06. September 2024
Die Rivalität zwischen den Großmächten China und USA könnte zu einer neuen bipolaren Blockbildung führen. Die China-Expertin Susanne Weigelin-Schwiedrzik argumentiert: Das kann nur verhindert werden, wenn die EU Beziehungen in beide Richtungen unterhält.
Xi Jinping und Ursula von der Leyen sprechen mit dem Präsidenten des Europäischen Rates Charles Michel bei einem Treffen in Peking, 7. Dezember 2023.
Die internationale Staatenordnung ist im Umbruch. Sowohl der Krieg in der Ukraine, als auch die zunehmende Systemrivalität zwischen den USA und China rufen derzeit große Unsicherheiten in den internationalen Beziehungen hervor. Die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik argumentiert in ihrem Buch China und die Neuordnung der Welt, dass Europa im geopolitischen Kräftemessen zwischen China, USA und Russland der versteckte Akteur ist, der zu einer Entspannung beitragen kann.
Im Interview erklärt sie, warum Russland kein Interesse an einer direkten Konfrontation mit der NATO hat und wie die Taiwan-Frage entschärft werden kann. Schwiedrzik argumentiert für eine Politik der »Balance of Power«, die China, Russland und die USA in ihrer Möglichkeit einschränkt, Krieg zu führen. Eine relativ friedliche, multipolare Weltordnung wird es in Zukunft Weigelin-Schwiedrzik zufolge nur geben, wenn sich ein relatives Machtgleichgewicht zwischen diesen Staaten einstellt.
Die Welt befindet sich in einer neuen Unordnung. Sie argumentieren in Ihrem Buch das man vor allem auf die Ukraine und Taiwan blicken muss, um die aktuellen Dynamiken zu verstehen. Warum?
Die Unordnung resultiert im Wesentlichen aus einer Rivalität zwischen den USA, Russland und China, wobei sie im Augenblick eine neue Stufe erreicht. Bei diesen drei Ländern handelt es sich um die größten Nuklearmächte, die bisher eine direkte Konfrontation miteinander vermeiden, um keinen verheerenden Atomkrieg zu riskieren. Deshalb suchen sie sich Territorien, auf denen sie sich in ihrem jeweiligen Potenzial messen können. Sie testen aus, inwieweit sie die Situation beherrschen oder nicht. Im Falle des Krieges zwischen Russland und der Ukraine handelt es sich dabei um einen solchen indirekten Krieg, insofern ja die USA nicht direkt beteiligt sind.
In der deutschen Öffentlichkeit herrscht die Ansicht vor, dass man die Ukraine viel energischer mit Waffenlieferungen unterstützen muss, damit sie den Krieg nicht verliert. Politikerinnen und Journalisten warnen vor dem Expansionsdrang Russlands, sollte Europa »Schwäche zeigen«. Könnte Putin bald in weiteren Ländern einmarschieren?
Diese Argumentation ist erstmal logisch, wenn man – was man ja im Bereich der Internationalen Beziehungen häufig ist – auf historische Präzedenzfälle zurückgreift. Man kann etwa auf die Situation Deutschlands in Europa vor dem Zweiten Weltkrieg verweisen und dann sagen: »Wehret den Anfängen.«
Doch es spricht auch viel gegen diese Einschätzung. Die Möglichkeiten Russlands, einen Krieg über die Ukraine hinaus führen zu können, sind sehr begrenzt. An der russischen Strategie merkt man mittlerweile deutlich, dass Putin auf keinen Fall einen Krieg gegen die NATO führen möchte. So spricht man in Russland davon, dass die NATO längst eine Kriegspartei sei, ohne daraus die Konsequenz zu ziehen, seinerseits ein NATO-Land anzugreifen. Ich sehe als Vertreterin des Realismus keine großen strategischen Vorteile eines russischen Expansionismus, schließlich würde das bedeuten, dass die eroberten Länder auch besetzt werden müssten.
Könnte Putin nicht seinen Einfluss auf Osteuropa ausweiten wollen?
Aus einer strategischen Perspektive würde ich sagen, dass Russlands Kriegsziele auf die Ukraine begrenzt sind. Es gibt auch keine Äußerungen darüber, dass Russland die bestimmende Kraft in ganz Europa werden möchte. Im Gegenteil: Putin verkündet, der Schwerpunkt Russlands müsse nach Osten verlegt werden. Gegen eine groß angelegte Expansion spricht auch das demografische Argument. Selbst wenn wir davon ausgehen, dass Russland über ein großes Reservoir an Soldaten verfügt, die bisher noch nicht mobilisiert sind, muss man auch die demografische Falle kennen, in die Russland durch weitere Expansionen hineinfallen würde.
»Ich denke, dass China durchaus bereit ist, sich mit anderen wichtigen Mächten die Welt zu teilen. China ist nicht der Auffassung, dass es über das Potenzial verfügt, die USA militärisch zu überholen.«
Aufgrund der ökonomischen Entwicklung in Russland in den 1990er Jahren ist es zu einem sehr starken Geburtenrückgang gekommen. Der Demograf Emmanuel Todd sagt, dass Russland ab 2022 demografisch gesehen über ein Zeitfenster von nur fünf Jahren verfügt. In dieser Zeit kann es noch auf ein großes Reservoir von Soldaten zurückgreifen. Aber sollte man sich wirklich eine weitere Expansion vorstellen, dann würde das bedeuten, dass man über lange Zeit hinweg Soldaten im Ausland stationieren müsste. Und da stößt Russland an eine klare demografische Grenze.
Was ist Ihrer Ansicht nach Russlands Kriegsziel in der Ukraine?
Neben den immer wieder vorgetragenen Kriegszielen will Russland mit dem Angriff auf die Ukraine wieder als Weltmacht ersten Rangs wahrgenommen werden. Putin will die Neuordnung der Welt aktiv mitgestalten. In den letzten Jahren spielte Russland eine immer kleinere Rolle im Kräftemessen der Großmächte, das vor allem zwischen China und den USA stattfand. Dieser Bedeutungsverlust steht im krassen Widerspruch zu der Tatsache, dass Russland nach wie vor über das größte nukleare Potenzial in der ganzen Welt verfügt. Da Russland mit den anderen beiden Großmächten nicht ökonomisch mithalten kann, stellte es seinen Großmachtstatus militärisch unter Beweis. Ähnliches ist in der Geschichte schon sehr häufig passiert.
Russland hat sein Ziel also erreicht. Nun ist der russische Angriffskrieg aus völkerrechtlicher und moralischer Sicht zu verurteilen: Ist es daher nicht verständlich, dass viele europäische Politikerinnen und Politiker nun das Ziel formulieren, dass die Ukraine ihre Territorien zurückerobern muss?
Ich fürchte, dass wir uns in Zeiten wie diesen eine ganze Reihe unserer moralischen Prinzipien in der praktischen Politik abschminken müssen, weil die Gefahr eines dritten Weltkrieges und damit einer Eskalation hin zu einem Nuklearkrieg besonders groß ist. Nach meiner Auffassung ist es wichtig zu erkennen, dass alle, die nicht entweder China, Russland oder Amerika heißen, ihren Beitrag dazu leisten müssen, dass sich die Rivalität zwischen den Großmächten nicht weiter zuspitzt.
Verhindern moralische Ansprüche europäischer Politikerinnen und Politiker, dass es zu einem solchen Ausgleich der Macht kommt?
Die Moral verdeckt manchmal den Blick auf die Realpolitik auf der anderen Seite. Sehr häufig ist es so, dass Entscheidungsträger untereinander versuchen, die Lage realistisch einzuschätzen. Wenn sie uns dann die Ergebnisse ihrer Beratungen mitteilen, tragen sie moralische Argumente vor, weil sie denken, dass wir dafür empfänglich sind. Für einen Ausgleich der Mächte und einen damit einhergehenden Frieden wäre die genaue Untersuchung der Wahrnehmung der anderen von großer Bedeutung. Wir haben viel zu wenig Leute, die sich damit wirklich gut auskennen.
Das führt leicht dazu, dass wir große Probleme haben, uns die Reaktionen der Gegenseite auf unsere politischen Schritte vorzustellen. Das wäre im augenblicklichen Schachspiel zwischen den Großmächten aber eine ganz zentrale Fähigkeit, die wir unbedingt entwickeln müssen. Und daraus könnte sich dann auch eine neue Form der Verhandlungsstrategie und der Diplomatie entwickeln.
Als Sinologin kennen Sie sich besonders gut mit China aus: Werden wir bald einen Angriff auf Taiwan erleben?
Derzeit sehe ich diese Gefahr nicht. Xi Jinping sagt zwar, dass die USA im Augenblick so stark eskaliere, dass er den Eindruck habe, sie wollten China in einen militärischen Konflikt um Taiwan zwingen. Nach meiner Auffassung ist aber die militärische »Lösung« der Taiwan-Frage für China aus unterschiedlichen Gründen nicht die favorisierte Option. Denn ein Angriff auf Taiwan ist zunächst einmal sehr schwierig und riskant – und auch das chinesische Militär ist nicht gerade begeistert von der Vorstellung, diesen Krieg führen zu müssen.
»Es fehlt ein dritter Block. Und dieser dritte Block muss ausdrücklich einer sein, der sowohl zu der einen Seite als auch zu der anderen Seite über gute Beziehungen verfügt.«
Hinzu kommt auch die schwache wirtschaftliche Lage Chinas: Man braucht ein gewisses ökonomisches Potenzial, um einen Krieg führen zu können. Ein Angriff aus einem Moment der wirtschaftlichen Schwäche heraus ist unklug, auch weil man sich der Loyalität der Bevölkerung nicht sicher sein kann.
Die chinesische Seite hofft hingegen, die Stimmung in Taiwan doch noch so zu wenden, dass eine militärische Übernahme nicht nötig ist. Dabei setzen sie auf eine wirtschaftliche Schwächung Taiwans, die zu einer Destabilisierung sowohl in der Wirtschaft als auch in der Gesellschaft führt. Die Blockadeübungen, die China auch kürzlich wieder im Südchinesischen Meer durchgeführt hat, zeigen, dass man Taiwan innerhalb kürzester Zeit von der Umgebung abschneiden kann. Je öfter man so etwas macht, desto unsicherer wird die Situation, denn die wirtschaftliche Stabilität Taiwans ist sehr stark auf Importe angewiesen.
Was ist das langfristige Ziel Chinas in der Konkurrenz mit den anderen Großmächten?
China strebt an, Wirtschaftsmacht Nummer eins zu werden. Die chinesische Führung will nicht, dass die USA China in seiner ökonomischen Entwicklung behindern kann. Mit Blick auf die politische Ordnung ist zu beobachten, dass in China der Begriff der Multipolarität immer öfter benutzt wird. Xi will damit zeigen, dass er keine unipolare Welt unter der Führung Chinas herbeiführen will. Ich denke, dass China durchaus bereit ist, sich mit anderen wichtigen Mächten die Welt zu teilen. China ist nicht der Auffassung, dass es über das Potenzial verfügt, die USA militärisch zu überholen. Die USA verfügen über 800 Militärstützpunkte weltweit, China, soweit wir wissen, über einen einzigen. Sicher ist jedoch auch, dass China den Pazifik nicht mehr den USA überlassen möchte und die Eingliederung Taiwans in die Verwaltungsstruktur der Volksrepublik wäre ein wichtiger Schritt hin zu mehr Dominanz, vor allem im Westpazifik.
Ihr Kollege Herfried Münkler plädiert mit Blick auf die Stabilisierung der Mächteordnung für eine Pentarchie, also eine Ordnung von fünf Großmächten unter anderem mit Europa und Indien. Die EU müsste dafür massiv aufrüsten. Halten Sie das für realistisch?
Wir können uns vieles wünschen, aber es wird meistens nicht Realität. Also muss man sich anschauen, was die Hauptakteure machen. Wir wissen, dass Russland und China insofern Revisionisten im System der internationalen Entwicklung sind, als dass sie eine Neuordnung der Welt wollen. Aus Russland hören wir, dass Multipolarität dort beginnt, wo nicht zwei Mächte die Welt regieren, sondern drei. Multipolarität heißt für Russland also drei Großmächte – wobei sie natürlich dazugehören. Die Chinesen sprechen wiederum auch von Multipolarität, sagen aber überhaupt nicht, wer zu den dominierenden Staaten dazugehört. Sie betonen aber – und insofern sind sie Realisten –, dass eine Weltordnung nur durch Hierarchien entsteht, nicht durch Gleichheit. Man kann das etwa bei chinesischen Politikwissenschaftlern nachlesen, die die augenblickliche Weltordnung analysieren. Wenn ich diese Informationen zusammen nehme, könnte ich mir die neue Weltordnung folgendermaßen vorstellen: An erster Stelle steht das strategische Dreieck China, Russland, USA. Dabei haben wir eine Konstellation, wo zwei dieser drei Mächte einigermaßen gut miteinander befreundet sind, nämlich Russland und China.
»Wenn EU-Europa dem Drehbuch folgt, dass die USA vorgesehen haben, muss es hinnehmen, dass seine wirtschaftlichen Interessen der Rivalität zwischen den USA und China geopfert werden.«
Ich sage »einigermaßen«, weil sie beide die augenblickliche Vormachtstellung der USA ablehnen, aber nicht in allen Punkten an einem Strang ziehen. Sollten die USA sich auf so eine Weltordnung einlassen, könnte das bedeuten, dass China zum Beispiel manchmal mit Russland gegen Amerika, Russland manchmal mit Amerika gegen China optiert. In der zweiten Reihe wären viele Länder, die eher mit Russland und China koalieren würden, und solche, die eher, wie der sogenannte Westen, auf Seiten der USA stünden. Wenn sich diese Tendenz aber verfestigt, dann hätten wir einfach nur zwei Pole in der Welt, eine neue Blockbildung. Das würde aber zur Friedlichkeit dieser Welt nicht viel beitragen.
Was fehlt also für eine relativ stabile und friedliche Ordnung?
Es fehlt ein dritter Block. Und dieser dritte Block muss ausdrücklich einer sein, der sowohl zu der einen Seite als auch zu der anderen Seite über gute Beziehungen verfügt. Länder des dritten Blocks müssen in bestimmten Situationen mit der einen Seite, in anderen Situationen mit der anderen Seite koalieren können. Haben Sie sich schon einmal darüber gewundert, dass die Türkei im Augenblick gerade einen Antrag stellt, Mitglied sowohl von BRICS als auch der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) zu werden? Aus meiner Sicht bereitet sich die Türkei aktuell darauf vor, ein solches Land in der Mitte zu werden. Die Türkei könnte als NATO-Mitglied also auch Beziehungen zu Russland und China unterhalten, eventuell über SCO oder über BRICS oder beides.
Auch Indien ist kein Land, das eindeutig auf Seite der USA oder eindeutig auf der Seite Russlands steht, schon gar nicht auf der Seite Chinas. Also es gibt Länder, die haben diesen Trend der Zeit bereits gesehen. Das werte ich auch als Indiz dafür, dass meine Überlegungen nicht vollkommen falsch sind. Eine solche Konstellation braucht man unbedingt, damit wir in einer eventuellen multipolaren Ordnung nicht in die bipolare Blockbildung zurückfallen.
Eine friedliche Weltordnung lebt also von der Aufrechterhaltung diplomatischer Beziehungen zu den Großmächten durch Mächte der zweiten Reihe. Eine Macht des diplomatischen Ausgleichs zu werden, könnte also auch für die europäische Außenpolitik Leitbild sein?
Ja, das läge auch im europäischen Interesse. Wenn EU-Europa dem Drehbuch folgt, dass die USA vorgesehen haben, muss es hinnehmen, dass seine wirtschaftlichen Interessen der Rivalität zwischen den USA und China geopfert werden. Für die EU ist es also von Vorteil, die Beziehung zu China aufrechtzuerhalten. Diese Beziehungen sollten die europäischen Länder nutzen, im Konflikt um Taiwan zu vermitteln und sich etwa für eine entmilitarisierte Zone um die Insel einzusetzen, um das Risiko einer Eskalation zwischen China und den USA zu vermindern.
Susanne Weigelin-Schwiedrzik ist Professorin der Sinologie an der Universität Wien und Programmdirektorin des Centers für Strategische Analysen.