04. Juni 2024
»Ausländer raus« zu grölen, ist nicht die einzige Spielart des deutschen Nationalismus. In seiner modernen Form dient ihm gerade die Überzeugung, Deutschlands Geschichte aufgearbeitet zu haben, als Rechtfertigung für Machtpolitik und Gewalt.
Nancy Faeser, Boris Pistorius, Annalena Baerbock und Klara Geywitz vor der Kabinettssitzung im Bundeskanzleramt in Berli, 13. Juli 2023.
Die Fußball-EM naht, auf Sylt wird abgehitlert: Da ist es an der Zeit, über den deutschen Nationalismus und seine Spielarten zu sprechen. Denn der Nationalismus kommt nicht immer so chauvinistisch daher, wie wir es vergangene Woche in der Pony Bar erleben durften. Um es einmal provokant zu formulieren: Der neue deutsche Nationalismus ist »bunt statt braun«, »woke und wehrhaft« – und felsenfest davon überzeugt, aus der Vergangenheit gelernt zu haben.
Aber fangen wir mit dem klassischen Nationalismus an, wie wir ihn vorletzte Woche in den Sylter Partyvideos gesehen haben. Dort sahen wir weiße Rich Kids, die »Deutschland den Deutschen, Ausländer raus« grölten, ein seit vielen Jahren beliebter Slogan in der rechtsextremen Szene. Das war aber keineswegs der erste vergleichbare Fall. Schon vor Monaten sah man Videos aus kleinstädtischen Diskos, in denen dieselben Zeilen zur Melodie von »L’amour toujours« gesungen wurden.
Was wir daran schön erkennen können: Nazi-Slogans werden hierzulande unabhängig vom sozioökonomischen Umfeld gerne skandiert, und wer das im Einzelnen ernst meint, und wer das »nur« als Meme singt, ist kaum feststellbar. Das ist aber auch recht egal, denn die Pogrom-Stimmung, die in solchen Videos greifbar ist, kann immer in reale Gewalt umschlagen – und dann will es am Ende ganz sicher keiner so gemeint haben.
Die Sylter Rich Kids und die Besoffenen in Dorfdiskos sind die hässliche Fratze des heutigen deutschen Nationalbewusstseins. Nach innen hin stellen sie eine große Gefahr dar für alle, die bei »Deutschland den Deutschen« nicht mitgemeint sind. Das können Migrantisierte, Juden oder vaterlandslose Gesellen sein – je nachdem, wen man fragt.
Für die genannten Betroffenen ist diese Form des Nationalismus zweifellos die gefährlichste.
Nach außen hin sieht das etwas anders aus: Wenn die AfD beispielsweise von ihren europäischen Partnern fallen gelassen wird, weil Maximilian Krah mal wieder die SS verharmlost, dann deutet das darauf hin, dass eine neue deutsche Machtpolitik nicht auf diese Form des chauvinistischen Nationalismus setzen kann.
»Deutschland wird nicht trotz, sondern durch seine innere Liberalität zur äußeren Militanz befähigt.«
Der moderne deutsche Nationalismus, der wirkliche internationale Macht anstrebt, ist stolz darauf, aus den Fehlern und der Schuld der Vergangenheit »gelernt« zu haben. Jahrelang haben Rechte in diesem Kontext von »Schuldkult« gesprochen. Damit war gemeint: Deutschland drehe sich immer nur um die Vergangenheit und traue sich deshalb nicht, in heutigen globalen Gewaltfragen mitzureden.
Das ist völliger Unsinn: Gerade wegen der sogenannten »Aufarbeitung der Vergangenheit« nehmen heutige liberale Demokraten für sich eine neue deutsche Machtpolitik in Anspruch. Das begann schon in den 1990er Jahren, als Joschka Fischer mit den Worten »Nie wieder Auschwitz« die Beteiligung am Kosovo-Einsatz erklärte, und setzt sich bis heute fort.
Wenn der Bundeswehrprofessor Carlo Masala bei der Diversity-Konferenz der Bundeswehr sagt, er wolle eine Armee, die »woke und wehrhaft« ist, und dieser Slogan dann vom deutschen Panzermuseum auf T-Shirts gedruckt wird – dann deutet das auf einen modernen Nationalismus hin, der nicht mehr nur mit Strammstehen und Pickelhaube aufwartet, sondern für sich in Anspruch nimmt, nur durch eigene Militanz die gesellschaftliche Liberalität aufrechterhalten zu können.
Ganz ähnlich macht es die Außenministerin Annalena Baerbock, ihrerseits Expertin für feministische Außenpolitik. Sie kennt viele gute Gründe für deutsche Waffen in aller Welt. Etwa im vergangenen Jahr, als sie erklärte, dass Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien unumgänglich seien, damit die Familienministerin Lisa Paus Geld für die Kinder habe. Tja, da müssen eben noch ein paar Kinder im Nahen Osten dran glauben, damit zumindest noch ein paar Euros für die deutsche Kindergrundsicherung anfallen.
Ob die deutsche Politik die Anforderungen eines modernen Sozialstaats, den Feminismus oder aber – wie jetzt gerade – die Staatsräson vorbringt, um die eigene Beteiligung an globalen Gewaltfragen zu rechtfertigen, ist dann nur eine Frage des jeweiligen Konflikts und der eigens erzeugten Diskurse. Was man daran wunderbar erkennt: Deutschland wird nicht trotz, sondern durch seine innere Liberalität zur äußeren Militanz befähigt. Der moderne liberale Demokrat geht mit Deutschlandflagge auf Demos gegen die AfD und entnimmt einem antirassistischen Verfassungspatriotismus die guten Gründe für die gerechte Gewalt.
Ole Nymoen betreibt den Wirtschaftspodcast Wohlstand für Alle und ist Kolumnist bei JACOBIN.