29. Juni 2024
Die Jugend radikalisiert sich nach rechts und nicht nach links. Einige suchen die Ursache dafür bei Social-Media-Plattformen wie TikTok. Aber TikTok allein kann diese Entwicklung nicht erklären.
»TikTok ist nicht die Wurzel des gesellschaftlichen Rechts-Trends.«
TikTok galt jahrelang als Tanzvideo-Plattform. Zum Kippen gebracht hat dieses Bild mittlerweile die AfD, deren Content sich weniger harmlos gestaltet. Bezogen auf die deutsche Parteienlandschaft schafft es der rechte Rand besonders gut, die Logik der Kurzvideo-Plattform zu bedienen. Seit Jahren ist die AfD die erfolgreichste Partei der Bundesrepublik auf der App.
Zu den beliebtesten Accounts aus dem Parteiumfeld gehören etwa jener der Bundestagsfraktion und der von Ulrich Siegmund, Landtagsabgeordneter in Sachsen-Anhalt. Beide kommen auf jeweils über 400.000 Follower. Damit übersteigen sie die Reichweite anderer deutscher Politiker-Accounts um Längen. Ihr enormer Erfolg auf der Kurzvideo-Plattform beflügelt mittlerweile Spekulationen darüber, ob ihre zunehmende Beliebtheit bei jungen Menschen auf ihre Präsenz auf der App zurückzuführen sei. So vermutet etwa die Tagesschau einen »Zusammenhang mit dem großen Erfolg der Partei auf TikTok«.
Bezug genommen wird dabei auf einen Bericht von ZDF heute über den Erfolg der Rechten auf der Plattform. Dort kam Politikberater Johannes Hillje zu Wort, der eine Untersuchung über die rechte Partei auf der Plattform durchgeführt hat. Seine Schlussfolgerung: Die TikTok-Reichweite der AfD ist ihr Schlüssel zur jungen Wählerschaft. Auch das WDR-Format Monitor ging aus diesem Anlass kürzlich der Frage nach, ob TikTok – eine Plattform in der Hand des chinesischen Staates – zur Gefahr für die Demokratie zu werden.
»Die Annahme, TikTok sei für den Aufstieg der Rechten verantwortlich, beinhaltet einen fatalen Fehler.«
Dieses Bild sehen Teile der Öffentlichkeit nun durch die Europawahl bestätigt. Den enormen Stimmenzuwachs bei 16- bis 24-Jährigen bringt der MDR mit der mangelnden »Präsenz von SPD, Grünen & Co. auf dem Leitmedium der Jugend, TikTok« in Verbindung. Nach »Einschätzung von Experten« habe die Plattform »maßgeblich zum Ergebnis der Europawahl beigetragen«.
Die Annahme, TikTok sei für den Aufstieg der Rechten verantwortlich, beinhaltet einen fatalen Fehler. Es ist richtig, dass sowohl die AfD als auch die App bei einer jungen Zielgruppe äußerst beliebt sind. Dass politische Kommunikation über TikTok und die Vielzahl der anderen möglichen Kanäle für den Erfolg einer Partei unerlässlich ist, steht ebenso außer Frage. Jedoch handelt es sich bei der App nicht um die Ursache für das Erstarken der AfD.
Eine deutlich aussagekräftigere Beobachtung über das soziale Netzwerk lautet: Die Infrastruktur von TikTok sorgt dafür, dass ein sensibler und sich ständig anpassender Algorithmus besonders gut gesellschaftliche Stimmungen aufgreifen kann. Warum das so ist, erklärt eine genauere Betrachtung zweier Mechanismen.
Erstens ist die Plattform darauf ausgelegt, dass eigener Content möglichst leicht hochgeladen werden kann. Alle Werkzeuge, die dafür nötig sind, befinden sich innerhalb der App. Die Schwelle an Trends zu partizipieren und zu aktuellen Themen beizutragen, wird so möglichst gering gehalten. TikToks zeichnen sich häufig – wobei Ausnahmen die Regel bestätigen – durch eine gewollt niedrige Qualität in der Produktion aus, wodurch ihre Replizierbarkeit noch mehr erhöht wird. Grundlegende Funktionen, wie die Nutzung von viralen Sounds, Stitching und Duetting, bei denen es sich um verschiedene Möglichkeiten der Zusammenführung von eigenem und fremdem Content handelt, animieren dazu, an bestehende Inhalte anzuknüpfen und tun damit ihr Übriges.
»So wurde deutlich, dass, anders als im Feed von Instagram oder Facebook, nur eine geringe Rolle spielt, welchen Accounts man folgt.«
Der zweite Faktor, der der rechten Partei in die Karten spielt, ist die Logik der Content-Vorschläge. Zentral für den Erfolg der Kurzvideo-Plattform, die bezüglich Reichweite (noch) hinter Facebook, Instagram, YouTube und WhatsApp zurückbleibt, ist ihre algorithmisch kuratierte For-You-Page, die im Mittelpunkt der Nutzungserfahrung steht. Auf dieser strukturiert ein intransparenter Algorithmus, der sich in Echtzeit an die Präferenzen der User anpasst, was sie zu sehen bekommen. Seine exakte Funktionsweise ist nicht bekannt, verschiedene Untersuchungen konnten jedoch in Vergangenheit grundlegende Mechanismen offenlegen.
So wurde deutlich, dass, anders als im Feed von Instagram oder Facebook, nur eine geringe Rolle spielt, welchen Accounts man folgt. Zudem funktionieren nicht nur klassisch affizierende Inhalte also solche, die eine Reaktion in Form von Likes, Kommentaren oder Weiterleitungen hervorrufen, auf der For-You-Page besonders gut. Bereits das vollständige Schauen eines TikToks, das »Nicht-Weiterscrollen«, gibt Anlass dazu, dass sich der Content, der in der Folge gezeigt wird, an das individuelle Nutzungsverhalten anpasst. So können Inhalte, die einen gesellschaftlichen Nerv treffen, innerhalb des sozialen Netzwerks in kürzester Zeit viral gehen.
»Eher kommt hier zum Vorschein, wie die Staaten, in denen die jeweiligen Betreiber ansässig sind, in der medialen und politischen Öffentlichkeit bewertet werden. «
Auch der AfD-Spitzenkandidat für die Europawahl, Maximilian Krah, machte sich diesen Effekt erfolgreich zunutze. Seine Videos beginnen beispielsweise mit »Die Bundesregierung hasst dich. Sie will dir das wegnehmen, was du erarbeitet hast« oder »Unsere Vorfahren waren keine Verbrecher. Wir haben allen Grund, stolz auf unser Land zu sein« und können so eine hohe Reichweite erzielen. Verweilt man auf solchen Inhalten, finden ähnliche TikToks, also solche aus dem AfD-Umfeld oder von Krah selbst, unmittelbar Einzug in die persönliche For-You-Page. Mittlerweile wurde er aber wegen Verstößen gegen die Community-Richtlinien von TikTok selbst in seiner Reichweite gedrosselt.
Dass die genaue Funktionsweise des Algorithmus nicht offengelegt wird, ist kein TikTok-spezifisches Phänomen. Stattdessen handelt es sich dabei um ein generelles Charakteristikum sozialer Netzwerke. In der Social-Media-Forschung werden die häufig geäußerten Spekulationen über die Systematik von Content-Vorschlägen deshalb als »algorithmische Folklore« bezeichnet.
Diese kursierte einst primär unter Influencern, hat sich jedoch inzwischen ihren Weg bis in den Medienbetrieb und die Politik gebahnt. So verglich der thüringische Verfassungsschutzpräsident Stephan Kramer TikTok kürzlich mit einem Trojaner. »China«, das er als Betreiber der App versteht, steuere, was die User zu sehen bekommen. Die App sei dazu in der Lage, auf Adressbuch und Tastatureingaben des Smartphones zuzugreifen und daraufhin neue Videos zu empfehlen. Nur kann das nicht nur TikTok, sondern jede App, die die entsprechende Berechtigung besitzt – also auch gängige soziale Medien.
Nachgeahmt wird das Konzept der Plattform mittlerweile sowohl von YouTube Shorts als auch von Instagram Reels. Beide funktionieren nach dem beinahe gleichen Schema, ziehen aber in der medialen Öffentlichkeit deutlich weniger Kritik auf sich. Wodurch sich TikTok vor allem von den beiden abhebt, ist, dass es sich beim Betreiber ByteDance um einen chinesischen statt, wie bei Alphabet und Meta, um einen US-amerikanischen Konzern handelt. Dass diskutiert wird, China mache sich auf TikTok zu Unrecht unsere Daten zu eigen, aber nicht die USA auf Instagram und Co., hat wenig mit der Infrastruktur der Plattformen zu tun. Eher kommt hier zum Vorschein, wie die Staaten, in denen die jeweiligen Betreiber ansässig sind, in der medialen und politischen Öffentlichkeit bewertet werden.
»Aller Folklore zum Trotz handelt es sich bei der grundlegenden Logik sowohl von TikTok als auch dem Großteil des kommerziellen Internets um die der Marktwirtschaft.«
Unbestritten ist, dass auf TikTok eine fragwürdige Zensurpolitik zum Einsatz kommt. Allerdings werden auf Instagram inzwischen auch in Deutschland standardmäßig politische Inhalte eingeschränkt. Meta steht aufgrund des Löschens pro-palästinensischer Inhalte immer wieder in der Kritik. Es ist unklar, wie viel Einfluss die Kommunistische Partei auf ByteDance hat, ob Daten an die chinesische Regierung weitergegeben werden und, falls zutreffend, welche genau. Dass auch andere Regierungen in puncto Datenschutz nicht zimperlich sind, verdeutlichten in der Vergangenheit vor allem Enthüllungen von Whistle-Blowern wie Edward Snowden. 2023 verhängte die EU eine Strafe von 1,2 Milliarden Dollar gegen Meta. Der Grund: Die Weitergabe von Nutzerdaten an die US-Regierung.
Die Abneigung gegen China äußert sich etwa in den USA nicht nur durch die Erhöhung von Importzöllen. Sie zeigt sich auch in Form des angestrebten Ausschluss der Videoplattform aus US-amerikanischen App-Stores, der landläufig unter dem Schlagwort »TikTok ban« diskutiert wird. Hierzulande droht zwar noch kein Verbot, Politiker und Medienschaffende überbieten sich trotzdem an haltlosen Spekulationen und Schreckensszenarien bezüglich der Plattform.
Aller Folklore zum Trotz handelt es sich bei der grundlegenden Logik sowohl von TikTok als auch dem Großteil des kommerziellen Internets um die der Marktwirtschaft. TikTok ist das Produkt eines profitorientierten Unternehmens. Da die App kostenlos heruntergeladen werden kann, generiert der Betreiber seinen Umsatz hauptsächlich durch den Verkauf von Werbeflächen auf der Plattform. Um deren Wert zu steigern, muss die Aufmerksamkeit der User möglichst lang gebunden werden.
TikTok ist nicht die Wurzel des gesellschaftlichen Rechts-Trends. Stattdessen bietet die App durch eine Mischung aus algorithmischen Logiken, simplem Content und leichter Nachahmbarkeit die perfekte Plattform-Infrastruktur dafür, rechte Inhalte sichtbar zu machen. Selbstverständlich können durch die massenhafte Verbreitung politischer Botschaften, vor allem im Vorfeld einer Wahl, bis zu einem gewissen Grad politische Tendenzen verstärkt werden – aber eben nur bis zu einem gewissen Grad.
Käme dieser Gedanke als Grundlage für die öffentliche Debatte über die Plattform zur Geltung, hätten wir einen deutlich sinnvolleren Diskurs. Es gibt wenig Anhaltspunkte dafür, dass bei der Diskussion um TikTok und die AfD so heiß gegessen wie gekocht wird. Wie Sebastian Friedrich und Nils Schniederjann im Freitag feststellen, handelt es sich bei der Social-Media-Präsenz der Rechten um ein Kriterium von vielen, die zu ihrem Erfolg beitragen. Trotzdem suggerieren Politikberater wie Hillje, es handele sich um einen wesentlichen Faktor.
Mit der App haben Teile der deutschen Öffentlichkeit einen Sündenbock gefunden, den man für den Erfolg der AfD verantwortlich machen kann. Das steht exemplarisch für eine Politik, die die wahren Gründe für den Aufstieg der Rechten verleugnet. Einblick in ihre Denkmuster gab kürzlich wahrscheinlich ungewollt offen Christian Lindner: Mit Studien konfrontiert, die besagen, der Erfolg der rechten Partei resultiere aus der Kürzungspolitik während einer Rezession, tat er kund, schlicht nicht an diese zu glauben (hier im Reel-Format zu begutachten).
Wenn die Fakten im Diskurs nicht mehr zählen, wird so lange Folklore betrieben, bis eine App als Grund für den Aufstieg der AfD angeführt werden kann. Rechte Denkmuster können aber nur auf fruchtbaren Boden fallen, wenn das gesellschaftliche Klima dafür bereits geschaffen ist. Stattdessen eine Social-Media-Plattform in die Verantwortung zu nehmen, spricht ihr zu viel Gewicht zu. So wird verschleiert, was die Grundlage für politische Veränderung ist: Organisierung und Strukturaufbau sowie eine Politik zum Wohl des Großteils der Gesellschaft, die faschistischen Bestrebungen den Nährboden entzieht.
Lea Klingberg ist Medienwissenschaftlerin und Personalrätin an der Universität Bonn. Sie forscht und lehrt im Bereich marxistischer und kritischer Medientheorie.