04. Dezember 2025
Die italienische Stadt Terni, die sich heute als »Stadt des Heiligen Valentin« vermarktet, war einst »das italienische Manchester« und Hochburg der Sozialisten. Doch dann verlernten die Linken die Love Language der Arbeiterklasse.

»Stefano Bandecchis Amtszeit steht für einen Mentalitätswandel in einer Stadt, die einst stolz auf die herausragende Stellung ihrer Arbeiterklasse war.«
Terni in der zentralitalienischen Region Umbrien ist im Valentinstagsfieber. Kaum ist die Weihnachtsdekoration verschwunden, finden sich herzförmige Lichtinstallationen auf der Piazza Tacito. Sie stellen die Kulisse für die große Feierei im Februar: das zehntägige Schokoladen-Festival »Cioccolentino« wird flankiert vom »Versprechensfest«, bei dem ein Bischof verlobte Paare segnet. Auf den Palazzo Spada aus dem 16. Jahrhundert werden die englischen Worte »Terni in Love« projiziert.
Die Stadtführung von Terni bemüht sich seit einigen Jahren verstärkt darum, Einnahmen aus dem Tourismus zu generieren. Dabei baut sie auf den berühmten Sankt Valentin, der im dritten Jahrhundert hier geboren wurde und am 14. Februar den Märtyrertod starb. Die Feste und historischen Nachstellungen in Terni sind allerdings keine alte Tradition. Tatsächlich begannen die Bemühungen, den berühmtesten Sohn der Stadt zu vermarkten, erst in den 1990er Jahren. Die Basilika mag seit längerer Zeit die Überreste des Heiligen Valentin bewahren, doch die Marke »Stadt der Liebe« hat eine andere, prägende Identität der Stadt bisher nicht komplett abgelöst.
Denn seit dem 19. Jahrhundert war Terni eine Stahlarbeiterstadt und trug den Spitznamen »italienisches Manchester«. Die meisten Arbeitsplätze standen in irgendeiner Weise mit der Stahlindustrie in Verbindung. Recht weit entfernt vom industriell starken Norden Italiens zog Terni Migranten aus den umliegenden Regionen an, die auch die frühe Arbeiterbewegung der Stadt mitbegründeten. Im Jahr 1920, vor der Machtübernahme der Faschisten, erreichten die Sozialisten hier einen Stimmenanteil von 73 Prozent. Während der beiden Weltkriege war die Stahlproduktion in Terni eng mit dem nationalen Rüstungssektor verflochten. Die Stadt wurde als linke »Arbeiterstadt« bekannt.
»Luigi Trastulli, ein 21-jähriger Stahlarbeiter, der bei einer Demonstration getötet wurde, stellte als lokaler Volksheld selbst Sankt Valentin in den Schatten.«
Der in Terni geborene Alessandro Portelli befasst sich mit »oral history«: Für seine Studien stützt er sich auf hunderte Interviews mit relativ unbekannten Personen, um zu verstehen, wie ein kollektives historisches Gedächtnis entsteht. In seiner »Biografie« der Stadt Terni aus dem Jahr 1985 untersuchte er, wie in der jahrtausendelang besiedelten Region eine Arbeiteridentität entstand. Seine Arbeit erzählt Geschichten wie die von Luigi Trastulli, einem 21-jährigen Stahlarbeiter, der bei einer Demonstration getötet wurde und als lokaler Volksheld selbst Sankt Valentin in den Schatten stellte.
In The Death of Luigi Trastulli and Other Stories schildern Portellis Interviewpartner auf bewegende Weise, wie Trastulli 1953 bei Zusammenstößen mit der Polizei während eines hart geführten Streiks gegen Entlassungen in der Stahlindustrie ums Leben kam. Dabei starb Trastulli faktisch nicht dort und damals, sondern 1949 bei einer Demonstration gegen den Beitritt Italiens zur NATO. Es scheint geradezu so, als würde in der allgemeinen Erinnerung sein Tod besser in eine Geschichte passen, in der die Arbeiterklasse von Terni ihre Existenzweise verteidigt.
Heute scheint diese Erinnerung an die linke Stahlarbeiterstadt allerdings zu verblassen: Portellis neustes Buch Dal rosso al nero (»Von rot zu schwarz«) handelt von einer jüngeren Entwicklung, dem »Rechtsruck einer Arbeiterstadt«, wie es im Untertitel des Buches heißt. Schon bei den Kommunalwahlen 2018 bekam die Lega in Terni die meisten Stimmen und konnte damit zum ersten Mal eine größere Stadt außerhalb ihrer Hochburgen in Norditalien für sich gewinnen. Bis 1990 waren die Kommunisten mit Abstand die stärkste Kraft gewesen, heute sind sie kaum noch präsent. Wie kam es dazu, dass sich die Arbeiterstadt von der Linken abwandte?
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David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).