08. März 2021
In der usbekischen Hauptstadt Taschkent wurden einst die schönsten Platten der Welt gebaut. Doch die Geschichte der Katastrophe, die zum größten architektonischen Freundschaftsbeweis der Sowjetunion führte, kennt heute kaum jemand.
Die Fassade des Hotel Uzbekistan aus der Fußgängerperspektive.
Im Spätsommer fühlt sich die Luft in Taschkent so an, als wäre nicht eine Jahreszeit, sondern ein glühendes Bügeleisen über die Stadt hinweg gezogen. Die Trockenheit des Steppenklimas macht die zentralasiatische Hitze bereits etwas erträglicher, Parkanlagen und schattenspendende Baumreihen entlang der Gehwege verschaffen zusätzliche Linderung. Beim Überqueren der allgegenwärtigen, extrabreiten Verkehrsstraßen kann man dann aber doch nicht anders, als sich unwillkürlich vor dem unerbittlichen Schlag der Sonne hinwegzuducken.
In einschlägigen Kreisen ist die Hauptstadt Usbekistans dafür bekannt, die »schönsten Plattenbauten der Welt« zu beherbergen. Da ernüchtert es ein wenig, viele der ornamentalen Fassadengestaltungen, die zu diesem Ruf beigetragen haben, von Werbeplanen fernöstlicher Elektronikkonzerne und fernwestlicher Erfrischungsgetränkemarken flankiert oder direkt verhangen vorzufinden.
Doch es besteht kein Mangel an diesen Gebäuden – links und rechts der ausladenden Asphaltstreifen erheben sich überall vier- bis zehnstöckige Betonklötze, die mal mit auffällig gestalteten Balkon- und Fensterpartien, mal mit aufwendig gearbeiteten Mosaiken und mal mit in die Fassade eingelassenen Schriftzügen aufwarten. Einer von ihnen lautet: »Für die Menschen von Taschkent, mit Glückwünschen vom weißrussischen Volk.«
Dahinter verbirgt sich eine hierzulande nicht allzu geläufige Geschichte: Am 26. April 1966 um 5:23 Uhr Ortszeit wurde Taschkent von einem heftigen Erdbeben erschüttert. Das Epizentrum lag inmitten der von traditionellen Lehmgebäuden geprägten Altstadt und nur wenige Kilometer unter der Erdoberfläche. Wäre es bei diesem einen Erdstoß geblieben, hätte ein Großteil der Gebäude noch gerettet werden können. Aber die sich anschließenden 33 Nachbeben brachen vollends auseinander, was im ersten Moment nur gerissen war, und verwandelten den historischen Stadtkern Taschkents in ein Trümmerfeld.
Die meisten Menschen hatten Glück im Unglück: Durch das erste Beben aus dem Schlaf gerissen und aus ihren Häusern gescheucht, konnten sie von der Straße aus zusehen, wie ihre Quartiere in sich zusammenbrachen, anstatt selbst unter dem Schutt begraben zu werden. Nur acht Personen kamen durch einstürzende Häuser ums Leben, um die hundert weitere sollen im Schock tödliche Herzinfarkte erlitten haben – doch um die 300.000 Menschen wurden über Nacht obdachlos, etwa 35.000 Wohnhäuser waren zerstört, dazu Hunderte von Schulen, Betrieben, Verwaltungsgebäuden und Kultureinrichtungen.
Der damalige sowjetische Staatschef Leonid Breschnew, der seine parteiinterne Machtposition zu diesem Zeitpunkt gefestigt hatte und nur zwei Wochen zuvor zum Generalsekretär des ZK der KPdSU ernannt worden war, ergriff die Gelegenheit, sein öffentliches Profil zu schärfen, und reiste noch am Tag des Erdbebens persönlich an den Unglücksort. Nachdem er sich ein Bild von den Zerstörungen gemacht und sich mit den lokalen Parteigrößen und Sachverständigen beraten hatte, versprach er: »Das ganze Land ist mit Taschkent!« Und das Land würde sein Versprechen halten.
Sämtliche Sowjetrepubliken sowie die Stadtverwaltungen von Moskau und Leningrad verpflichteten sich, auf Kosten ihrer jeweiligen Wohnungsbaugesellschaften neue Quartiere für die Taschkenter Innenstadt zu errichten. Ferner leisteten sie Direktzahlungen an einen Hilfsfonds, welcher der schnellen Verbesserung der medizinischen und sanitären Versorgung sowie der Bereitstellung kostenloser Mahlzeiten für die Betroffenen diente. Um die Krisenlage vor Ort zu entspannen, wurden außerdem tausende Kinder über die Sommermonate in Pionierlagern im gesamten Land untergebracht und mehr als 15.000 Familien zeitweise in andere Städte in Usbekistan und seinen Bruderrepubliken umgesiedelt. Unmengen an Baumaterialien wurden in die Stadt geschafft, zugleich reisten Architektinnen, Ingenieure, Bauleute und Mitglieder der Jugendorganisation Komsomol aus allen Ecken der Sowjetunion an – ein vom ZK beschlossenes Programm erlaubte es, Tausende von Helferinnen und Helfern für die Dauer von 18 Monaten auf Kosten des Staates nach Taschkent zu entsenden.
»Taschkent wurde auf eine Art gerettet, wie wir sie heute nur von der Rettung von Banken kennen, nicht aber im Umgang mit den Menschen, mit denen wir vermeintlich solidarisch in Staatenbünden organisiert sind.«
Auf Beschluss des Ministerrats wurden Zeitungen, Radio und Fernsehen im ganzen Land angewiesen, kontinuierlich aus Taschkent zu berichten und dabei die zentrale Rolle der Freundschaft der Völker der Sowjetunion beim Wiederaufbau der Stadt hervorzukehren. Dass das Narrativ der Völkerfreundschaft mit einigem propagandistischen Kraftaufwand von staatlicher Seite gefördert wurde, tut aber dem Umstand keinen Abbruch, dass sie für die Menschen durchaus Wirklichkeit hatte: Persönliche Aufzeichnungen von Freiwilligen, die nach Taschkent aufbrachen, zeugen von einer aufrichtigen internationalistischen Motivation, unbekannten, aber solidarisch verbundenen Menschen in einer Notlage zur Hilfe zu kommen. Zudem entschädigte der Staat die zusätzlichen Mühen und Unannehmlichkeiten, sodass Arbeitskräfte auf der All-Unions-Baustelle in Taschkent zum Teil deutlich mehr verdienten als in ihren Heimatrepubliken. Auch vergab er in den folgenden Jahren rund 35.000 Orden mit dem Titel »Erbauer Taschkents« – davon ein Drittel an Bürgerinnen und Bürger anderer Sowjetrepubliken, was einen Eindruck von dem Umfang der angereisten Hilfskräfte gibt.
Aber es war nicht alles glorreich in dieser Zeit des Aufbaus: Die Sicherheitsvorkehrungen auf den Baustellen waren katastrophal – allein im Jahr 1966 gab es zehn Arbeitsunfälle mit tödlichem Ausgang, sodass mehr Menschen bei der Errichtung der neuen Gebäude ums Leben kamen als durch den Einsturz der alten. Auch ging es hinter den Kulissen der proklamierten Völkerfreundschaft nicht immer nur harmonisch zu, wenn sich die Bruderrepubliken zum Beispiel über den Umfang der auf Unionsebene veranschlagten Baustofflieferungen beschwerten.
Das 1976 zum zehnten Jahrestag des Erdbebens eingeweihte »Monument des Mutes« ehrt bis heute die Courage der Bevölkerung im Angesicht der Katastrophe und den beherzten Einsatz der Freiwilligen: Ausgehend von einem schwarzen Granitblock, in den Datum und Uhrzeit des ersten Bebens eingraviert sind, tut sich ein Riss im Boden auf, dem eine aus Bronze gegossene Familie mit gefassten Minen und bestimmenden Gesten Einhalt gebietet. Dahinter bildet ein Ensemble von Flachreliefs Szenen aus dem gemeinschaftlichen Wiederaufbau der Stadt ab. Als die Bäume der dazugehörigen Parkanlage noch nicht so hoch gewachsen waren, stand außerdem der Blick auf das Museum der Freundschaft der Völker frei, dessen konstruktivistische Variation auf traditionelles Fassadenornament einen Eindruck von den Eigenheiten des sozialistischen Modernismus Taschkenter Prägung gibt.
Die Ausstellung des Museums ist inzwischen aufgelöst worden, war aber seit jeher nur eine Art Lesehilfe für den Subtext der Stadt, die in gewisser Weise selbst ein Freiluftmuseum sowohl der Völkerfreundschaft als auch der sowjetischen Baukunst der 1960er Jahre darstellt: Denn die damals errichteten Quartiere sind nicht einfach oberflächlich mit einem Wappen der Stadt Riga oder einem Schriftzug wie »Von Kiew für Taschkent« versehen, sondern wurden fast vollständig nach Bauplänen realisiert, die damals in der Lettischen beziehungsweise Ukrainischen Sowjetrepublik zur Anwendung kamen. Die Baukombinate der verschiedenen Unionsrepubliken bauten zwar alle seriell, jedoch wiesen ihre jeweiligen Serientypen durchaus architektonische Besonderheiten auf. Diese mögen in den homogenen Straßenzügen an ihren Heimatorten leicht verblassen, im all-sowjetischen Patchwork der Stadt Taschkent tritt der Variantenreichtum innerhalb der Standardisierung aber offen zutage.
Auch nahmen sich die Architekturkollektive gestalterische Freiheit, wo die Fertigbauteile die Konstruktion nicht vollständig vorbestimmten und die klimatischen Bedingungen Zentralasiens Anpassungen der ursprünglichen Baupläne erforderten. So entstanden die bunten Mosaike, welche die Fassaden unzähliger Plattenbauten im gesamten Stadtgebiet schmücken, sowie höhlenartige Balkonelemente, die, anstatt den Wohnungen einen Platz an der Sonne zu verschaffen, im Gegenteil Schatten spenden und einen kühlen Luftzug ermöglichen.
»In einem Museum zu wohnen klingt wie ein oft gehegter Kindheitstraum. Seine Verwirklichung kann aber auch alptraumhafte Züge haben – zumal, wenn die Exponate über Jahrzehnte nicht richtig gepflegt, sondern systematisch dem Verfall anheim gegeben werden.«
Um der brütenden Hitze während der Sommermonate etwas entgegenzusetzen, ließ man sich auch von der traditionellen zentralasiatischen Pandschara inspirieren, einem gemusterten Sonnengitter, das vor Fenster und Türen angebracht wurde, um den Lichteinfall zu brechen. Nach diesem historischen Vorbild wurden sowohl formal einfache Lochfassaden an vielen Wohnhäusern als auch aufwendige Gitterkonstruktionen an einigen öffentlichen Gebäuden realisiert – ein Beispiel ist das 1970 fertiggestellte Lenin-Museum, dessen gesamte Fassade von einer in Rautenstruktur gehaltenen Pandschara-Verkleidung umschlossen ist.
Ein weiteres ist das Hotel Uzbekistan von 1974, dessen Sonnengitter aus ineinander verschränkten, rechteckigen Zellen in eine sanfte Kurve gebogen ist, was der wuchtigen Betonkonstruktion einen überraschenden Schwung verleiht. Tagsüber eine Augenweide für Interessierte der Architekturgeschichte, bietet das inzwischen privatisierte Hotel nachts allerdings einen ganz anderen, radikal gegenwärtigen Anblick: Über die gesamte Front angebrachte LED-Röhren verwandeln es im Dunkeln in einen brutalistischen Curved TV mit Abmessungen von 78 mal 38 Metern, der grelle Lightshows, wechselnde Werbeinhalte oder die flatternde Nationalflagge zeigt.
Ein experimentelles Wohngebäude mit dem Namen »Schemtschug« (russisch für »Perle«), dessen Bau erst 1985 abgeschlossen wurde, geht in seiner Wiederaufnahme regionaler baulicher Traditionen noch weiter als die vorigen Beispiele und zeigt, dass sich das städtebauliche Diktum »national in der Form, kommunistisch im Inhalt« in der Praxis nicht auf Fassadengestaltung beschränken musste. Es übersetzt das Konzept der usbekischen Mahalla – einer lokalen Selbstverwaltungseinheit, bei der Wohnhäuser um einen öffentlichen Platz herum organisiert sind – in ein 16-stöckiges Hochhaus, in das alle drei Etagen ein zehn Meter hoher, sonnengeschützter Innenhof eingezogen ist, von dem sämtliche Wohnungseingänge ausgehen.
Bis in die 2000er Jahre sollen diese Höfe belebte Orte gewesen sein, wo Kinder spielten, gemeinsam das National-Reisgericht Plov gekocht wurde und man Geburtstage und Hochzeiten feierte. Heute ist davon nichts mehr zu spüren: Einladend ist allein, dass die Haustüren offen stehen – aber im Treppenhaus riecht es beißend nach Formalin und die Innenhöfe wirken wie ausgestorben.
In einem Museum zu wohnen klingt wie ein oft gehegter Kindheitstraum. Seine Verwirklichung kann aber auch alptraumhafte Züge haben – zumal, wenn die Exponate über Jahrzehnte nicht richtig gepflegt, sondern systematisch dem Verfall anheim gegeben werden, wie es den baulichen Zeugnissen des seismischen Modernismus in Taschkent spätestens seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion widerfährt. Anstatt sich der Instandsetzung des alten Wohnungsbestands anzunehmen, erlebt Taschkent in den letzten Jahren einen neuen Bauboom. Doch während die Menschen damals wussten, dass es ihre Wohnungen waren, die da gebaut wurden, antwortet man heute, auf die im Bau befindlichen Quartiere angesprochen: »Keine Ahnung, für wen die sein sollen.«
Mag das offizielle sowjetische Narrativ der Freundschaft der Völker auch ideologisch überzeichnet gewesen sein, so ist doch genügend Wahres dran am solidarischen Wiederaufbau, dass die Menschen vor Ort ihn auch heute noch überwiegend in guter Erinnerung haben – lange nachdem das auf die Pflege dieses Narrativs angewiesene Gemeinwesen untergegangen ist und ein Staat an seine Stelle trat, der den Begriff der Völkerfreundschaft durch eine Betonung nationaler Unabhängigkeit ersetzt hat.
Taschkent wurde auf eine Art gerettet, wie wir sie heute nur von der Rettung von Banken kennen, nicht aber im Umgang mit den Menschen, mit denen wir vermeintlich solidarisch in Staatenbünden organisiert sind: Die Usbekische Sowjetrepublik bekam den Wiederaufbau ihrer Hauptstadt von der Union »geschenkt«. Die »Rettung« Griechenlands im Nachgang der Finanzkrise hingegen machte die Bevölkerung des Landes zum ökonomischen und moralischen Schuldner der EU. Der Neubau eines demokratischen Sozialismus im 21. Jahrhundert wird auf einiges verzichten können, was mit dem Staatssozialismus vergangener Tage in Trümmern liegt – auf den Anspruch einer Freundschaft der Völker aber sicherlich nicht.
Thomas Zimmermann ist Print Editor bei JACOBIN.