09. Oktober 2024
Selbst Mario Draghi und der BDI fordern inzwischen industriepolitische Subventionen. Das eröffnet Chancen für linke Politik. Doch ohne klare sozial-ökologische Bedingungen droht die industriepolitische Wende nur den privaten Unternehmen zu nutzen.
In seinem Strategiebericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU fordert der ehemalige EZB-Chef Mario Draghi Investitionen von historischem Ausmaß, Brüssel, 9. September 2024.
»Wake-up call für Deutschland – industriepolitische Agenda jetzt!« – so kündigte der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) eine kürzlich erschienene Studie an, die sich mit Deindustrialisierungsprozessen am Standort Deutschland befasst. Die durch den BDI beauftragte und durch die Boston Consulting Group (BCG) sowie das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) verfasste Studie kommt zu einer düsteren Prognose: Zwar sei der Wirtschaftsstandort Deutschland noch immer geprägt von »exzellenter Ingenieurskompetenz und verlässlicher Spitzentechnologie«,doch mit Ausbruch des russischen Angriffskrieg auf die Ukraine und dem Wegbruch günstiger Gasimporte aus Russland sei die energiepolitische Basis des deutschen Industriemodells erodiert, was insbesondere energieintensiven Schlüsselindustrien einen schweren Schock zugefügt habe.
Hinzu kämen bereits bestehende strukturelle Defizite wie die lahmende Digitalisierung, marode Infrastrukturen sowie der transformationsbedingte Verlust von Absatzmärkten, in denen deutsche Hersteller bislang einen Technologievorsprung innehaben. Ebenfalls schlage die geopolitische Fragmentierung von potentiellen Absatzmärkten ins Kontor und auch der demographisch bedingte und sich absehbar zuspitzende Fachkräftemangel sei ein Grund dafür, dass die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland unterm Strich abgenommen habe. Ohne ein entschiedenes Gegensteuern, so die Autoren, drohe eine »schleichende Deindustrialisierung«.
Der Industrieverband fordert vor diesem Hintergrund nicht nur für ihn typische Maßnahmen wie die Anhebung des Rentenalters, mehr Digitalisierung und Freihandel sowie Bürokratieabbau, sondern auch eine »proaktive Industriepolitik« und massive öffentliche wie private Investitionen. So wird für Deutschland einen Investitionsbedarf von rund 1,4 Billionen Euro ausgemacht – rund 5 Prozent des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Hiervon sollen mindestens 460 Milliarden Euro (1,6 Prozent des BIP) durch die öffentliche Hand mobilisiert werden, um etwa digitale und physische Infrastrukturen auszubauen und zu modernisieren. Zudem sollen die öffentlichen Investitionen auch dazu dienen, Unternehmen mit massiven Subventionen bei der Transformation zu unterstützen und Nachfrage nach grüner Technologie anzukurbeln. Ermöglicht werden soll dies sogar durch neue Schulden, beispielsweise in Form neuer Sondervermögen.
Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch der ebenfalls kürzlich veröffentlichte Bericht zur Zukunft der europäischen Wettbewerbsfähigkeit von Mario Draghi, dem ehemaligen Präsident der Europäischen Zentralbank (EZB). Die europäische Industriepolitik und die europäische Kommission seien entlang divergierender Interessen der Mitgliedsstaaten fragmentiert, so Draghi. Vor diesem Hintergrund plädiert er für eine gemeinsame und kohärentere europäische Industriepolitik und verweist auf die Notwendigkeit, breit angelegte Investitionen in Infrastrukturen und die Transformation zentraler Sektoren zu tätigen: Jährlich sollen bis zu 800 Millionen Euro mobilisiert werden, wobei hierfür auch gemeinsame Schulden durch die Mitgliedsstaaten aufgenommen werden sollen, was ihm umgehend Kritik aus fiskalpolitisch konservativen Mitgliedsstaaten wie Deutschland und den Niederlanden einbrachte. Kritik kam allerdings auch von anderer Seite, denn während Draghi mehrere Dutzend Industrieverbände für die Erstellung des Berichts konsultierte, sprach er lediglich mit einer Gewerkschaft und acht Nichtregierungsorganisationen aus dem Umweltbereich – ein Ungleichgewicht, das sich auch in der mangelnden Einbeziehung sozialer Aspekte im Bericht niederschlägt.
Es ist bemerkenswert, dass nun Akteure, die sich noch vor nicht allzu langer Zeit gegen Subventionen, Schulden und öffentliche Investitionen aussprachen, für Investitionen unter Aufnahme neuer Schulden plädieren. Denn die EU und Deutschland galten in ihrem Selbstverständnis nach lange als Bastionen des Neoliberalismus, in der ein integrierter Binnenmarkt, ein strenges Beihilferecht, Austeritätspolitik und monetäre Orthodoxie genügten, um wirtschaftliche Entwicklung zu garantieren. Industriepolitische Maßnahmen galten als unlautere Eingriffe in den Markt.
Doch die staatliche Industriepolitik – also Maßnahmen, die auf die Schaffung, Förderung oder Erhaltung spezifischer Sektoren, Industrien, Firmen oder Technologien abzielen – feiert nun ein fulminantes Comeback auf der politischen Bühne. So werden etwa regional- und strukturpolitische Maßnahmen ergriffen, die Standortbedingungen verbessern, Subventionen auskehren oder unternehmerische Risiken decken. Industriepolitische Maßnahmen können darauf abzielen, durch Forschung und Entwicklung Produktionskosten zu reduzieren, Innovationsprozesse zu fördern und Technologien zur Marktreife zu verhelfen sowie regionale Clustereffekte auszulösen. Wichtig ist hierbei, dass es auch gute Industriepolitik für »schlechte« Sektoren wie die fossile Industrie geben kann. Weltweit haben Staaten in den vergangenen Jahren große industriepolitische Subventionsprogramme aufgelegt, um im Bereich grüner Technologien Produktionskapazitäten auszubauen und Technologieführerschaft zu erlangen. Einer Studie des Internationalen Währungsfonds (IWF) zufolge erließen Staaten allein im Jahr 2023 rund 2.500 Gesetzgebungen, die dem Bereich der Industriepolitik zuzuordnen sind.
»Viele Beobachter sehen vor diesem Hintergrund ein post-neoliberales Zeitalter heraufziehen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die neue Industriepolitik weiterhin unter dem Primat unternehmerischer Interessen agiert.«
Dieser industriepolitischen Wende liegen zwei Entwicklungen zugrunde. Erstens stellt die globale Energiewende bekannte geographische Muster ökonomischer Wertschöpfung und Machtverteilung in Frage. Wenngleich Sonne und Wind im Vergleich zu fossilen Rohstoffen grundsätzlich überall verfügbar sind und verglichen mit fossilen Brennstoffen eine dezentralere Energieerzeugung ermöglichen, ergeben sich hinsichtlich der Ansiedlung energieintensiver industrieller Produktion dennoch Standortvorteile für Staaten mit großen Erneuerbaren-Potentialen – und neue energiepolitische Abhängigkeiten für Regionen mit geringeren Erneuerbaren-Potentialen. Ebenso rücken Eigentumsrechte, Technologiekomponenten und kritische Rohstoffe, die für die Herstellung grüner Energie sowie für die Produktion und den Betrieb von E-Autos und Batteriespeicher benötigt werden, in das Zentrum ökonomischer Konkurrenz. Gleiches gilt für Komponenten wie Halbleiter, die in neuen digitalen Technologien zum Einsatz kommen. Die Machtarchitektur der neuen Weltordnung wird weitgehend dadurch bestimmt werden, welche Staaten große Teile der neuen grünen und digitalen Wertschöpfungsketten auf sich vereinen können.
Vor diesem Hintergrund bedienen sich immer mehr Staaten sogenannter geoökonomischer Instrumente, wobei sie wirtschaftliche und geostrategische Ziele miteinander verbinden. Wesentlich ist hierbei, dass wirtschaftspolitische Ziele nun von einem starken Sicherheitsimperativ flankiert werden. Freie und global integrierte Märkte galten für Verfechter der liberalen Weltordnung lange als Garant für Wohlstand und Fortschritt, weil sie Arbeits- und Konsummärkte auf vermeintlich effizienteste und dynamischste Art und Weise organisierten und damit die globalen Produktionskosten stetig zu senken vermochten. Doch heute stehen die Abhängigkeiten global integrierter Märkte und Lieferketten nicht mehr nur für Effizienz, sondern auch für Verwundbarkeiten, die sie anfällig für Unterbrechungen und Störungen machen und sich im Falle zunehmender aktueller geopolitischer Konflikte als »Waffe« nutzen lassen.
Viele Beobachterinnen und Beobachter sehen vor diesem Hintergrund ein post-neoliberales Zeitalter heraufziehen. Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass die neue Industriepolitik weiterhin unter dem Primat unternehmerischer Interessen agiert – und privates Kapital die Oberhand in der grünen Transformation beibehält. So verfolgen die EU und ihre Mitgliedsstaaten bisweilen eine als »De-Risking« bekannte Strategie. Diese zielt darauf ab, den Investitionsbedarf für die grüne Transformation durch private Investitionen zu decken. Mittels öffentlicher Subventionen, Garantien und Mechanismen zur Risikoteilung werden private Investitionen angeregt und in bestimmte Bereiche gelenkt. Durch die Streuung des Risikos soll es privaten Akteuren ermöglicht werden, in besonders risikoreiche Vorhaben zu investieren.
»Schließlich läuft De-Risking darauf hinaus, dass die öffentliche Hand Projektrisiken absorbiert, während sie nicht an den Gewinnen erfolgreicher Projekte partizipiert.«
Zum einen ist dieser Ansatz insbesondere bei grünen Technologien relevant, die gegenüber konventionellen fossilen Technologien aufgrund von Kostenunterschieden noch nicht am Markt bestehen können, oder aber Technologien, die noch keine Marktreife erlangt haben. Zum anderen soll dieser Ansatz es der EU ermöglichen, die Mobilisierung der eigenen Finanzmittel zu reduzieren – denn diese sind schlichtweg nicht vorhanden. So hatte Ursula von der Leyen bereits in der vergangenen Legislaturperiode einen EU Souveräntitätsfonds zur Unterstützung grüner Industrien angekündigt, diesen jedoch klammheimlich wieder einkassiert. Anstelle dessen trat in der vergangenen Legislaturperiode die »Plattform für strategische Technologien für Europa« (STEP), die bestehende Fonds für die Produktion von strategisch relevanten Technologien öffnen, aber keine neuen Mittel zur Verfügung stellen soll. Mittel, die ursprünglich für Investitionen in Infrastrukturen (etwa im Rahmen des Fonds für einen gerechten Strukturwandel) oder Forschung (etwa im Rahmen des Innovationsfonds) vorgesehen waren, stehen nun auch privaten Akteuren zur Verfügung – und werden damit praktisch privatisiert.
Und auch im Rahmen des für die neue Legislatur angekündigten »Clean Industrial Deal« ist die Finanzierung europäischer Industriepolitik weiterhin die Gretchenfrage schlechthin: Offen ist, ob im Rahmen des nächsten mehrjährigen Finanzrahmens (MFR) der EU, der 2027 verabschiedet wird, tatsächlich ein Fonds zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit (»Competitiveness Fund«) geschaffen werden soll – und ob mittels dieses Fonds endlich massive öffentliche Investitionen getätigt werden oder die EU ihren Fokus auf De-Risking fortsetzt. Bei De-Risking handelt es sich mitnichten um eine Win-Win-Situation, von der die öffentliche Hand und private Investoren gleichermaßen profitieren. Schließlich läuft diese Strategie darauf hinaus, dass die öffentliche Hand Projektrisiken absorbiert, während sie nicht (direkt) an den Gewinnen erfolgreicher Projekte partizipiert. Überdies obliegen zentrale Entscheidungen über Investitionen den privaten Akteuren, während die risikotragende öffentliche Hand nur eine bedingte Steuerungsfähigkeit aufweist. Die Linke muss daher auf eine Industriepolitik pochen, die das Öffentliche in den Mittelpunkt der Transformation stellt und industriepolitische Subventionen in den Dienst gesamtgesellschaftlicher Ziele stellt.
Wie die Ökonomin Marianna Mazzucato und der Ökonom Dani Rodrik konstatieren, ist dafür wesentlich, dass etwaige Subventionen an Konditionen geknüpft werden. So kann sichergestellt werden, dass die Mittelzuwendungen einen positiven gesellschaftlichen Effekt über das subventionierte Unternehmen hinaus haben. Diese Bedingungen können neben unmittelbar industriepolitischen Zielen auch gewerkschafts- und lohnpolitische, ökologische oder sorgepolitische Zielstellungen verfolgen und sollten dabei nicht zufällig gewählt, sondern an demokratisch vereinbarten Zielstellungen (wie beispielsweise der Klimaneutralität) orientiert sein. Mit anderen Worten: Industriepolitische Konditionen können dazu beitragen, die Wirtschaft zu demokratisieren.
Zum Beispiel kann die Subventionierung von Unternehmen an die Bedingung tarifgebundener Arbeitsplätze und betrieblicher Mitbestimmung geknüpft sein. Denkbar wäre auch, Unternehmen oberhalb einer bestimmten Schwelle im Falle einer Standortförderung dazu zu verpflichten, einen Plan für die Errichtung von Kindertagesstätten für ihre Belegschaft vorzulegen und umzusetzen. Ebenfalls erstrebenswert ist es, mit Unternehmen durch staatliche Förderung dazu zu veranlassen, einen bestimmten Anteil ihrer Gewinne in Forschung und Entwicklung investieren zu müssen, um so sicherzustellen, dass sich aus diesen Gewinnen neue volkswirtschaftliche Wertschöpfung entwickelt und die Unternehmen eine nachhaltige Unternehmensentwicklung über die Ausschüttung kurzfristiger Dividenden stellen. Schließlich sollte dafür Sorge getragen werden, dass die Dividenden aus staatlich subventionierter Forschung nicht abfließen: Kann eine mit staatlichen Mitteln geförderte Technologie bis zur Marktreife entwickelt werden, so sollten Unternehmen die erhaltenen Subventionen mittels einer Lizenzgebühr beim Verkauf der in Rede stehenden Technologien zurückzahlen, wobei sich die Lizenzgebühr bei einer Produktionsverlagerung in das Ausland nochmals erhöhen sollte.
»Die geforderten Subventionen sind ohne sozial-ökologische Konditionen bloß eines: Privatisierung und Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums.«
Gleiches gilt für Situationen, in denen der Bund Anteile an Unternehmen erwirbt. Allzu oft trat der Bund hierbei als stiller Anteilseigner auf, dessen einziger Einsatz die Überlebenssicherung volkswirtschaftlich oder resilienzpolitisch relevanter Unternehmen war. Als negatives Beispiel kann dabei der Fall Lufthansa dienen: Im Zuge der Covid-Krise beteiligte sich der Bund im Jahr 2020 mit rund 20 Prozent an dem Unternehmen und kehrte zusätzlich rund 800 Millionen Euro an Staatshilfen aus – monatlich. Dennoch verpasste es die damalige CDU-Regierung, Einfluss auf Lufthansa zu nehmen, etwa indem man das Unternehmen nicht dazu verpflichtete, Entlassungen auszuschließen oder ambitioniertere Einsatzquoten von nachhaltigen Flugkraftstoffen zu erreichen, um so deren Markthochlauf zu unterstützen.
Als Positivbeispiel für industriepolitische Konditionen lässt sich hingegen auf den US Chips Act verweisen, der neben dem Inflation Reduction Act (IRA) als zweite große industriepolitische Gesetzgebung unter der Biden-Administration eingeführt wurde. Denn der US Chips Act, der mittels Zuschüssen und Darlehen auf die Ansiedlung und den Ausbau der US-amerikanischen Halbleiterproduktion abzielt, enthält klare Vorgaben: So müssen Unternehmen, um förderfähig zu sein, Aktienrückkäufe ausschließen. Sollten Unternehmen, die eine Förderung von über 150 Millionen US-Dollar erhalten, sogenannte Zufallsgewinne generieren, erhält die US-Regierung eine Gewinnbeteiligung. Ebenfalls werden insbesondere solche Projekte gefördert, die positive Nebeneffekte auf vor- oder nachgelagerte Sektoren haben. Der US Chips Act enthält darüber hinaus auch strenge Vorgaben zu einer künftigen Sorgfaltspflichtsprüfung, die mitunter ökologische Aspekte berücksichtigt. Schließlich können die geförderten Unternehmen nur begrenzt Investitionen in Drittstaaten tätigen. Zusammengenommen wirkt sich der US Chips Act, wie es die Ökonomin Daniela Gabor beschreibt, disziplinierend auf die geförderten Unternehmen aus und stellt das private Kapital in den Dienst übergeordneter industrie- und sicherheitspolitischer Zielstellungen.
Verknüpft man staatliche Beihilfen mit sozial-ökologischen Konditionen, so setzt dies gut funktionierende staatliche Institutionen voraus. Denn diese müssen zunächst dazu in der Lage sein, entsprechende Konditionen zu entwickeln, wofür es ein hohes Maß an Wissen über die jeweiligen Unternehmen, Sektoren und Technologien bedarf. Staatliche Akteure müssen in die relevanten Akteursfelder eingebettet sein. Darüber hinaus bedarf es auch adäquater Fähigkeiten und Kapazitäten, um die Umsetzung der Konditionen zu überwachen und im Falle einer Vertragsverletzung entsprechende Strafen um- und durchzusetzen. Schließlich können auch staatliche Lernprozesse über die implementierten Maßnahmen nur dann einsetzen, wenn ein engmaschiges Monitoring der Umsetzung erfolgt.
»Die Privatisierung öffentlicher Aufgaben führten in den vergangenen Jahrzehnten vielfach zu einem Abbau staatlicher Fähigkeiten. So kommt es, dass viele Staaten inzwischen auf private Dienstleister wie Beratungsunternehmen angewiesen sind.«
Doch die Realität in vielen Staaten sieht anders aus. Austeritätspolitik und die Privatisierung öffentlicher Aufgaben führten in den vergangenen Jahrzehnten vielfach zu einem Abbau staatlicher Fähigkeiten und Kapazitäten. So kommt es, dass viele Staaten inzwischen auf private Dienstleister wie Beratungsunternehmen angewiesen sind und entsprechende Aufgaben auslagern. Unterschiedliche staatliche Fähigkeiten und Kapazitäten führen auch zwischen EU-Mitgliedsstaaten zu einem unterschiedlichen Umgang mit Vorgaben der EU. Ein Beispiel hierfür ist der Umgang Frankreichs und Deutschlands mit der Einführung der »wichtigen Vorhaben von gemeinsamem europäischem Interesse« (Important Projects of Common European Interest, IPCEI). Während Frankreich innerhalb des französischen Wirtschaftsministeriums eine Abteilung schuf, die sich ausschließlich der Betreuung der IPCEIs widmen sollte, beauftragte das damalige Bundesministerium für Wirtschaft und Klimaschutz ein privates Beratungsunternehmen, da man diesem eher zutraute, mit den spezifischen Anforderungen der EU-Kommission umzugehen.
Was bleibt, ist ein Teufelskreis: Je weniger Fähigkeiten und Kapazitäten vorhanden sind, umso eher wird auf externe Akteure zurückgegriffen – und je öfter dies geschieht, umso weniger Fähigkeiten und Wissen ist innerhalb staatlicher Institutionen vorhanden. Der Rückgriff auf private Beratungsunternehmen kann darüber hinaus angesichts geoökonomischer Spannungen auch zu einem Sicherheitsrisiko werden, denn entsprechende Unternehmen arbeiten oftmals zeitgleich für verschiedene Regierungen, weshalb eine gewisse Durchlässigkeit von Informationen innerhalb global agierender Consulting-Unternehmen zumindest denkbar ist.
Wenn selbst Akteure wie Ex-EZB-Präsident Mario Draghi oder der – alles andere als linke – BDI einen aktiveren Staat fordern, eröffnet dies Spielräume für progressive Wirtschafts- und Industriepolitik. Zugleich sollte man sich jedoch davor hüten, in einen zu großen Optimismus zu verfallen. Denn die geforderten Subventionen sind ohne damit einhergehende sozial-ökologische Konditionen bloß eines: Privatisierung und Umverteilung gesellschaftlichen Reichtums. Ziel einer progressiven Industriepolitik muss es sein, mittels Subventionen auch übergeordnete gesellschaftliche Zielstellungen zu erreichen und privates Kapital zu disziplinieren. Hierfür braucht es funktionierende staatliche Institutionen und ein Ende der Schuldenbremse.
»Mitbestimmung und materielle Teilhabe auf regionaler Ebene können darüber hinaus die gesellschaftliche Akzeptanz für Transformationsprojekte und die Energiewende stärken.«
Darüber hinaus muss es darum gehen, die öffentliche Steuerungsfähigkeit und Kontrolle über die Transformation auszubauen. Denkbar ist dies beispielsweise über eine öffentliche Industriestiftung, die Anteile an Schlüsselunternehmen oder Infrastrukturen der Transformation erwirbt – oder diese Anteile an einem Unternehmen im Gegenzug zu öffentlichen Subventionen erhält. Die Industriestiftung könnte dabei über die Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) finanziert werden, wobei diese den Vorteil hat, dass sie als nationale Entwicklungsbank außerhalb der Beihilferechtsregeln des Lissabonner und Maastrichter Vertrags steht und staatliche Zuwendungen an diese, insofern ihr Handeln dem öffentlichen Interesse dient, nicht als genehmigungspflichtige staatliche Beihilfen gelten. Öffentliche Kontrolle kann dabei vor marktgetriebenen Preisschwankungen (etwa im Energiesektor) schützen und dazu beitragen, die Resilienz des Standorts zu stärken.
Ein ebenso wichtiges Instrument progressiver Industriepolitik ist die öffentliche Beschaffung von Gütern, die stärker an sozialen und ökologischen Kriterien ausgerichtet werden muss und über die beispielsweise grüne Leitmärkte geschaffen werden können. Die Bundesregierung sollte etwa die Verwendung eines Mindestmaßes an klimaneutralen Baustoffen beim Bau öffentlicher Gebäude und Infrastrukturen vorgeben, um so Leitmärkte für grünen Stahl, emissionsarmen Zement sowie alternative Baustoffe zu schaffen und die Emissionen des Gebäudesektors zu reduzieren – auch wenn diese teurer sind als ihre konventionellen Varianten.
Gleiches gilt auch für die Ausgestaltung von Auktionen zur Förderung erneuerbarer Energien. Hier sollten nicht nur preisgetriebene Kriterien, sondern auch soziale und resilienzpolitische Aspekte berücksichtigt werden. Einen ersten Schritt in die richtige Richtung unternimmt bereits das EU Netto-Null-Industriegesetz, das auf europäischer Ebene Vorgaben für die öffentliche Beschaffung grüner Technologien formuliert. So müssen Behörden neben preislichen Aspekten fortan auch Resilienz- und Umweltkriterien berücksichtigen, wobei Auftragnehmer beispielsweise über gesetzliche Mindeststandards hinausgehende Umweltstandards, ein hohes Innovationspotenzial, einen Beitrag zur Energieintegration oder ein hohes Maß an europäischer Wertschöpfung vorweisen müssen. Zugleich verpasst das Gesetz jedoch, soziale Aspekte zu integrieren. Die Bundesregierung, die im Koalitionsvertrag die Reform des deutschen Vergaberechts im Rahmen eines Vergabetransformationspakets angekündigt hat, muss hier dringend nachbessern. Ziel muss sein, dass bei der öffentlichen Vergabe von Aufträgen jene Auftragnehmer den Zuschlag bekommen, die tarifgebundene Arbeitsplätze und betriebliche Mitbestimmung vorweisen können.
Zentral ist schließlich auch, eine Industriepolitik von unten zu kultivieren, das heißt zivilgesellschaftliche und gewerkschaftliche Akteure verstärkt in industriepolitische Governance-Prozesse über verschiedene Ebenen hinweg einzubeziehen. Eine starke betriebliche Mitbestimmung beispielsweise kann in der Belegschaft vorhandenes Wissen für die Transformation eines Unternehmens mobilisieren, und Innovationsprozesse stärken und Belegschaften gegen rechte Agitation wappnen. Mitbestimmung und materielle Teilhabe auf regionaler Ebene, etwa in Form von regionalen Transformationsräten in besonders transformationsbetroffenen Regionen oder kommunaler Beteiligung an Erneuerbaren, können darüber hinaus die gesellschaftliche Akzeptanz für Transformationsprojekte und die Energiewende stärken. Schließlich ist Mitbestimmung auch auf höheren Ebenen möglich. So sollten Gewerkschaften und Umweltverbände zum Beispiel bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW), der bundeseigenen Entwicklungsbank, auf Projektebene ein Mitspracherecht genießen und Einfluss auf die Ausgestaltung von transformationsrelevanten Programmen nehmen können.
Die Klaviatur einer progressiven Industriepolitik ist vielfältig und ließe sich an anderer Stelle noch weiter fortsetzen. Fest steht aber, dass die politische Linke Industriepolitik ins Zentrum ihrer Politik stellen muss. Das haben nicht zuletzt auch die Europawahl sowie die Landtagswahlen in Brandenburg, Thüringen und Sachsen gezeigt: Denn die AfD erhält überall dort einen überdurchschnittlichen Zugewinn an Wählerstimmen, wo der (emissionsintensive) industrielle Sektor ein hohen Anteil an der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung ausmacht. Dekarbonisierungsprozesse und globale Standortkonkurrenz setzen diese Regionen zunehmend unter Druck und befeuern die Angst vor Deindustrialisierung, Wohlstands- und Statusverlust. Die politische Linke muss dem mit einer alternativen Transformationserzählung begegnen und Sicherheit im Strukturwandel vermitteln.
Hierfür genügt der wiederkehrende Verweis auf die Umverteilung von gesellschaftlichem Reichtum jedoch nicht. Dieser bleibt angesichts der sozialen Ungleichheit im Land zwar eine wichtige Kernforderung linker Politik, doch braucht es darüber hinaus auch eine programmatische Perspektive auf die Entwicklung nachhaltigen Wachstums sowie einer sozial und ökologisch gerechten Transformation der Wirtschaft. Hierin liegt auch ein zentrales Distinktionsmerkmal gegenüber dem Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW), das in strukturkonservativer Manier die Kontinuität fossilen Wirtschaftens verspricht. Diese Form der regressiven Politik mag zwar kurzfristig erfolgreich sein, weil sie auf einer affektpolitischen Ebene Fragen von Anerkennung und Mündigkeit adressiert. Doch sie ist mittel- und langfristig unehrlich: Die globale Dekarbonisierung und Digitalisierung der Industrie und die damit einhergehende Reorganisation von Wertschöpfungsketten sind Realitäten, die nicht mehr aufzuhalten sind. Die Aufgabe der Linken ist es, diese Prozesse aktiv zu gestalten – sozial und ökologisch gerecht.
Frederick Coulomb ist Policy Advisor mit Schwerpunkt Energie- und Industriepolitik. In der vergangenen Legislaturperiode arbeitete er für die energie- und industriepolitische Sprecherin der LINKEN im Europäischen Parlament. Aktuell ist er im Bereich internationale Energiepolitik für eine NGO tätig.