen zugeben, dass sich die alten Formen des Wohlfahrtsstaates als unzureichend erwiesen haben. Aber wir müssen hartnäckig die Grundsätze verteidigen, auf denen er beruht – Umverteilung, Gleichheit, kollektive Vorsorge, demokratische Rechenschaftspflicht und Beteiligung, das Recht auf Bildung und Gesundheitsversorgung – und neue Wege finden, wie sie institutionalisiert und zum Ausdruck gebracht werden können.«
Erst nach dem Tod Stuart Halls 2014 bekam die von ihm beschriebene Hegemonie des Neoliberalismus deutliche Risse. Sowohl der weltweite Aufstieg neuer rechter Populismen als auch die Formierung linker Protestbewegungen könnten das Ende des langen Marsches der neoliberalen Revolution. Offen ist, was an ihre Stelle tritt.
Zu Stuart Halls Projekt gehörte es, jedes Denken kritisch danach zu befragen, inwiefern es uns in der gegenwärtigen Situation Relevantes zu sagen hat. Das muss auch für Hall selbst und seine Analysen gelten.
Welche Haltung man zu seinen Ideen im Einzelnen auch einnimmt: Hall fordert uns dazu auf, die eigenen Überzeugungen kritisch zu überdenken und die politische Auseinandersetzung zu suchen. Sein Denken und Schreiben sollten wir als Einladung verstehen, linke und antirassistische Gewissheiten auf den Prüfstand zu stellen – und uns erneut in das Abenteuer einer Politik ohne Garantien zu stürzen.
Pablo Dominguez Andersen ist Kulturhistoriker und lebt in Berlin. Er arbeitet und publiziert zu Politik, Theorie und Popkultur.