06. April 2023
Ryuichi Sakamoto hat mit seiner Musik den Soundtrack für den neoliberalen Konsumboom der 1980er geliefert. Im Alter fand er zum Aktivismus und der Experimentierfreude seiner frühen Jahre zurück. Ein Nachruf.
Ryuichi Sakamoto in London, 05. Januar 2006.
IMAGO / ZUMA Press»Meine Vorstellung von Musik basiert nicht auf der alltäglichen Zeit«, sagt Ryuichi Sakamoto am Anfang des Dokumentarfilms Tokyo Melody (1984). »In Japan, wo Musik allgegenwärtig ist, existiert eine gewissermaßen universelle Zeit auf der gleichen Grundlage wie die alltägliche Zeit.«
Die dialektischen Implikationen dieser Aussage weisen in zwei Richtungen. Die Musik ist in der »universellen Zeit« angesiedelt, steht dem Alltäglichen und dem »Populären« aber gleichzeitig nahe. Sie unterscheidet sich von der alltäglichen Zeit und ist in einer ästhetischen und spirituellen Zeitlichkeit beheimatet, kann aber nirgendwo anders leben.
Sakamoto legt damit nahe, dass eine wirklich alltägliche und »populäre« Musik – die erst entstehen konnte, nachdem der Zweite Weltkrieg und die nukleare Katastrophe dem Land die Moderne aufzwangen – zwangsläufig bizarr und unirdisch sein würde; dass sie auf eine Existenz jenseits der vorherrschenden sozialen Konformität verweisen würde, die ein Jahrhundert lang Gegenstand der japanischen Kunst gewesen war. Ob als Solokünstler, als Mitglied der Popgruppe Yellow Magic Orchestra (YMO) oder als Förderer des J-Pop – Sakamotos Assemblagen verbanden musikalische Stile und Traditionen auf harmonische als auch kontrastreiche Weise. Niemand vereinte westlichen Pop und klassische Musik, die ungewöhnlichsten Fragmente elektronischer Musik der Nachkriegszeit und eine große Bandbreite dessen, was später als »Weltmusik« bezeichnet werden sollte, mit mehr Selbstvertrauen und Einfallsreichtum; Sakamoto bezog sich auf einzigartige Weise auf die verschiedenen Epochen der Avantgarde und der populären Musik. Sein Charisma, das er selbst häufig verleugnete, erlaubte es ihm, sich mit Leichtigkeit zwischen Kunst, Pop und Mainstream zu bewegen.
Zur Zeit von Tokyo Melody war Sakamoto bereits einer der größten Stars in Japan. Er trat als bescheidener, minimalistischer Dandy auf, der seine Gesichtszüge, wie auf dem Cover seines Soloalbums Left Handed Dream von 1981, mit abstraktem, pastellfarbenem Make-up betonte. Mit YMO war er häufig im japanischen Fernsehen zu Gast. Nachdem er bereits mehrere Top-10-Alben veröffentlicht hatte, war er neben David Bowie und dem exzentrischen Komiker Takeshi Kitano in Nagisa Ōshimas Kriegsfilm Merry Christmas, Mr. Lawrence zu sehen.
Sakamoto wurde 1952 in eine bürgerliche Familie hineingeboren und schon früh als Wunderkind in den Fächern Klavier und Komposition am Nationalkonservatorium aufgenommen. Eigenen Aussagen zufolge komponierte er sein erstes Stück im Alter von vier Jahren. Sein musikalischer Geschmack war breit gefächert und klassenlos. Er interessierte sich für japanischen Jazz, westlichen Pop, die schwülstige Spätromantik von Maurice Ravel und Modest Mussorgski, traditionelle afrikanische und ostasiatische Musik und das elektronische Werk von John Cage und Karlheinz Stockhausen. Besondere Bewunderung hegte er für Claude Debussy, der – von der indonesischen Tradition des Gamelan inspiriert – die tonale Musik des 19. Jahrhunderts in komplexe, mehrdeutige Harmonien aufgelöste hatte, in denen chromatische Akkorde und Klangfarben frei umherschwebten. Für David Toop, der Sakamoto kannte und mit ihm zusammenarbeitete, war Debussy der zentrale Ankerpunkt einer neuen Perspektive innerhalb der Musik des 20. Jahrhunderts, die jegliche Vorstellung nationaler »Authentizität« negierte und die die Musik durch neue Techniken und Praktiken zu einem unabgeschlossenen, unreinen Objekt werden ließ. Sakamoto führte diesen Ansatz auf Alben wie Beauty, Neo Geo und Sweet Revenge, auf denen er mit namhaften Vertretern der Weltmusik kollaborierte, zu seinem etwas absurden Ende
Am Anfang der 1980er Jahre war Japan der Ort, an dem die Zukunft zuerst eintraf. Aufgrund der besonderen geopolitischen Position, die Japan in der Nachkriegszeit einnahm – ein ehemaliges Kaiserreich, das durch den Zweiten Weltkrieg untergegangen war und mit amerikanischen Investitionen wieder aufgebaut und als Bollwerk gegen die Ausbreitung des Kommunismus in Ostasien gefördert wurde –, war dort eine eigensinnige Gesellschaft entstanden, die es in den liberalen, kapitalistischen und sozialdemokratischen Staaten Europas so nicht gab. Im »Wirtschaftswunderland« Japan, wo extreme soziale Ungleichheit vorherrschte, formierte sich sowohl eine der weltweit größten kommunistischen Parteien als auch eine mächtige sozialistische Partei, die jedoch beide aufgrund einer 1955 gebildeten konservativen parlamentarischen Koalition kaum Einfluss auf die Politik nehmen konnten. Japans militante Studentenbewegung der späten 1960er Jahre hatte währenddessen völlig mit der alten Linken gebrochen und war einer geradezu mörderischen Repression ausgesetzt.
Diese Gemengelage führte zu tiefen sozialen Spaltungen und Brüchen, die durch einen starken Traditionalismus und hochwertige Konsumgüter notdürftig gekittet wurden. Ein extremer gesellschaftlicher und rassistischer Konservatismus entfaltete sich neben ungehemmtem Konsum, der in Gestalt der Produkte von Sony, Nintendo und Roland einer neuen, immateriellen Lebenswelt den Weg bereitete.
Die japanische Popmusik erlebte zu dieser Zeit eine explosive, kreative Blüte. Eine neue Form von romantischem Vokal-Pop entstand, der aus den Ressourcen des Jazz-Fusion schöpfte, während gleichzeitig ein zunehmend nüchterner elektronischer Minimalismus die Design-Showrooms erfüllte. Sakamoto hatte diese ästhetischen Widersprüche – orchestraler Sirup und brutalistischer Hightech, präzise Ruhe und emotionale Leidenschaft, die hermetische Lokalität Japans und die globalen Einflüsse, deren Zentrum das Land nun war – wie kaum ein anderer Musiker erfasst und in ihren Extremen zueinander geführt. Die Musik, die er zwischen den Jahren 1978 und 1986 erschuf, ist nicht nur ein Spiegel dieser Welt, sondern verlieh ihrem ästhetischen Potenzial auch eine Form.
Während Sakamoto als Studiomusiker und Arrangeur arbeitete, lernte er Haruomi Hosono und Yukihiro Takahashi kennen, mit denen er gemeinsam die Novelty-Disco-Band YMO gründete. Hosono spielte bereits in der Psychedelic-Rock-Band Happy End und Takahashi war Schlagzeuger bei der Sadistic Mika Band – beide waren also bereits Veteranen in der Musikbranche. Ihre frühen Aufnahmen waren – ähnlich wie die ihrer Beinahe-Zeitgenossen von Devo aus den USA – ein perfektes Abbild der Kultur, die auf die Desillusionierung mit den Idealen der 1960er Jahre folgte: flirrende, zynische Parodien des Japans der Nachkriegszeit, die orientalistischen Kitsch und vulgären Konsum zu einem markanten Klanggewitter überhöhten.
In grellen Overalls und gelegentlich einer Mao-Mütze bekleidet, blendete Sakamoto seinem Publikum Blitzlicht entgegen wie ein stereotyper japanischer Tourist. (Takahashi arbeitet nebenher als Modedesigner, war mit dem Avantgarde-Designer Yohji Yamamoto befreundet und prägte Sakamotos Stil). In einer Zeit, in der der Synthesizer im Pop noch als Novum – oder antimusikalische Bedrohung – galt, katapultierten YMO ihre kompromisslosen, ausgefallenen und ausschweifenden Kompositionen mit bemerkenswert eingängigen Melodien an die Spitze der Charts. Der Song »Firecracker« von 1978, eine Coverversion von Martin Dennys exotischem Easy-Listening-Track aus dem Jahr 1959, war ein unmissverständliches Statement: ein Klangbild eines imaginären Japans, das mit exzessiven Keyboard-Melodien und plumpen Bässen dahinplätschert. »Computer Game«, das ein Jahr später veröffentlicht wurde, war von der Klangwelt früher Arcade-Games inspiriert und erzeugte daraus einen abstrakten Strudel aus Piep- und Alarmtönen, der an manchen Stellen zu Funk-Fragmenten verschmilzt – diese andere imaginäre Welt, sollte in den kommenden Jahren vom Cyberpunk erkundet werden.
Im Laufe der folgenden sechs Alben, die allesamt in den japanischen Top 5 landeten, entwickelte sich YMO zu einer schillernden Popband, zu deren Repertoire jedoch auch bizarre Mansai-Skizzen [Anm. d. Ü.: japanische Form der Comedy] und gewagte Samples gehörten. Die Band ist zudem für ihre Pionierarbeit im Einsatz von Synthesizern (vor allem der Roland 808 Drum Machine) bekannt, die später den elektronischen Dance dominieren sollten.
Als YMO gegründet wurde, arbeitete Sakamoto bereits an seinem Solodebüt The Thousand Knives of Ryuichi Sakamoto (1978). Die Soloalben, die er bis zu Futurista aus dem Jahr 1986 produziert hatte, zählen zu den bedeutsamsten Pop-Werken des vergangenen Jahrhunderts: Jedes einzelne Album bietet mehr neue Impulse, die mit höchster technischer Raffinesse und formaler Komplexität umgesetzt werden, als sich im gesamten Werk vieler Musikerinnen und Musiker finden lassen. Bruchstücke aus entlegenen Klangwelten dieser Zeit werden gleichsam den aufeinanderprallenden, abstrakten Formen eines suprematistischen Gemäldes aufeinander geschmettert. Diese Art von Experimentierfreude – in der Form und der Textur – wurden selten mit einer derart vollendeten und detailverliebten Aufmerksamkeit für die Charakteristika klassischer Songstruktur verbunden. Auf Thousand Knives verbinden sich elektronische Simulationen des Dschungels, gekünstelter kybernetischer Folk, massive elektronische Funk-Jams und greller japanischer Gagaku [Anm. d. Ü.: höfische oder zeremonielle japanische Musik] zu einer wilden Collage. Mit dem Album B-2 Unit (1980), das Sakamoto mit der Dub-Legende Dennis Bovell aufnahm, tastete er sich weiter an den Minimalismus und verfremdete elektronische Konstellationen heran.
»Participation Mystique« schmettert Gitarren- und Sprachfragmente auf bebende Synthesizer; »Riot In Lagos« ist ein synthetischer Funk-Track, der vom hypnotischen Afrobeat von Fela Kuti inspiriert ist und zu einem kybernetischen Geflecht erwächst; Instrumental-Stücke wie »E3A« und »The End of Europe« sind Vertonungen der imaginativen Räume von Tokio und New York und von ähnlichem Kaliber wie Debussys von der Nordsee animierte Sinfonie »La Mer«. Neben der Musik von Kraftwerk und Parliament-Funkadelic bildete »Riot« die Keimzelle der Drum Machines der schwarzen Musik, die den Pop der vergangenen vierzig Jahre dominierte: Die Verbindung von schwarzem Futurismus, rhythmischer Demokratie und digitaler Technologie, die mit Afrika Bambaataas »Planet Rock« enstanden war, wurde auf der anderen Seite der Welt erträumt.
In dieser Musik wird die Realität des globale Neoliberalismus – die Welt des schnellen Konsums, der digitalen Immaterialität, die augenblickliche Verfügbarkeit der kulturellen Produkte ganzer Kontinente – destilliert, dekonstruiert und zu kontrastreicher, präziser Popmusik geformt. Schemenhafte Hologramme einer technokratischen Zukunft, die diasporische Existenz des Funk und Reggae und die mythische Aura der japanischen Vergangenheit, die der Faschismus verehrt und zerstört hatte, werden zu einem markanten Geflecht verwoben.
Selbst eher nebensächliche Werke aus dieser Zeit, wie seine Kollaboration mit Thomas Dolby aus dem Jahr 1985 oder seine Beiträge zu David Sylvians Brilliant Trees und Akiko Yanos explosives J-Pop-Album Tadaima! zeugen von seinem Gespür für Kontraste und Spannungen, struktureller Strenge, technologischer Brillanz und sphärischer Schönheit. Merry Christmas, Mr. Lawrence, das ihm außerhalb Japans künstlerische Anerkennung einbrachte, ist ein einnehmendes Werk, dessen Radikalität oft unterschätzt wird.
Sakamotos Filmmusik – imposante, mitreißende Motive, die zwischen synthetischen Orchesterklängen Schlagzeug- und Holzblasinstrumente aus der japanischen klassischen Musik nachahmen – und das Setting im Zweiten Weltkrieg signalisieren zunächst, dass man es hier mit durchschnittlicher Sonntagnachmittags-Fernsehunterhaltung zu tun hat, während man tatsächlich mit schonungslosen Betrachtungen über Fatalismus, Ehre und Homosexualität inmitten des Horrors des japanischen Pazifikkriegs konfrontiert wird. Das alles wird von den Auftritten zweier charismatischer, aber filmisch unerfahrener Popstars zusammengehalten. Der Soundtrack ist beinahe zu schön – artifiziell, überreif, ironisch. Sakamoto selbst kritisierte diese »Sentimentalität«, überarbeitete das Hauptmotiv des Soundtracks bei seinen Live-Konzerten jedoch immer wieder
In den 1990er Jahren rutschte seine Musik eher in den Kitsch ab: Er produzierte ausladende und schwülstige Alben, vertonte seelenlose Prestige-Projekte und komponierte uninspirierte Film-Soundtracks. Doch die späten 1990er und 00er Jahre waren für Sakamoto eine Ära kreativer Erneuerung – und das in einem Alter, in dem viele Musikerinnen und Musiker dem ermattenden Effekt des Erfolgs erliegen. Seine Kollaboration mit dem deutschen Produzenten Carsten Nicolai und dem österreichischen Gitarristen Christian Fennesz transportierte sein melodisches Talent in die Sphäre des digitalen Minimalismus, der von Labels wie Raster-Noton und Mego kultiviert wurde.
Dieser musikalische Einfluss war auf seinem 2017 erschienenen Album async vernehmbar, das er aufgenommen hatte, als er sich von seiner ersten Kehlkopfkrebserkrankung erholte. In Stephen Nomura Schibles Dokumentarfilm Ryuichi Sakamoto: Coda (2018) kann man ihm dabei zusehen, wie er mit einem über den Kopf gestülpten Eimer versucht, den Klang des Regens aufzunehmen, wie er mit zerbrochenem Metall in einem Wald im Bundesstaat New York hantiert und diese Geräusche zu einer Hommage an die Soundtracks von Andrei Tarkowski verdichtet, in denen gläserne Synthesizer-Drones und Bach-Fragmente mit dem Klang von Wind und Wasser verwoben wurden.
Als die japanische Anti-Atomkraft-Bewegung nach der Katastrophe von Fukushima 2011 wieder aktiv wurde, fand auch Sakamoto zu seinem umweltpolitischen Engagement zurück. Er sprach bei Protesten und besuchte die Sperrzone um das Kernkraftwerk: In Coda hält er die bedrückende Atmosphäre der verlassenen Städte fest und betrachtet die verstrahlte und von Wasser durchtränkte Natur. In einem Interview von 1998 spricht er über seine kurze Zeit als Linksradikaler bei der Zengakuren [Anm. d. Ü.: 1948 gegründete, mitgliederstarke, marxistische Studentenorganisation]. Er sei »nicht hundertprozentiger Marxist« gewesen, aber »irgendwie schon«. Er hatte sich immer als unpolitisch positioniert: »Ich möchte mit meiner Musik keine eindeutigen Botschaften übermitteln.«
Dennoch hat die brillante Fülle seines Werkes verdeutlicht, welche Freiheiten und Sehnsüchte der Neoliberalismus verunmöglicht hatte. Sakamoto führte ein in vielerlei Hinsicht beneidenswertes Leben: Seit jungen Jahren konnte er das tun, woran er Freude fand, und er war damit ungeheuer erfolgreich. Dass er in späten Jahren die Beziehung zwischen Kunst und Politik wieder für sich entdeckte, bedeutet nicht, dass diese Komponente seinem Werk zuvor gefehlt hatte, sondern dass sie lediglich unter seiner Opulenz verborgen lag.
Dan Barrow ist Autor und lebt in Birmingham. Er hat unter anderem für »Wire«, »Sight and Sound« und die »LA Review of Books« geschrieben.