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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

16. Oktober 2025

»Wir können unabhängig von unseren Regierungen handeln«

Judith Scheytt war Teil der Global Sumud Flotilla. Im Gespräch erklärt sie ihre Beweggründe, berichtet von den Bedingungen in israelischer Haft und teilt ihre Perspektive auf die Verfehlungen der Bundesregierung und der deutschen Medien.

Judith Scheytt zusammen mit anderen Aktivsten auf einem Boot der Global Sumud Flotilla.

Judith Scheytt zusammen mit anderen Aktivsten auf einem Boot der Global Sumud Flotilla.

Foto: privat

Judith Scheytt war mit achtzehn Jahren die jüngste Aktivistin an Bord der Global Sumud Flotilla. Sie wurde von israelischen Soldaten in ein Hochsicherheitsgefängnis verschleppt und mehrere Tage festgehalten, bis sie zusammen mit anderen Beteiligten abgeschoben wurde. Nun wieder in Deutschland, sprach sie für Jacobin in ihrem ersten Interview nach dieser Erfahrung mit Hanno Hauenstein über die Einschüchterung in israelischer Gefangenschaft, die deutsche Doppelmoral und warum sie trotz allem sagt: »Die Aktion war erfolgreich.«

Was hat Dich dazu bewegt, an Bord der Global Sumud Flotilla zu gehen?

Nach zwei Jahren Völkermord in Gaza hatte ich einfach das Gefühl, dass mehr passieren muss. Menschen haben demonstriert, Dinge gepostet, Petitionen geschrieben – klassische Formen demokratischer Einflussnahme. Irgendwie war mir immer klar: Gegenüber einer genozidalen Ideologie kommt man damit nicht weit. Da reicht es nicht einfach, »seine Meinung zu sagen«. Es war auch klar, dass man sich auf die deutsche Regierung nicht verlassen kann. Zu versuchen, die von Israel erzwungene Hungersnot in Gaza zu durchbrechen, war gewissermaßen das Direkteste, was man tun konnte.

»An den Wänden hingen Fernseher, auf denen ununterbrochen Bilder vom 7. Oktober liefen, mit dramatischer Musik und auf voller Lautstärke. Solche Dinge zermürben einen im Grunde mehr als Schläge.«

Du warst die jüngste unter Hunderten Beteiligten – und eine der wenigen Deutschen. Welche Rolle hat das in deinen Augen gespielt?

Dass ich so jung bin hat, glaube ich, viele irritiert. Viele der typischen Angriffe, die pro-israelische Lobbygruppen verbreiten, greifen bei mir einfach nicht. Die Leute denken: »Okay, eine achtzehnjährige Abiturientin – und die soll eine Terroristin sein?« Natürlich spielt mein Privileg dabei eine Rolle: Ich bin weiß, ich habe einen deutschen Pass. Wenn ich Palästinenserin wäre, sähe das alles sehr anders aus.

Du bist nicht nur Aktivistin, sondern auch eine pointierte medienkritische Stimme. Wie hast Du selbst die deutsche Berichterstattung über die Flotilla wahrgenommen?

Am Anfang gab es ja nicht so viel, worauf man medienkritisch hätte schauen können, weil so gut wie gar nicht berichtet wurde. In internationalen Medien war das anders. Jetzt, im Nachhinein, kommen plötzlich Anfragen größerer deutscher Medienhäuser. Das ist interessant zu beobachten. Als noch offen war, ob sich das israelische Narrativ der »Hamas-Flotilla« durchsetzt, war das Interesse ziemlich klein. Jetzt, wo klar ist, dass die israelische Propaganda nicht verfangen hat, ist das Interesse plötzlich groß.

Hast Du etwas anderes erwartet?

Es ist eigentlich ein klassischer Fall: Deutsche Medien haben ihre Aufgabe, Macht kritisch zu hinterfragen, wieder einmal nicht erfüllt. Sie hätten prüfen müssen, ob die Bundesregierung ihren Verpflichtungen nachkommt. Nämlich alles zu tun, damit deutsche Staatsbürgerinnen nicht vom israelischen Militär entführt werden. Sie haben diese Kontrollfunktion einfach komplett verfehlt. Deutsche Medien haben nicht gefragt: »Wieso lässt die deutsche Regierung zu, dass Israel deutsche Staatsbürger in internationale Gewässer entführt?« Oder: »Wieso unterstützt die Bundesregierung eine illegale Blockade?« Sie haben einfach abgewartet, bis sich die Story verkaufen lässt.

Hat es Dich überrascht, dass Israels Narrativ der »Hamas-Flotilla« nicht verfangen hat?

Am Anfang hat uns das ehrlich gesagt ziemlich Sorgen gemacht. Dass Israel dieses Narrativ aufgestellt hat, war ein Warnsignal, mögliche Gewalt bereits im Vorfeld zu legitimieren. Wir wussten nicht, ob sie uns erneut angreifen würden oder ob das nur eine Strategie war, um sich für den Fall einer Eskalation abzusichern. Je näher wir Gaza kamen, desto klarer wurde mir aber, dass dieses Narrativ nicht aufgehen wird.

Warum?

Wir waren einfach so viele Menschen aus unterschiedlichsten Ländern, mit verschiedensten Identitäten und Geschichten. Wenn ich auf Social Media unseren Alltag auf dem Boot zeigte – mich als Abiturientin, eine 66-jährige Krankenschwester aus Irland und Carsie Blanton, eine Musikerin aus den USA – konnten alle sofort sehen: Das sind ganz normale Menschen. Das Bild, das Israel vermitteln wollte, war schlicht nicht haltbar.

Wie die anderen Beteiligten warst auch Du mehrere Tage in Ketziot eingesperrt – einem israelischen Hochsicherheitsgefängnis, in dem sonst palästinensische Gefangene untergebracht sind. Was hast Du da erlebt?

Einschüchterung, gezielte Demütigung, im Grunde psychologische Kriegsführung. Zum Beispiel wurde vor unseren Zellen ein großes Foto aufgehängt: ein zerstörtes Viertel in Gaza, überall Trümmer. Darüber stand: »The New Gaza«. An den Wänden hingen Fernseher, auf denen ununterbrochen Bilder vom 7. Oktober liefen, mit dramatischer Musik und auf voller Lautstärke. Solche Dinge zermürben einen im Grunde mehr als Schläge.

»Sie sagten Dinge wie: ›Du wirst deine Eltern sehr lange nicht wiedersehen‹ oder ›Du kommst für viele Jahre ins Gefängnis.‹ Ich fand diese Taktiken irgendwann ziemlich durchschaubar.«

Aber gab es auch physische Gewalt?

Ja, aber für mich war die psychologische Gewalt viel prägender: Wir wurden in kleine Käfige gesperrt, gefesselt, uns wurden die Augen verbunden, wir wurden über Stunden allein gelassen. Sie haben uns auch mit »long-term imprisonment« gedroht. Mir war klar: Sie können uns nicht ewig festhalten. Gleichzeitig wurde mir bewusst, wie es für Palästinenser sein muss, die dieses Privileg nicht haben. Viele von ihnen verschwinden einfach in israelischen Gefängnissen. Sie können dort zu Tode gefoltert werden – und niemand erfährt davon.

Hattet Ihr vor Ort Kontakt zu palästinensischen Gefangenen?

Wir haben niemand anderes gesehen. Aber wir waren in Zellen, in denen zuvor palästinensische Gefangene waren. In meiner Zelle hatte jemand eine Notiz an die Wand geschrieben – seinen Namen und das Dorf, aus dem er kam. Und dass er und die anderen Gefangenen verlegt werden sollten, ohne zu wissen, wohin. Wahrscheinlich sollte für uns Platz gemacht werden. Wir wissen bis heute nicht, was mit diesen Menschen passiert ist.

Wurdest Du anders behandelt als andere Gefangene der Flotilla?

Auf jeden Fall. Frauen mit Hijab zum Beispiel wurde ihr Kopftuch weggenommen, oder sie mussten darum kämpfen, es tragen zu dürfen – typisch rassistische Ungleichbehandlung. Generell gingen Wärter sehr unterschiedlich mit uns um. Oft gingen sie gezielt auf unsere Identitäten ein – Alter, Herkunft, Aussehen. Bei mir kam ständig die Frage: »Was sagen deine Eltern dazu?« Versuche, mich zu verunsichern.

Wurdest Du auch verhört?

Ja. Zu Hamas, zur Frage, wer uns beauftragt hat, woher das Geld für die Flotilla kam. Sie sagten Dinge wie: »Du wirst deine Eltern sehr lange nicht wiedersehen« oder »Du kommst für viele Jahre ins Gefängnis.« Ich fand diese Taktiken irgendwann ziemlich durchschaubar.

Wie lange warst Du insgesamt in dem Gefängnis?

Wir wurden am 6. Oktober freigelassen. Die Interception war in der Nacht vom 1. auf den 2. Oktober. Ich kam erst am 3. Oktober ins Gefängnis, weil sie mich – warum auch immer – in der ersten Nacht gefesselt in einem Gefangenenbus festgehalten haben.

Wie lief die Interception ab?

Es ist per se eine gewaltsame Aktion: Ein Boot wird mit militärischen Mitteln gestoppt. Konkret hatte Israel mehrere Schiffe im Einsatz: zwei große Militärschiffe, kleinere Boote und sogenannte RIBs, große Schlauchboote. Das Ganze zog sich über Stunden hin. Sie fuhren im Kreis um uns herum, mit Wasserwerfern – manche Boote wurden mehrere Minuten damit beschossen. Mehrmals fuhren sie mit ihren Booten so dicht an uns vorbei, dass sie unser Boot fast rammten. Dann kam schließlich eins der Schnellboote direkt an uns heran. Über Lautsprecher forderten sie uns auf, den Motor abzustellen, was wir nicht taten. Schließlich kletterten fünf Soldaten an Bord, übernahmen die Kontrolle und blieben dort, bis wir in Ashdod ankamen.

»Ein Staat, der jahrelang eine Blockade und den Völkermord eines anderen Staates mitunterstützt, dafür vor Gericht steht und trotzdem weitermacht, wird nicht plötzlich sagen: ›Ach so, die wollen die illegale Blockade durchbrechen, da helfen wir natürlich.‹«

Während der Reise auf der Flottila habt Ihr Deutschland aufgefordert, Euch zu beschützen und dafür zu sorgen, dass Ihr die Blockade durchbrechen könnt. Deutschland hat das nicht getan. Wie bewertest Du das?

Überrascht hat es mich nicht. Ein Staat, der jahrelang eine Blockade und den Völkermord eines anderen Staates mitunterstützt, dafür vor Gericht steht und trotzdem weitermacht, wird nicht plötzlich sagen: »Ach so, die wollen die illegale Blockade durchbrechen, da helfen wir natürlich.« Entlarvend fand ich eher das öffentliche Narrativ. Zu behaupten, wir fahren »auf eigene Gefahr« – und man könne nichts machen, wenn Israels Armee uns angreift – das ist absurd. Es enttarnt, wie bedingungslos die deutsche Loyalität gegenüber Israel ist. Unsere bloße Präsenz stellte das deutsche Narrativ infrage.

Wie schon bei der Madleen heißt es auch bei der Sumud Flottila oft, bei der Aktion handle es sich um reine Symbolpolitik – denn die Hilfsgüter würden Gaza sowieso nie erreichen.

Dass klar war, dass wir nicht ankommen würden, stimmt eigentlich gar nicht. Israel hatte große logistische Probleme mit den vielen Booten. Das letzte Schiff war nur knapp 18 Seemeilen vor Gaza. Und auch wenn unsere Hilfsgüter nicht ankamen: die Aktion war erfolgreich. Fischer in Gaza konnten das erste Mal seit Langem wieder aufs Meer. Das war ja ein direkter Effekt. Ich fand das sehr schön zu sehen: Unsere Hilfe kam zwar nicht an, aber Palästinenser konnten endlich wieder selbst Ressourcen nutzen, auf ihrem eigenen Land, auf ihrem Meer.

Und was entgegnest Du der Symbolpolitik-Kritik?

Natürlich war klar, dass wir gegen eine übermächtige Struktur anfahren. Wenn Menschen sagen: »Ihr kommt aber doch eh nicht an«, sage ich: »Ihr hättet uns ja helfen können, Druck aufzubauen.« Überhaupt: Auch symbolische Aktionen haben Macht. Sie können Staaten und Behörden bloßstellen, Narrative entlarven. Aber die Flotilla war mehr als das. Sie war auch praktisch und konkret. Es war die direkteste Form des Handelns: einfach losfahren und versuchen, durchzukommen.

Gibt es Überlegungen, aus der Flottila eine dauerhafte Bewegung gegen Apartheid und Genozid zu entwickeln?

Flotillas gibt es ja schon seit Beginn der Blockade und es wird sie auch so lange geben, bis sie endet. Durch die Sumud Flotilla haben sich unglaublich viele Menschen kennengelernt und vernetzt. Viele haben verstanden, wie wichtig kollektive Organisation ist. Der Generalstreik in Italien – dass Arbeiterinnen und Arbeiter den italienischen Staat zum Handeln gezwungen haben – hat gezeigt, was es praktisch bedeutet, wenn sich alle zusammentun. Ich bin sicher, dass daraus etwas entstehen wird. Diese Netzwerke werden wachsen.

»Spätestens wenn man in israelischer Haft war, kann man dieses ›Both-sides‹- und ›Peace-for-all‹-Gerede nicht mehr ernst nehmen.«

Was, glaubst Du, hat die Flotilla erreicht? Was war für Dich das Wichtigste?

Viele Leute haben gemerkt: Wir können unabhängig von unseren Regierungen handeln. Natürlich haben wir an unsere Staaten appelliert, dass sie uns schützen. Aber als das nicht passierte, sind wir trotzdem weiter gefahren. Das war ein krasses Gefühl – dass ein paar random Leute auf Segelbooten für eine ganze Reihe von Staaten zu einem massiven Problem werden und die Machtverhältnisse für einen Moment einfach umdrehen können. Ich lese das als Ergebnis der letzten zwei Jahre. Viele Menschen haben angefangen, Autoritäten, Staaten und Abgeordneten ganz grundlegend zu misstrauen. Das Bewusstsein, das daraus erwächst, ist: Dann müssen wir eben selbst handeln. Für mich war das die wichtigste Erkenntnis der ganzen Aktion.

Kurz nach Deiner Rückkehr nach Deutschland wurde in Gaza ein Waffenstillstand in Gaza beschlossen. Wie blickst Du darauf?

Natürlich bin ich erleichtert, wenn nicht mehr täglich Bomben fallen. Aber dass dieser »Friedensplan« ein Produkt kolonialer Interessen ist, liegt auf der Hand. Niemand in Washington oder Tel Aviv hat auf einmal beschlossen, den Völkermord zu beenden. Dazu kommt: Die Besatzung und das Apartheidsystem werden bleiben. Spätestens wenn man in israelischer Haft war, kann man dieses »Both-sides«- und »Peace-for-all«-Gerede nicht mehr ernst nehmen. Es geht nicht nur um Bomben, es geht um ein ganzes System der Unterdrückung und Segregation: Apartheid, militärische Besatzung, Gefängnisse. Der jahrzehntelange Widerstand des palästinensischen Volkes macht das sehr deutlich.

Judith Scheytt ist Medienkritikerin und Aktivistin. Sie veröffentlicht auf Instagram regelmäßig Einordnungen und Analysen.