24. April 2024
Lebensmittelkonzerne und Politiker nutzen Spenden an die Tafeln für gute PR – sie seien ja ach so bemüht, dass alle etwas zu essen bekommen. Dabei ist ausreichende und gesunde Ernährung ein Grundrecht, das der Sozialstaat ganz selbstverständlich zu gewährleisten hat.
Essensausgabe der Tafel in Nordhausen, Aufnahme vom 14. April 2022.
Immer mehr Menschen in Deutschland sind auf die Tafel angewiesen. Gleichzeitig ist es für die Organisation komplizierter geworden, Lebensmittel zu retten. Denn die Lebensmittelrettung ist zu einem Geschäftsmodell und umkämpften Markt geworden: Foodsharing, Too Good To Go und viele andere Organisationen, die überschüssige Lebensmittel günstig weiterverkaufen, sind inzwischen harte Konkurrenten. Folglich steigen die Lebensmittelspenden an die Tafeln nicht im gleichen Maße wie die Zahl der Bedürftigen oder gehen sogar zurück.
Um auf die Arbeit der Tafeln aufmerksam zu machen, lief von Ende Februar bis Ende März eine deutschlandweite PR-Aktion: Durch den Kauf bestimmter Snackprodukte der Marke share in dm- und Rewe-Märkten konnte man die Tafel Deutschland unterstützen. Als Dankeschön gab es zehn E-Lastenräder – fünf wurden unter den Teilnehmenden verlost und fünf an die Tafeln gespendet. Dazu gab SAT.1 dem Thema im Fernsehprogramm Sichtbarkeit, Rewe und dm warben für die Aktion in ihren Geschäften.
Zwei Einzelhandels-Großkonzerne, ein nach eigener Auffassung »soziales« Start-up, ein privater Fernsehsender und eine gemeinnützige Organisation packen also zusammen an gegen die Ernährungsarmut in Deutschland. Was wie der Anfang eines schlechten Witzes klingt, verweist auf eine traurige Realität: Die Politik ignoriert das Problem seit Jahrzehnten.
Die Arbeit, die die tausenden Ehren- und Hauptamtlichen bei den Tafeln leisten, ist ungemein wichtig und muss honoriert werden. Doch sie kann niemals ausreichen. Die Tafeln wissen auch selbst, dass es längst Zeit ist für eine grundsätzliche Debatte über die Aufgaben eines Sozialstaats. Die Schlangen vor den Ausgabestellen sind keine Erfolgsgeschichte des Modells Tafel, sondern Ausdruck sozialpolitischer Versäumnisse der letzten Regierungen.
Das Engagement der Tafel-Helferinnen und -Helfer lindert Symptome, kann aber die Ursache des Problems nicht beheben: die Tatsache, dass die Einkommen von Millionen von Menschen nicht ausreichen, um ihre Lebenshaltungskosten zu decken. Ein menschenwürdiges Existenzminimum zu sichern, ist staatliche Pflicht und Verantwortung. Zu den Grundrechten angemessener materieller Grundlagen und einer ausreichenden, gesunden Ernährung hat sich Deutschland völkerrechtlich bindend verpflichtet. Die Frage, ob die Bundesregierung diesem Grundsatz nachkommt, wurde in einigen Studien untersucht. Die allermeisten von ihnen kommen zu einer ganz klaren Antwort: nein.
»Die Armen essen die Reste der Reichen – oder den Müll der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft.«
Überschüssige Lebensmittel bedeuten, dass wir eigentlich genug Essen für alle hätten und es nur schlecht verteilt ist. Sie an Bedürftige umzuverteilen, mag daher auf den ersten Blick als eine gute Idee erscheinen – eine Win-win-Situation für die Menschen und für die Umwelt durch weniger Lebensmittelverschwendung. Man kann die Sache aber auch anders betrachten: Die Armen essen die Reste der Reichen – oder den Müll der Überfluss- und Wegwerfgesellschaft. Erwarten wir von diesen Menschen, dass sie diesen Überschuss konsumieren, dann entmenschlichen wir sie und behandeln sie als eine Art Abfallentsorger. Davon profitieren auch Lebensmittelkonzerne und die neoliberalen Narrative von Win-win-Situationen, die uns ständig erzählt werden.
Die Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen zählt in Deutschland über drei Millionen Menschen, die allein von materieller Ernährungsarmut betroffen sind. Sie sind also finanziell nicht in der Lage, sich ausreichend und gesund zu ernähren. Daten zur sogenannten sozialen Ernährungsarmut gibt es nicht einmal. Dieser Begriff bezeichnet die reduzierte sozio-kulturelle Teilhabe von Menschen, deren Geld nicht mal für einen Kaffee mit Freunden, den Geburtstagskuchen oder den Kantinenbesuch mit Kolleginnen reicht.
Auf Dauer führt das zu sozio-kultureller Ausgrenzung, denn Ernährung hat auch bedeutende soziale Funktionen. Das spiegelt sich nicht nur in unzähligen wissenschaftlichen Studien wider, sondern auch in einem der Indikatoren, mit dem der statistische Dienst der Europäischen Union schwere materielle und soziale Entbehrung misst: die Möglichkeit, sich mindestens einmal im Monat mit Freunden oder Familie auf ein Getränk oder eine Mahlzeit zu treffen.
Rund 60.000 Tafel-Helferinnen und -helfer versorgen laut eigenen Angaben circa zwei Millionen Menschen regelmäßig. Zu dieser Zahl haben auch die Auswirkungen der Kriege in Syrien, in der Ukraine und die Rekord-Inflation ihren Teil beigetragen. Doch Studien betonen die Verbindung zwischen neoliberaler Politik – insbesondere massiven Kürzungen am Sozialstaat – und dem Wachstum karitativer Essensangebote. 1995 gab es in Deutschland 35 Tafeln, heute sind es über 970.
Geradezu sprunghaft ist die Anzahl mit dem Inkrafttreten von Hartz IV gestiegen: Von 480 im Jahr 2005 auf 657 im Jahr 2006. Davon profitieren nicht nur Unternehmen, die Kosten sparen und ihr Image aufpolieren, sondern auch Regierungen, die sich so ihrer Verantwortung entziehen. Armutsbekämpfung wird immer weniger als die Aufgabe des Staates angesehen, sondern als die von Ehrenamtlichen. Wenn man der neoliberalen Logik folgt, liegt sie am Ende in der Verantwortung von jeder und jedem einzelnen selbst.
Die Unternehmensberatung McKinsey & Company bot den Tafeln in den 1990er Jahren unentgeltlich ihre Dienste an. Netto, Coca-Cola, Kentucky Fried Chicken, Mars Food, Mondelez International und Nestlé zählen zu den Förderern des deutschen Tafelverbands. Und erst die Spendierfreude von Lebensmittelhändlern und -herstellern hat die Arbeit der Tafeln möglich gemacht. Es ist nicht nur der Bäcker um die Ecke, der übrig gebliebenes Brot abgibt. Die meisten Großhandel-, Supermarkt- und Discounterketten machen mit, mit Lebensmittel-, aber auch mit Geldspenden – wobei das Geld dafür auch gerne mal von den eigenen Kundinnen und Kunden kommen kann.
6.400 Lidl-Pfandautomaten haben zum Beispiel einen Spendenknopf, mit dem man bei der Rückgabe von Leergut entscheiden kann, ob man einen Teilbetrag oder den gesamten Pfandbetrag an den Tafel-Dachverband spenden möchte. Seit 2008 haben Käuferinnen und Käufer so bereits mehr als 27 Millionen Euro gespendet, was Lidl als seine »gesellschaftliche Verantwortung« ausgibt.
»Jede und jeder Tafel-Mitarbeitende sollte beim Überreichen von Lebensmitteln den Menschen deutlich sagen, dass das, was gerade stattfindet, Staatsversagen ist.«
Edeka Südwest verkauft immer mal wieder Tüten mit lange haltbaren Lebensmitteln, die für 5 Euro gekauft werden können und an die Tafeln gespendet werden. Seit Beginn der Aktion 2013 sind so knapp 590.000 Tüten im Wert von insgesamt 2,9 Millionen Euro zusammengekommen. Eine ähnliche Aktion gab es im Oktober 2023 bei Rewe, Kundinnen und Kunden spendeten dabei über 373.000 Euro. In den Tüten waren ausschließlich Produkte der Rewe-Eigenmarke ja! zu finden.
Presseberichte über Tafel-Aktionen liefern kostenlose Werbung, nach dem Motto »Tue Gutes und rede darüber«. Ihre Geld- und Sachspenden können Unternehmen steuerlich geltend machen. Und durch die Lebensmittelabgabe lassen sich obendrein Entsorgungskosten vermeiden. Wie viel von den Waren, die von den Tafeln abgeholt werden, am Ende doch noch aussortiert werden muss und in der Tonne landet, will niemand so richtig wissen.
Der Staat unterstützt die Tafeln mit öffentlichen Geldern und Schirmherrschaften. In Nordrhein-Westfalen zum Beispiel sind zwischen 2020 und 2023 rund 2,4 Millionen Euro geflossen. Für den Zeitraum 2024 bis 2026 hat die Landesregierung 1,1 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. Der Tafel-Bundesverband fordert offiziell eine staatliche Grundfinanzierung. Dabei könnte man fast vergessen, dass der Staat selbst für die Ernährungssicherheit der Bevölkerung zuständig sein sollte.
Nicht alle Mitglieder der Organisation sind mit dieser Forderung einverstanden, zu groß ist die Gefahr der Abhängigkeit und der politischen Vereinnahmung. In Niedersachsen etwa spendete eine AfD-Ratsfraktion der lokalen Tafel kurz vor der Landtagswahl eine halbe Tonne Nudeln. Der AfD-Direktkandidat postete auf Facebook, es sei ihm eine »große Ehre«, die Nudeln »übergeben zu dürfen«. Auf den Nudelpackungen klebten AfD-Sticker, die erst mal stundenlang abgekratzt werden mussten.
Markus Söder ließ sich bei der Münchner Tafel dabei fotografieren, wie er Menschen Brotlaibe überreichte. Er postete eines der Bilder auf Twitter und verkündete, Bayern würde die finanzielle Förderung der Tafel aufstocken. Söders Inszenierung wurde mit Recht als heuchlerisch, zynisch und scheinheilig kritisiert. Denn gleichzeitig strebte Bayern mit einer Bundesratsinitiative die Kürzung des Bürgergelds an, dessen Regelbedarfe schon jetzt keine ausreichende und gesunde Ernährung ermöglichen.
Sogar die Erhöhung des Regelbedarfs zum 1. Januar 2024 wollte die Regierung des Freistaats aussetzen. Dabei handelt sich um eine automatische, jährliche Anpassung an Inflation und Gehaltsentwicklungen – die laut dem Paritätischen Bundesverband 2024 lediglich als Inflationsausgleich zu sehen war. Auch Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Sachsen und Niedersachsen unterstützen Landesregierungen die Tafeln mit öffentlichen Geldern.
Dieses punktuelle Almosenwesen zahlt sich also aus – für Unternehmen und politische Parteien, die etwas gute PR nötig haben. Das muss aufhören. Jede und jeder Tafel-Mitarbeitende sollte beim Überreichen von Lebensmitteln den Menschen deutlich sagen, dass das, was gerade stattfindet, Staatsversagen ist. Dass eine ausreichende und gesunde Ernährung ihnen eigentlich als Grundrecht zusteht . Auch wenn sie das nicht wollten, sind Tafeln und Co. zum Trostpflaster einer fehlgeschlagenen Politik geworden. Das ist ein Skandal für unsere Gesellschaft.
Silvia Monetti ist Politikwissenschaftlerin, arbeitet im Verbraucherschutz und promoviert zum Thema Ernährungspolitik und soziale Gerechtigkeit.