15. September 2020
Eine neue literarische Generation junger Konservativer ist verzückt vom Untergang. Vor allem von ihrem eigenen.
Bei Tellkamp ist es ein Mord, bei Strauß sind es die Todsünden. Coming of Age, nur eben von rechts gedacht.
Ein junger Philosoph streift durch die Straßen einer Großstadt, um ihn herum strömen gestaltlose Massen aus dunklen U-Bahn-Tunneln. Die schwitzenden Körper auf dem Weg zur Arbeit ekeln ihn an. In »schwarzer Kluft« geht er aufrecht, lässt sich nicht anrempeln von den beschleunigten Büromenschen, deren Lebenssinn sich in Kleinfamilie, Kleinwagen und Eigentumswohnung erschöpft. Er ist ein Partisan des Wortes, der anders denken, anders leben möchte. Nur anhören möchte ihn niemand.
Szenenwechsel. Eine andere Großstadt, ein paar Jahre später. Wieder ein einsamer junger Mann, der an dem geordneten Leben leidet, das ihn stets mit einer »warmen Heizung«, Bio-Essen und allen Chancen versehen hat. Altbauwohnung, Freundin und »Birchermüsli« – das kann es doch nicht gewesen sein? Er stürzt sich in die Gesetzlosigkeit der Nacht, sucht dort nach Intensität, nach Leben. Doch fündig wird er nicht.
Die Geschichten der beiden Männer sorgten für Furore, sie stammen aus Uwe Tellkamps im Jahr 2005 erschienenem zweiten Roman Der Eisvogel und Simon Strauß’ 2017 veröffentlichtem Debüt Sieben Nächte. Beide Romane sind radikal, sie gehen aufs Ganze und rechnen scharf mit den Nebenfolgen des liberalen Fortschritts ab.
Der Protagonist in Tellkamps Roman ist der gescheiterte Philosoph Wiggo, der von seinem Vater, einem profithungrigen Bankier, sowie von Frauen weitestgehend missachtet wird. Um das Leben mit Sinnhaftigkeit zu untermauern – »alle hinterfragen, aber niemand hat den Mut zu einer Antwort, und was wir brauchen, heute mehr denn je, ist genau dies: eine Antwort«, sagt Wiggo – schließt er sich dem rechten Geheimbund »Wiedergeburt« an und lernt dort den Rechtsterroristen Mauritz kennen. Ihm imponiert zunächst die radikale Unbedingtheit, zu spät erkennt er das mörderische Potenzial des »weißen Terrors« (Klaus Theweleit) und sieht sich zuletzt gezwungen, Mauritz zu erschießen.
»In sieben Nächten begeht er die sieben Todsünden.«
Bei Strauß ist es nicht die Deklassierung, die den Protagonisten S. gegen die liberale Moderne rebellieren lässt, sondern der vorgezeichnete Lebensweg seiner privilegierten mittelständischen Existenz. Er hat »Angst vor dem Ende des freien Lebens, vor Festanstellung, Rentenversicherung, Spa-Wochenenden im Mai«. Da ihm die »Gefahr« und der »Kampf« abhandengekommen sind, begibt er sich auf die Suche nach ihnen: In sieben Nächten begeht er die sieben Todsünden.
Beide Romane sind mit alarmierendem Impetus geschrieben, um die Wirklichkeit zu erschüttern, um die Leserinnen und Leser aus ihrer wohlstandsträgen Lähmung zu reißen. In pathetischem Ton verkünden sie ihre Manifeste. Die Stimmen einer neuen, engagierten Literatur? Vielleicht. Allerdings rührt die Kritik, die sie in ihr fiktionales Gewand kleiden, nicht von links, sondern von rechts her. Damit stellen sich die beiden Autoren in eine bis heute gut gepflegte Traditionslinie rechtskonservativer Kulturkritik, die wohl erstmals mit Oswald Spenglers unheilverkündendem Werk Der Untergang des Abendlandes zur vollen Blüte kam, das wenige Wochen vor dem Ende des Ersten Weltkriegs erschien und sogleich ein Bestseller wurde.
Verfallsszenarien und Untergangsromantik haben meist dann Konjunktur, wenn der soziale Wandel gnadenlos über die Menschen hinweg galoppiert. Kurzum, in Krisenzeiten werden die Schattenseiten der kapitalistischen Moderne sichtbar. Mit der Jahrhundertwende um 1900 versiegte die Fortschrittsgewissheit, die Zumutungen der Industrialisierung waren unübersehbar, sie schmälerten den Glauben an den vernunftgesteuerten Progress der Geschichte. Gegen die seelenlose Maschinerie der demokratischen Zivilisation, die die Gesellschaftsmitglieder nach instrumentellen Nützlichkeitskriterien anordnen würde, wurde von rechtskonservativer Seite eine nationale Kultur beschworen, die den lebendigen Volkskörper, ja, die innere Seelenlandschaft des deutschen Gemeinwesens retten sollte.
Die antimoderne Bewegung schöpfte ihre Kraft aus affektiv aufgeladenen Gegensätzen, für sie war das Politische ein ewiger Antagonismus von Freund und Feind, der in liberalen Gesellschaften neutralisiert zu werden drohte. Geistesmenschen wie Ernst Jünger, Carl Schmitt oder der schon erwähnte Oswald Spengler sprachen so, als ob sie erst kürzlich dem Schützengraben entstiegen wären: Sie beriefen sich mit heroischem Pathos auf ihre jugendliche Männlichkeit, einen Kult der Tat und eine Haltung der Unerbittlichkeit. Sie bereiteten so ein geistiges Klima vor, das den Faschismus möglich werden ließ.
Gegenwartsautorinnen und -autoren wie Simon Strauß oder Uwe Tellkamp schreiben sich in diese Tradition rechtskonservativer Kulturkritik ein. Sie beschwören ebenfalls eine Zeit des Übergangs herauf, die Bilder und Zeichen sind in ihren Romanen in Unruhe begriffen. Der Strom des Fortschritts, der mal als Beschleunigung, mal als Erschlaffung erfahren wird, droht die jungen Protagonisten zu überrollen. Beide Romane bemühen Bilder und Affekte, die begriffslos überzeugen wollen: Die jungen Männer befinden sich in der Erzählwelt an der Schwelle zum Erwachsenwerden, doch das Hineinwachsen in die von ihnen verachtete Gesellschaft bereitet ihnen Angst. Angst, sich zu entfremden. Angst, ihre kompromisslose Haltung aufgeben zu müssen. Angst, die eigene Männlichkeit einzubüßen.
Das Leben stellt sie vor eine existenzielle Probe – Untergang oder Wiedergeburt. Bei Tellkamp ist es ein Mord, bei Strauß sind es die Todsünden. Coming of Age, nur eben von rechts gedacht. Ernst Jünger sprach von einem »Heroischen Realismus«, der sich aus der Erkenntnis speist, dass das Leben ein aussichtsloser Kampf mit dem Tod ist. Stärke beweist der, der sein Schicksal annimmt. Der pathetische Ernst, in dem beide Romane formuliert sind, verdankt sich dem Widerstand ihrer Autoren gegen die Vielstimmigkeit und Beliebigkeit moderner Gesellschaften. Dass nichts festgelegt ist, dass das vielfältige Nebeneinander unterschiedlichster Existenzweisen im postmodernen Denken gar zu einem Ideal erhoben wurde, wird von den beiden jungen Männern in den Romanen als eine das individuelle Leben reglementierende Norm hinterfragt. Sie wollen keine falsche Wahlfreiheit, keine faulen Kompromisse, sie wollen eine Entscheidung – hier und jetzt. Was in der Politik in einen autoritären Dezisionismus mündet, schlägt sich in den Fiktionen als Stilllegung schillernder Mehrdeutigkeiten nieder. Es geht dabei um die Erzeugung unbezweifelbarer Gewissheiten, die Alternativen unbenennbar machen. Dies hat wenig mit literarischem Realismus zu tun, der die soziale Realität in ihren widersprüchlichen Verstrickungen und Verzweigungen abbilden möchte – und noch weniger mit Gesellschaftskritik.
Schreiben ist den jungen Konservativen der Gegenwart mehr eine Haltung. Sie inszenieren sich als randständige Denkerinnen und Denker, die heroisch auf »verlorenem Posten« (Ernst Jünger) ausharren. Wer spricht heute noch von aristokratischen Geheimbünden? Lobt ständisch gegliederte Gesellschaften? Wünscht sich den Macker zurück? Sie wirken merkwürdig aus der Welt gefallen – und markieren gerade dadurch ihre intellektuelle Distanz zur kapitalistischen Wirklichkeit. Ihr kultiviertes Außenseitertum dient der Legitimation ihrer rücksichtslosen Weltdeutung. Nicht zufällig heißt die Schriftenreihe des Dresdner Buchhauses Loschwitz von Susanne Dagen, in der Autorinnen und Autoren wie Monika Maron oder Uwe Tellkamp veröffentlichen, »Exil«. Nicht gehört zu werden, gilt nicht länger als Makel, sondern wird in ein Schicksal umgedeutet, zu dem man sich bewusst bekennt.
Das provokante Schreiben der jungen konservativen Generation wirkt wie ein tragischer Versuch, sich das Gehör einer Gesellschaft zu verschaffen, die sie doch eigentlich verachtet. Die Radikalität ihrer Sprache formuliert ein Unbehagen in einer demokratischen Kultur, die deren Intellektuellen ihre privilegierte Position streitig machen möchte. Es sind Romane des Untergangs, die hier geschrieben werden, doch nicht des Abendlandes, sondern der sich aristokratisch gebenden Geisteselite.