13. Dezember 2021
Für perspektivlose junge Männer stellt die Anime-Kultur einen Zufluchtsort dar. Kawaii-Girls bestärken eine neue Form der Frauenfeindlichkeit.
Mirai Akari freut sich sichtlich, ihr Publikum zu begrüßen. »Schön, euch zu sehen!«, quietscht sie euphorisch. Gleich darauf stellt sie fest: »Ich habe kein Gedächtnis. Ich habe überhaupt keine Ahnung, wer ich bin und was ich tun soll.«
Mit über 700.000 Followern auf Youtube ist Mirai Akari im Universum der sogenannten virtual anime girl Youtuber eine etablierte Größe. Ihre Erscheinung changiert zwischen Märchenelfe und Sexpuppe: Zu schwarzen Strapsen trägt sie eine himmelblaue Corsage, in ihrer blonden Mähne prangt blumiger Haarschmuck. Mit riesigen Klimperaugen, hoher Stirn, kleiner Stupsnase und winzigem Kinn entspricht sie genau dem, was der Verhaltensforscher Konrad Lorenz in den 1940er Jahren als »Kindchenschema« beschrieb: eine Kombination infantiler Merkmale, die, evolutionsbiologisch gesprochen, Eltern dazu motiviert, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern. Nur dass es sich bei Mirai Akari offensichtlich nicht um ein Kind handelt.
»Wie alt bin ich wohl?«, kokettiert sie dann tatsächlich selbst mit pädophilen Assoziationen, und als das imaginierte Publikum 25 oder 26 Jahre vorschlägt, reagiert sie empört: »Mindestens zehn Jahre jünger! Wenn ihr das Alter eines Mädchens schätzt, solltet ihr immer zehn Jahre abziehen. Wenn ihr dachtet, dass ich achtzehn bin, dann stellt euch vor, ich sei acht. Das ist mir sehr recht.«
Süßliche Anime-Girls wie Mirai Akari zeugen von einem kulturellen Trend, der heute in Volcel-Kreisen – freiwillig zölibatär lebenden Frauenhassern – zu beobachten ist: einem Hang, digitale Frauen denen der realen Welt vorzuziehen. »2D > 3D« lautet eine Formel dieser Szene. Zahlreiche Memes liefern die Begründung: 2D-Frauen altern nicht, haben keinen Körpergeruch und können niemals fremdgehen. 2D-Frauen sind kawaii.
Kawaii, das bedeutet »niedlich«, steht aber auch für eine Ästhetik, die sich seit den 1970er Jahren in Japan großer Popularität erfreut. Hello Kitty ist kawaii, Pikachu ist kawaii. Oftmals als Versuch der kollektiven Wiedergutwerdung des Landes nach den faschistischen Verbrechen des Zweiten Weltkriegs interpretiert, entstand die Kawaii-Kultur am Übergang zum postindustriellen Zeitalter – und durchzieht mittlerweile alle Bereiche der japanischen Gesellschaft. Selbst Kampfhubschrauber zieren Anime-Girls.
Dass die Kawaiifizierung von Weiblichkeit in Japan so verbreitet ist, hat auch mit der wirtschaftlichen Situation des Landes zu tun. Während einer Rezession in den 1990er Jahren wuchs eine ganze Generation in prekärer Perspektivlosigkeit heran: Sie fand keine Arbeit, musste im Elternhaus wohnen bleiben. Gerade für junge Männer, die sich von neoliberalen Erfolgserzählungen betrogen fühlen, stellt die Anime-Kultur seither einen Zufluchtsort dar. In Zeiten ökonomischer Stagnation haben sie keine Hoffnung, das Wohlstandsniveau ihrer Eltern zu erreichen, und ziehen sich in die digitale Isolation zurück, wo Kawaii-Girls nicht nur als Youtuberinnen, sondern auch als Pornostars und holografische Alltagsassistentinnen zu finden sind. Otaku nennt man diese alleinstehenden Männer, die oftmals nur geringes Einkommen und keinerlei amouröse Ambitionen, dafür aber ein obsessives Interesse an 2D-Welten aufweisen.
Zu Beginn der 2000er Jahre fand die Otaku-Kultur auch in den USA Einzug. Der damals fünfzehnjährige Christoph Poole gründete das Imageboard 4chan, das zunächst ein Ort eklektischer Jugendsubkultur war, bald jedoch zu einer der beliebtesten Seiten des Internets avancierte. Heute ziehen bestimmte 4chan-Boards vor allem beschäftigungslose Männer an, die sich gegenseitig in ihren Anschauungen bestätigen. Neben Anime-Girls finden sich hier auch Holocaustleugnung und Verschwörungstheorien. Nach der Finanzkrise von 2008, die die Welt noch trostloser machte, erlebte das 4chan-Universum neuen Zulauf.
Unter dem Schlagwort Gamergate radikalisierte sich die Szene im Jahr 2014: Aus Angst, dass ihnen der feministische Zeitgeist nun die geliebten sexualisierten Spielfiguren wegnehmen könnte, bombardierten Nutzer des Forums Spielentwicklerinnen mit Morddrohungen. Viele 4chan-Nutzer betrachten den Feminismus als Bedrohung, da sie sich die sexuelle Ablehnung durch westliche Frauen nur durch deren ideologische Verblendung erklären können. Japanische Kawaii-Girls hingegen erscheinen – rassistischen Stereotypen folgend – als unschuldig und gefügig.
Diese Misogynie bei gleichzeitiger Fetischisierung infantiler Frauenfiguren bietet den perfekten Einstieg in rechte Ideologien. Frustrierte Männer, die ihren eigenen Potenzvorstellungen angesichts von ausbleibendem wirtschaftlichem und sexuellem Erfolg nicht gerecht werden können, suchen die Schuld bei den »Anderen« – und das sind neben Frauen auch muslimische und jüdische Menschen.
Der Attentäter Stefan B., der im Oktober 2019 eine Synagoge in Halle stürmen wollte, war tief in der 4chan-Szene verstrickt. Er sammelte nicht nur Darstellungen freizügiger Kawaii-Girls in Naziuniform, sondern träumte auch davon, als Belohnung für seine antisemitischen Morde ein »kostenloses Katzenmädchen« zu erhalten, das »immer loyal« sein werde.
Ann-Kristin Tlusty, geboren 1994, arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. 2021 erschien ihr Sachbuch »Süß. Eine feministische Kritik«.