18. Januar 2023
Die Orbán-Regierung in Ungarn und die Meloni-Regierung in Italien vertreten einen europäischen Neoliberalismus – und keine Alternative dazu.
Viktor Orbán auf der Conservative Political Action Conference, Texas, 4. August 2022.
IMAGO / Pacific Press AgencyAm 15. September 2022 beschloss das Europäische Parlament, den EU-Staat Ungarn fortan als »Wahlautokratie« zu bezeichnen, also nicht mehr als echte Demokratie. Fast 80 Prozent der Abgeordneten stimmten einer Entschließung zu, in der die rechte Regierung von Viktor Orbán für ihre »vorsätzlichen und systematischen Bestrebungen«, alle Einschränkungen ihrer Macht zu beseitigen, kritisiert wird. Im Text wird auf Vetternwirtschaft, Verstöße gegen die Unabhängigkeit der Medien und der Justiz sowie fortgesetzte Angriffe auf die Rechte von Migrantinnen und Migranten sowie LGBT-Personen verwiesen.
Die in dem Dokument aufgeführten Bewertungen basieren auf verschiedenen demokratischen Standards: So habe der ungarische Staat nicht nur keine fairen Wahlverfahren gewährleistet, sondern auch liberale und egalitäre Konzepte von Staatsbürgerschaft untergraben. Konservative Orbán-Fans wiesen umgehend darauf hin, dass letzteres ausschlaggebend für das EU-Parlament gewesen sei. Der Journalist Rod Dreher las daraus auch eine Botschaft an die US-amerikanische Rechte heraus: »Wenn Wahlen zu Ergebnissen führen, die den Eliten nicht gefallen, werden sie für undemokratisch erklärt – und diejenigen, die sich für die Gewinnerseite eingesetzt haben, werden von Washington und den Tech- und Finanzeliten als ›Bedrohung der Demokratie‹ betrachtet.«
Die Vorstellung eines Kampfes gegen Tech- und Finanzeliten ist zur einer tragenden Säule der politischen Rechten geworden, die selbst von Milliardäre wie Donald Trump ins Feld geführt wird. Eine der wenigen Parteien, die die EU-Entschließung zu Ungarn ablehnten, war Giorgia Melonis Fratelli d’Italia, eine Partei mit neofaschistischen Ursprüngen, die seit langem enge Beziehungen zu Budapest unterhält. Zum Zeitpunkt der Abstimmung im EU-Parlament war Melonis Rechtskoalition auf gutem Weg, eine Mehrheit der Sitze bei den italienischen Parlamentswahlen am 25. September zu erringen. Viele Medien reagierten daher mit Verwunderung auf das Wahlverhalten ihrer Partei im EU-Parlament und ihre Verteidigung Viktor Orbáns. Warum schlugen sich Meloni und ihre Partei ideologisch auf die Seite von einem unpopulären Regierungsoberhaupt eines eher kleinen Akteurs in der EU-Politik anstatt das eigene »nationale Interesse« zu betonen oder wahltaktisches Kalkül mitzuberücksichtigen?
Hintergrund dieser Medienreaktionen ist die Annahme, Meloni würde damit ihren Versuchen schaden, sich im politischen Mainstream zu etablieren. Einen Großteil des Wahlkampfes hatte sie dafür genutzt, immer wieder zu betonen, dass sie die Wirtschafts- und Außenpolitik der scheidenden Regierung unter dem Ex-Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, fortsetzen würde. Das vorherige italienische Kabinett unter Leitung des Technokraten Draghi hatte alle großen Parteien von der linken Mitte bis zur extremen Rechten vereint, mit Ausnahme der Fratelli d’Italia.
Daraus ergibt sich allerdings ein Paradox. Als wichtigste Oppositionskraft trat Meloni mit dem Versprechen an, die (wie sie es nennt) ewige »linke Hegemonie« zu brechen. Damit verwies sie auf die sozialdemokratische Partito Democratico, die zuvor eine Reihe von technokratischen Regierungskoalitionen gestützt hatte. Die Fratelli d’Italia wurden 2012 in Opposition zu einer früheren »Regierung der nationalen Einheit« gegründet, die Draghi ebenfalls mit ins Amt gehoben hatte. In den letzten achtzehn Monaten vor der Wahl konnten die Fratelli mit ihrer Haltung die unzufriedenen Wählerinnen und Wähler anderer rechter Parteien für sich gewinnen. Schließlich hatten sich diese Parteien Draghis letzter Regierung angeschlossen. Melonis Versprechen, in Zukunft wirklich das Volk entscheiden zu lassen, ging jedoch einher mit der Beteuerung, gewisse Kontinuitäten fortzuführen. Es gibt offensichtlich Politikbereiche, die von demokratischen Abstimmungen nicht berührt werden.
Italien ist sowohl von der Einwohnerzahl als auch vom BIP her weitaus größer und gewichtiger als Ungarn. Darüber hinaus war es ein Gründungsmitglied der EU und der Eurozone. Aufgrund jahrzehntelanger Austerität und geringer öffentlicher Investitionen ist Italien jedoch auch das am höchsten verschuldete EU-Mitgliedsland.
Italien, die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone, hat daher ein viel größeres Destabilisierungspotenzial als Ungarn. Das politische Modell, das in Italien nach dem Wahlsieg von Meloni und ihren rechten Verbündeten verfolgt werden soll, deutet jedoch nicht auf einen Austritt aus der EU oder einen Angriff auf die Mächtigen hin. Wir sollten es vielmehr als »Techno-Souveränimus« verstehen, schreibt Gilles Gressani in Le Monde: »Eine Synthese aus einem technokratischen Ansatz einerseits, in dem der bisherige geopolitische Rahmen in Form von NATO und EU akzeptiert und weitergeführt wird; und andererseits dem Beharren auf extrem konservativen Werten und neo-nationalistischen Konzepten.«
Das führt uns zur identitär aufgeladenen Warnung, die sich hinter dem vermeintlichen »Angriff auf die Tech- und Finanzeliten« verbirg. Denn tatsächlich halten die Fratelli d’Italia nicht nur an den Grundpfeilern der neoliberalen Wirtschaft fest, sondern versprechen sogar, Dogmen wie die Ausgaben- und Defizitgrenzen des Europäischen Fiskalpakts zu respektieren, die auf dem Höhepunkt der Staatsschuldenkrise 2012 eingeführt wurden. Gressanis Artikel weist auf genau diesen Widerspruch in Melonis »Mainstreaming«-Strategie hin: Die von ihr angeführte Rechte nimmt diese strikten Grenzen für ihr Handeln hin und beschuldigt gleichzeitig diverse innenpolitische Gegner (die »LGBT-Lobby«, zivile Seerettung, vermeintliche Kommunistinnen und Kommunisten), die nationale Identität zu zerstören.
Während ihrer Rede auf der CPAC (Conservative Political Action Conference) in Orlando, Florida, im Februar betonte Meloni genau dieses Thema: Sie weigere sich, »Teil von deren Mainstreams« zu sein, innerhalb dessen, die »Rechte an der kurzen Leine« gehalten würde. Letztendlich könne man nur »rebellisch sein, wenn man wirklich konservativ ist«.
Dieser Mix aus Positionen ist nicht wirklich neu. Bereits in den 1990er Jahren ließ die postfaschistische Partei Alleanza Nazionale als Teil der Regierung von Silvio Berlusconi ihre vorherigen wohlfahrtstaatlichen Prinzipien weitgehend fallen. Der Rechtsextremismus-Forscher Herbert Kitschelt sprach damals von einer »Erfolgsformel« aus freier Marktwirtschaft und nationalistischem Nativismus.
Der Neoliberalismus der vergangenen vier Jahrzehnte hat immer wieder staatliche Eingriffe zur Neuordnung der Arbeitsmärkte und der Investitionen erfordert. Doch insbesondere durch die Finanzkrise und die Pandemie sind diese Elemente jetzt in den Vordergrund gerückt. Die Rechte entwickelte daraus einen »national-ideologischen« Rahmen gegen die Effekte der Globalisierung.
In einer Rede auf einer Konferenz der Fratelli d’Italia im April erklärte Berlusconis ehemaliger Finanzminister Giulio Tremonti beispielsweise den Tod der »globalistischen« Illusionen und des Traums einer »Internationalen Republik des Geldes«. Im Folgenden plädierte er für eine nationale Re-Industrialisierungspolitik auf der Grundlage von Steuererleichterungen für Unternehmen, die in Umstrukturierungen investieren.
Es lässt sich darüber streiten, ob »Souveränismus« nach wie vor die angemessene Beschreibung für eine solche Politik ist – insbesondere, wenn man von einer »Volkssouveränität« oder einer souveränen Bürgerschaft sprechen will. Wie der Politikwissenschaftler Daniele Albertazzi festhält, hat Meloni faktisch eingestanden, dass es unmöglich ist, Italien gegen die Finanzmärkte oder gegen den Willen der (nicht gewählten) Europäischen Kommission zu regieren. Ihre Politik setzt deswegen ausdrücklich auf einen langfristig stärker national ausgerichteten Kapitalismus, inklusive einer Abkopplung der europäischen Volkswirtschaften von russischer Energie und chinesischer Produktion. Wie realistisch und umsetzbar das ist, mag zweifelhaft sein. Viel wichtiger ist jedoch, dass die grundlegende Stoßrichtung dieser Politik nach innen gerichtet ist: Sie zielt eindeutig darauf ab, Einkommen von Arbeitslosen oder Migranten und zu den »Produzenten« umzuverteilen. Meloni betont, dass gerade exportorientierte Unternehmen unter dem jahrzehntelangen Rückgang der öffentlichen Investitionen und dem Kostendruck durch die europäische Einheitswährung leiden – und verspricht Hilfe in Form von Steuersenkungen.
Die EU ist kein Bollwerk gegen und auch nicht inkompatibel mit Nationalismus. Vielmehr verstärkt sie ihn, indem der Wettbewerb unter den einzelnen Staaten angeheizt wird. Das lässt sich gerade in Ungarn gut beobachten: Das Land ist inzwischen ein beliebter Produktionsort der deutschen Autoindustrie. Gleichzeitig verspricht Orbán dadurch den ungarischen Arbeiterinnen und Arbeitern, dass er sie vor der Konkurrenz aus dem Ausland beschütze.
Wenn das Kapital grundsätzlich ein Interesse an einem stabilen Rechtsstaat und dem Weiterbestehen der EU-Institutionen hat, dann waren Orbáns bisherige Schritte offenbar noch nicht alarmierend genug, um eben jenes Kapital zum Abzug aus Ungarn zu bewegen. Jetzt ist Italien an der Reihe: Das Land wird künftig von einer rechtsextremen Regierung geführt, die verspricht, das »nationale Interesse« gegen die »Globalisten und Kommunisten« zu verteidigen, »die unsere Zivilisation zerstören wollen«. Den Plänen der Fratelli d’Italia stehen dabei große Herausforderungen entgegen, nicht zuletzt die Energiekrise und die Wirtschaftskrise. Wenn die Partei ihre Agenda umsetzen kann, wird sie dies in jedem Fall im Fahrwasser des europäischen Neoliberalismus tun, nicht außerhalb davon.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).