25. Juli 2023
CDU-Chef Friedrich Merz bereitet seine Partei auf ein Rechtsbündnis mit der AfD vor. Dass er seine Aussagen zur Kooperation auf kommunaler Ebene schleunigst wieder zurücknahm, ist Teil der Strategie.
Friedrich Merz weiß, was er tut.
IMAGO / dts NachrichtenagenturFriedrich Merz braucht die AfD. Nicht unbedingt hier und heute. Doch wenn der CDU-Chef seine Agenda umsetzen will – zu zerstören, was vom Sozialstaat in Deutschland übrig ist und das Land nach marktradikalen Prinzipen umzugestalten –, so ist er mittelfristig auf eine Rechtsregierung unter Beteiligung oder zumindest Tolerierung der AfD angewiesen. Und er weiß es.
Es wäre deshalb mehr als naiv, die Aussagen von Merz über eine mögliche Kooperation der CDU mit der AfD auf lokaler Ebene – die er über Nacht revidierte – als Ausrutscher aufzufassen. Es stimmt, dass Kommunalpolitik unter anderen Prämissen stattfindet als Landes- oder Bundespolitik. Doch erstens müsste eine Partei, die es mit der Abgrenzung nach rechts ernst meint, die Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen auch auf dieser Ebene konsequent verweigern. Und zweitens wird dieses Argument von Merz’ Anhängerschaft ohnehin nur vorgeschoben.
Merz’ Statement war keine Reflexion über die Dilemmata der praktischen Lokalpolitik in Landesteilen, wo die AfD inzwischen eine beängstigende gesellschaftliche Präsenz erlangt hat – übrigens nicht nur in Ostdeutschland. Es handelte sich dabei vielmehr um einen klassischen Testballon, der die Temperatur in Partei und Öffentlichkeit messen soll. Solche Aussagen erodieren Stück für Stück das Tabu einer Zusammenarbeit mit den Rechtsextremen, selbst wenn die Dementis umgehend folgen. Merz und sein Team verfolgen diese Strategie ganz bewusst.
Es ist offensichtlich, dass die Versuchung, mit der AfD zu kooperieren, für weite Teile der CDU und CSU inzwischen fast unwiderstehlich geworden ist. Gleichzeitig zeigt die Aufregung in der übrigen Partei, die Merz’ Aussage hervorgerufen hat, dass man im Konrad-Adenauer-Haus sehr wohl um die Risiken einer möglichen Zusammenarbeit weiß.
Aktuell genießt das rechte politische Lager in Deutschland solide Mehrheiten in Umfragen – durch den Höhenflug der AfD, aber auch die relative Stärke der CDU. Doch die Parlamentswahlen in Spanien vom Sonntag zeigen beispielhaft: Sobald eine Koalition zwischen Konservativen und Rechtsextremen im Raum steht, kann die Angst davor viele Wählerinnen und Wähler an die Urnen treiben, selbst wenn manche unter ihnen nur wenig Enthusiasmus für die Alternative links der Mitte aufbringen können.
Nachwahlbefragungen zufolge war »Angst« der größte motivierende Faktor für die Menschen, die in Spanien für das linke Lager stimmten – Angst davor, die Partido Popular (PP) und die rechtsextreme Vox könnten eine Koalitionsregierung bilden. Dass dies für viele Spanierinnen und Spanier eine Horrorvorstellung bleibt, sorgte für eine hinreichend starke Wahlbeteiligung, um dieses Szenario zu vereiteln. Am Ende gewann das rechte Lager durch das starke Abschneiden der PP zwar 2,5 Millionen Stimmen hinzu, doch das linke Lager mobilisierte ebenfalls eine Millionen Wählerinnen und Wähler mehr als 2019 und verhinderte damit eine rechte Mehrheit.
»Öffnet sie sich für eine Rechtskoalition, könnten Wählerinnen und Wähler aus der Mittelschicht massenhaft zu anderen liberalen Parteien wechseln.«
Die CDU hat also handfeste Gründe, die »Brandmauer« zumindest rhetorisch aufrechtzuerhalten. Die rechtsliberale VVD in den Niederlanden steckt aktuell in einem ähnlichen Dilemma: Öffnet sie sich für eine Rechtskoalition, könnten Wählerinnen und Wähler aus der Mittelschicht massenhaft zu anderen liberalen Parteien wechseln. Gleichzeitig versucht sie, anderen Rechtsparteien Stimmen abzujagen – was aber voraussetzt, dass sie eine solche Koalition für möglich erklärt.
Ebenso wie die VVD verspürt die CDU politischen Druck in beide Richtungen. Merz inhaltliche Präferenzen und politische Instinkte tendieren klar in Richtung einer Kooperation mit der AfD. Doch auch er weiß um die politischen Risiken und die enormen Widerstände in Teilen seiner Partei. Bis weit ins liberale und bürgerlich-konservative Lager hinein ist die Ablehnung gegenüber der AfD aufrichtige Überzeugung.
Noch hält die »Brandmauer« also – auch weil FDP und Union sich in dieser Angelegenheit bisher zumindest auf Bundesebene gegenseitig disziplinieren. Dies wirft die Frage auf, wie sich sozialistische Linke zu ihr verhalten sollte.
Einerseits kauft ihr der cordon sanitaire, den alle anderen Parteien noch um die AfD gespannt halten, dringend benötigte Zeit. Wenn er erst einmal reißt, wie etwa in Österreich oder Italien schon vor Jahrzehnten geschehen, kann sich die extreme Rechte oft über lange Zeiträume an der Macht halten; Faschistinnen und Faschisten gelangen an entscheidende Positionen im Staatsapparat und erringen in vielen Fällen eine weitreichende gesellschaftliche Deutungshoheit.
Dennoch tappt die sozialistische Linke in eine Falle, wenn sie sich rhetorisch in eine breite »antifaschistische Volksfront« einreihen lässt, die in Deutschland auch bürgerlich-liberale Formationen wie die Grünen und die FDP umfassen würde. Natürlich wird es auf Ebene der Alltagspolitik mitunter notwendig sein, mit ihnen zusammenzuarbeiten, um gegen die Rechte anzukämpfen, sowie um fortschrittliche gesellschaftspolitische Ziele zu erreichen. Doch nichts würde der extremen Rechten mehr in die Hände spielen, als eine Linke, die sich vom liberalen Zentrum ununterscheidbar macht.
Es gibt nur eine einzige realistische Strategie, die AfD dauerhaft von der Macht fernzuhalten: Die Zeit, die uns die Brandmauer kauft, dafür zu nutzen, die Basis für eine linke Klassenpolitik aufzubauen, die der Rechten zuverlässig Mehrheiten verweigern kann. Auf das politische Zentrum ist in dieser Frage kein Verlass. Eine sozialistische Linke muss sich als dritten politischen Pol verstehen, der sich in scharfer inhaltlicher Abgrenzung sowohl zu liberalen Kräften als auch zur Rechten definiert – im Verständnis, dass mit ersteren, aber nicht mit letzteren, eine Grundlage für Zusammenarbeit in Einzelfragen existiert.
»Ein permanentes ›antifaschistisches‹ Bündnis mit den bürgerlichen Parteien, die letztlich eine ähnliche Sozial- und Wirtschaftspolitik vertreten wie die Rechten, ist für die Linke widersinnig.«
Sowohl die historische als auch die jüngere politische Erfahrung sollten uns lehren, dass der Faschismus nicht verschwindet, wenn sich ihm eine starke, klassenpolitisch orientierte Linke entgegenstellt. Weder in Spanien, noch in Portugal, Brasilien, Kolumbien oder Bolivien löste sich die extreme Rechte aufgrund der Existenz eines tragfähigen Linksprojekts einfach auf. Sie wurde im Gegenteil lauter, radikaler, gewalttätiger und gefährlicher. Dennoch hat die Linke – unter sehr unterschiedlichen Umständen, in sehr verschiedenen Koalitionen und mit sehr divergenten Strategien – in diesen Ländern geschafft, was den Liberalen immer seltener gelingt: Die extreme Rechte an der Wahlurne zu schlagen.
Die tiefere Ursache für den Aufstieg der extremen Rechten ist überall die gleiche: Bestimmte Kapitalfraktionen und -interessen machen sich ein reaktionäres politisches Projekt zu eigen, weil ihre meist eigentlich bevorzugten politischen Vehikel – liberale und konservative bürgerliche Parteien – nicht mehr in der Lage sind, ihre Anliegen effektiv durchzusetzen. Auch deshalb wäre ein permanentes »antifaschistisches« Bündnis mit diesen bürgerlichen Parteien, die letztlich eine ähnliche Sozial- und Wirtschaftspolitik vertreten wie die Rechten, für die Linke widersinnig.
Wir sollten daher nicht annehmen, dass konservative Parteien dauerhaft der Versuchung widerstehen können, mit der extremen Rechten zu kooperieren. Wenn Friedrich Merz die Brandmauer nicht durchbricht, wird sicherlich jemand seiner Nachfolgerinnen und Nachfolger diesen Schritt wagen. Ebenso wenig sollten wir uns der Illusion hingeben, man könne die Rechte durch solide Klassenpolitik wieder zur Bedeutungslosigkeit verdammen. Die sozialistische Linke scheint dazu gegenwärtig ebenfalls nicht in der Lage zu sein. Doch anders als das liberale Zentrum können wir der großen Mehrheit der Gesellschaft potenziell ein materiell und kulturell attraktives Angebot machen, dass die Rechte dauerhaft von der Macht im Staat fernhält.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.