19. Juli 2023
Von der Art, wie Wissen in der Öffentlichkeit verhandelt wird, profitieren vor allem die, denen es wurscht ist.
»Dann kommen andere, die andere Expertise hervorkramen, und alle sitzen miteinander in der Talkshow und streiten sich darüber, wer am expertigsten ist.«
Illustration: Marie SchwabJürgen Habermas ist kein Osteuropa-Experte. Sahra Wagenknecht ist keine Expertin für Kriegsrecht. Richard David Precht ist kein Experte für irgendetwas, wozu er sich in letzter Zeit geäußert hat. Das haben sie auch nie behauptet. Dennoch finden es scheinbar viele nötig, das immer wieder festzustellen, weil man daraus angeblich schließen kann, dass man sich nicht weiter mit ihnen befassen muss. Als Faustregel gilt aber: Wer einen offenen Brief unterzeichnet, initiiert oder angreift, tut dies nicht als Expertin oder Experte. Aber ich gehe noch weiter: Niemand, der sich in einer Talkshow, dem Meinungsfeuilleton oder auf Twitter politisch äußert, äußert sich als Expertin oder Experte, egal wie schlau sie oder er ist. Und es wird höchste Zeit, dass wir wieder lernen, Expertise und Politik auseinanderzuhalten. Davon profitiert am Ende nämlich nicht nur die Expertise, sondern auch der politische Streit.
Expertise soll Wissen bereitstellen, damit andere Entscheidungen treffen können. Sie klärt Probleme – diese zu bearbeiten, ist Politik. Das ist praktisch komplex, aber theoretisch gar nicht so kompliziert. Keine Expertise der Welt kann klären, wie viele Tote wir dafür in Kauf nehmen möchten, dass die Deutschen ihr Gaspedal auf der Autobahn ganz durchdrücken dürfen. Sie kann uns höchstens sagen, wie viele Tote wir in Kauf nehmen, indem wir eben das zulassen, und was das gegebenenfalls für die Umsatzzahlen von Mercedes bedeutet.
In unserer massenmedial vermittelten politischen Öffentlichkeit wird diese Trennung dadurch verkompliziert, dass sich politische Figuren ständig darauf berufen, dass die beste aller Expertisen ihre Lösungsvorschläge geradezu erzwingt. Dann kommen andere, die andere Expertise hervorkramen, und alle sitzen miteinander in der Talkshow und streiten sich darüber, wer am expertigsten ist. Talkshows inszenieren Konflikte über Infektionsschutz, über den Klimawandel oder über die Regulierung von Finanzmärkten als einen Dauerplebiszit. Dabei wird immer mitthematisiert, wie viel Sachkenntnis man haben müsste, um überhaupt beim Spiel »wer hat die beste Meinung« mitspielen zu dürfen.
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