10. Oktober 2024
Die Forderungen der Beschäftigten des öffentlichen Diensts nach mehr Lohn und weniger Arbeit sind eine Chance, den Frust auf die Ampel in progressive Bahnen zu lenken. Doch damit das gelingt, muss Verdi in die Offensive gehen.
Mit dem starken Tarifabschluss 2023 konnte Verdi zahlreiche neue Mitglieder gewinnen.
Die Beschäftigten im öffentlichen Dienst und in den Kommunen fordern mehr Geld und weniger Arbeitszeit – das ist eine Kampfansage an die Ampel. 150.000 Beschäftigte beteiligten sich an der Forderungsfindung für die aktuelle Tarifrunde – 20.000 mehr als in der letzten Runde. Für 2025 fordern sie 8 Prozent mehr Lohn, aber mindestens 350 Euro mehr pro Monat, was bei niedrigeren Einkommen sogar eine Erhöhung von über 10 Prozent bedeutet. Weitere Forderungen sind zudem drei Tage mehr Urlaub, für Gewerkschaftsmitglieder sogar vier, 200 Euro mehr für Azubis und Wahlmodelle für weniger Arbeitszeit.
Der TVöD gilt für 2,5 Millionen Tarifbeschäftigte und Azubis von Bund und Kommunen, also in Krankenhäusern, Verwaltung, Abfallwirtschaft, Flughäfen oder Kitas. Zudem sind viele Arbeitsverträge von privaten Arbeitgebern und Beamten an den TVöD angelehnt. Der Vertrag entscheidet damit über Gehalt, Urlaub und Arbeitszeit von Millionen Beschäftigten in Deutschland. Was ist von den Forderungen zu halten? Sie sind gut für die Konjunktur, für Innovationen und vor allem für die Beschäftigten. Und sie sind eine Zerreißprobe für die Ampel. Doch der Reihe nach.
Karl Marx schrieb zu Beginn seiner Karriere, dass es im Kapitalismus – unter anderem – das Problem gibt, dass jeder Kapitalist seine eigenen Beschäftigten möglichst schlecht bezahlt, jedoch gleichzeitig hofft, dass alle anderen Kapitalisten ihre Beschäftigten gut bezahlen, weil jemand die Produkte kaufen soll, die die eigene Belegschaft produziert. Auch wenn ein Tarifvertrag den Konflikt innerhalb des Kapitalismus nicht aufheben kann, kann er ihn doch lindern, indem alle Beschäftigten einen Tariflohn erhalten. Höhere Tariflöhne sind somit eine Teilantwort auf die Absatzkrise von E-Autos, Wärmepumpen und PV-Anlagen. Und vielleicht werden sich mit einem guten Abschluss auch mehr Menschen das 49- oder 58- oder 67-Euro-Ticket kaufen – und womöglich sogar mehr Biogemüse.
»Wer im Streik für mehr Lohn die direkte Erfahrung macht, dass man den Kampf für ein besseres Leben gegen das Finanzministerium ausficht und nicht gegen Geflüchtete, der ist auch weniger empfänglich für das ohnehin gewerkschaftsfeindliche Politikangebot der AfD.«
Ein guter TVöD-Abschluss ist also gut für die Konjunktur, wodurch auch die Arbeitslosigkeit sinkt, was die Verhandlungsmacht der Beschäftigten in allen anderen Branchen tendenziell erhöht. In den USA beispielsweise hat die Vollbeschäftigungspolitik der letzten Jahre dazu beigetragen, dass Beschäftigte deutliche Reallohnzuwächse durchsetzen konnten. Laut Berechnungen des US-Finanzministeriums hatte 2023 eine durchschnittliche Beschäftigte 1.000 Dollar mehr in der Tasche verglichen mit 2019, also vor der Pandemie. Das ist ein ganzer Urlaub mehr, den die Ampel den Beschäftigten in Deutschland schuldig geblieben ist.
Nebenbei ist in den USA auch die Produktivität enorm gestiegen, während sie in Deutschland stagniert. Das ist wenig verwunderlich, denn warum sollten Unternehmen arbeitssparende Innovationen hervorbringen, wenn sie eingeschüchterte Beschäftigte haben, die keinen Lohndruck ausüben? Ein starker TVöD ist also innovationsfördernd. Und auch die von Verdi geforderte Flexibilisierung der Arbeitszeit könnte dem Fachkräftemangel entgegenwirken: Die Studie »Ich pflege wieder, wenn« der Arbeitnehmerkammer Bremen schätzt auf Basis von Befragungen von Pflegekräften, dass zwischen 350.000–750.000 Vollzeitstellen besetzt werden könnten, wenn sich die Arbeitsbedingungen verbessern.
Viel wichtiger für die Beschäftigten ist aber, dass die Tarifrunde eine Möglichkeit bietet, den Frust gegen die Ampel und die ökonomische Unsicherheit in progressive Bahnen zu lenken. 400.000 Beschäftigte spürten in der Tarifrunde des letzten Jahres, dass Streiken Handlungsmacht gibt. Wer im Streik für mehr Lohn im öffentlichen Dienst die direkte Erfahrung macht, dass man den Kampf für ein besseres Leben gegen das Finanzministerium ausficht und nicht gegen Geflüchtete, der ist auch weniger empfänglich für das ohnehin gewerkschaftsfeindliche Politikangebot der AfD.
Das ist auch ein Elfmeter für die Linkspartei, die sich als einzige Partei präsentieren kann, die die Verdi-Forderungen glaubhaft vertritt. Mit der Oberbürgermeisterin von Gelsenkirchen, Karin Welge, und Innenministerin Nancy Faeser wird die Arbeitgeberseite von gleich zwei SPD-Politikerinnen vertreten. Beide schmetterten die Forderungen ab, Welge nannte 2 Prozent als Orientierungsgröße, Faeser verwies auf die angespannte Haushaltslage. Parallel zu den Verhandlungen im kommenden Frühjahr startet auch langsam der Bundestagswahlkampf. Zwar könnte es sein, dass die SPD dann stärker auf die Gewerkschaften zugehen will, aber warum sollten sie sich gegen eine FDP im Überlebenskampf durchsetzen können? Es ist zu vermuten, dass die FDP versuchen wird, die Forderungen aus der aktuellen Tarifrunde gegen Sozialleistungen, wie das Bürgergeld, auszuspielen. Darauf sollten sich die Gewerkschaften nicht einlassen, denn starke soziale Sicherungssysteme stärken die Verhandlungsmacht aller Beschäftigten.
Die Forderungen sind ebenfalls eine Chance für die DGB-Gewerkschaften insgesamt, die während der Pandemie Lohnzurückhaltung durchsetzten und damit Unternehmensprofite stützten. Nun müssen sie das Versprechen einlösen, dass es nach der Pandemie bergauf geht. Obwohl 2023 ein Aufholjahr war, lagen tarifliche Reallöhne durchschnittlich 6 Prozent unter dem Niveau von vor der Pandemie. Für Menschen im Niedriglohnsektor waren die Einbußen noch drastischer, weil sie relativ zum Einkommen stärkere Preissteigerungen erlebten, als sie im durchschnittlichen Verbraucherpreisindex abgebildet sind. Die Einmalzahlungen haben den Schock etwas abgefedert. Doch während die Ausgleichsprämien inzwischen verpufft sind, sind die Preise hoch geblieben. Erst in diesem Jahr stiegen die Reallöhne durchschnittlich um 3,1 Prozent, und sind damit noch immer geringer als vor der Pandemie.
»DGB-Gewerkschaften haben zu lange den Kampfgeist der Beschäftigen gehemmt. Wenn verunsicherte Beschäftigte nach zehn Jahren Stagnation und realen Abstiegssorgen keine kollektive Form des Konflikts gegen ihre Arbeitgeber finden, vereinzeln sie sich und treten nach unten.«
Wenn sich das nicht spürbar verbessert, kann man verstehen, dass sich Beschäftigte fragen, was eine Gewerkschaftsmitgliedschaft überhaupt bringt. In der Krise Zurückhaltung fordern und die Profite stützen und sonst Löhne unterhalb des Produktivitätswachstums aushandeln? Kaum reale Widerstandserfahrungen möglich machen? Warum sollte man Mitglied einer Gewerkschaft werden, wenn sich die tariflichen Reallöhne noch 2023 auf dem Niveau von vor zehn Jahren befanden? Warum sollte man dafür 1 Prozent des Bruttolohns zahlen?
DGB-Gewerkschaften haben zu lange den Kampfgeist der Beschäftigten gehemmt. Wenn verunsicherte Beschäftigte nach zehn Jahren Stagnation und realen Abstiegssorgen keine kollektive Form des Konflikts gegen ihre Arbeitgeber finden, vereinzeln sie sich und treten nach unten. Das kann man moralisch falsch finden, jedoch ist die vermeintliche Absicherung relativer Sicherheit in Abwesenheit einer kollektiven Widerstandsform fast schon rational.
Die TVöD-Runde hat nicht nur das Potential, die Lebens- und Arbeitsbedingungen Millionen Beschäftigter und das Gesundheits- und Verwaltungsangebot für alle zu verbessern. Die Forderungen schließen an die kämpferische 2023er Runde an und können damit die Kehrtwende im Organisationsgrad verstetigen. Dafür braucht es Streikerfahrungen und eine ebenso erfolgreiche Tarifrunde wie 2023, bei der Verdi mehrere zehntausend neue Mitglieder gewinnen konnte.
Das Bündnis »Wir fahren zusammen« aus Friday’s for Future und Verdi aus der letzten Tarifrunde im ÖPNV hat sich entschlossen, auch in der TVöD-Runde mitzumischen. Es ist zu hoffen, dass sich die Bündnisse aus Gewerkschaften und politische Gruppierungen durch die Tarifrunde verbreitern. Schließlich geht es bei der Tarifauseinandersetzung auch um das Angebot von sozialer Basisversorgung – ein Anliegen, dass auch feministische und antirassistische Bündnisse haben.
Simon Grothe promoviert an der Universität Genf über die makroökonomischen Folgen von Einkommens- und Vermögensungleichheit.