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29. Juli 2025

TikTok-Beschäftigte zeigen, wie man sich gegen einen Tech-Giganten behauptet

In Berlin will TikTok massenhaft Mitarbeitende durch eine KI ersetzen – sollte der Konzern Erfolg haben, wird es Nachahmer geben. Doch die Beschäftigten wehren sich mit dem weltweit ersten Streik bei einem Social-Media-Konzern.

TikTok-Mitarbeitende bei der Rally vor dem Arbeitsgericht in Berlin, 28. Juli 2025.

TikTok-Mitarbeitende bei der Rally vor dem Arbeitsgericht in Berlin, 28. Juli 2025.

Astrid Zimmermann

TikTok hat eine Massenentlassung angekündigt – maßgeblich ausgelöst durch den Einsatz von KI. Es ist die erste Massenentlassung dieser Art. Rund 160 der 400 Berliner Mitarbeitenden des Social-Media-Konzerns sind ihren Job los. Viele von ihnen stehen nun vor dem Arbeitsgericht in Berlin.

Die meisten von ihnen arbeiten in der Content-Moderation – »Trust and Safety«, also Vertrauen und Sicherheit, nennt sich die Abteilung bei TikTok. Es ist ein neu entstandenes Arbeitsfeld, das durch KI und Outsourcing schon wieder verschwinden soll. Wer hier arbeitet, sichtet Videos und sortiert das aus, was man den Nutzern der Plattformen nicht zumuten kann. Die psychische Belastung ist enorm. Schlafprobleme sind quasi eine »Berufskrankheit«, berichtet Sarah Tegge, die selbst als Content-Moderatorin arbeitet. Lange hält man das nicht durch, im Durchschnitt ist man nach drei, vier Jahren raus aus dem Job und kann nicht mehr, erzählt sie. 800 bis 1.000 Videos sichten Beschäftigte wie sie jeden Tag – heute allerdings nicht. Denn sie streiken.

Sie wehren sich dagegen, »wegwerfbar« zu sein. »Die KI macht ihren Job nicht«, sagt Tegge. Viele hier sind stolz auf ihre Arbeit, weil sie das Internet zu einem sichereren Ort machen. Und man merkt: Es liegt Wut in der Luft. Eine Kollegin, die anonym bleiben will, ist aus dem Ausland für diesen Job nach Berlin gekommen und hat ihre Familie zurückgelassen. Damit ist sie keine Ausnahme, berichtet Verhandlungsführerin Kathlen Eggerling von Verdi. Die Kolleginnen und Kollegen kommen aus aller Welt. Versprochen wurde ihnen ein spannendes neues Arbeitsfeld – es klang nach einer wirklichen Perspektive. Was ihnen der Konzern verschwiegen hat: Sie würden mit ihrer Arbeit jahrelang einen Algorithmus trainieren, dessen einzige Funktion darin besteht, sie jetzt so schnell und so billig wie möglich entlassen zu können.

Gerade weil so viele Beschäftigte aus dem Ausland für den Job nach Berlin gekommen sind, ist die Verlängerung der Kündigungsfrist auf 12 Monate, für die die Beschäftigten neben einer Entschädigungszahlung von drei Jahresgehältern kämpfen, so wichtig. Denn die Kündigung ist für viele ohne deutschen Pass in zweierlei Hinsicht existenzbedrohend: Sie verlieren nicht nur ihren Job, auch ihr Aufenthaltstitel steht auf dem Spiel.

TikTok zieht vor Gericht

Die Mitarbeitenden von TikTok wollen einen Sozialtarifvertrag, auch eine Tarifkommission gibt es bereits – aber der Konzern will nicht an den Verhandlungstisch. Parallel zieht er gegen den Betriebsrat vors Gericht. Deswegen stehen die Streikenden heute auch vor dem Arbeitsgericht. Verdi vermutet dahinter ein klares Kalkül: TikTok will die Kündigungen so schnell durchziehen, wie es nur geht.

Das Tech-Unternehmen hat im letzten Jahr enorme Gewinne gemacht. Offiziell werden die Entlassungen mit einem »Restructuring« begründet. Es werde einfach gesagt, das »sei halt nötig«, erzählt Mitarbeiterin Sarah Tegge. Doch welche Verbesserung diese Restrukturierung bringen soll, ist nicht nachvollziehbar. Der Fall in Berlin zeigt, was viele kritische Stimmen über die technologische Verdrängung menschlicher Arbeit schon lange sagen: Nur weil eine KI eine bestimmte Arbeit nicht so gut beherrscht wie eine menschliche Arbeitskraft, bedeutet das noch lange nicht, dass Unternehmen sie nicht dennoch einsetzen werden.

»Unternehmen werden das zentrale Versprechen von KI für sich nutzen: menschenleere Effizienz durch einen Algorithmus, der nie krank wird, nie streikt und auch noch den idealen Vorwand liefert, um Löhne zu drücken und Jobs zu verlagern.«

Denn das gleißende Versprechen von KI ist nicht zuletzt, dass sich Unternehmen durch ihren Einsatz zunehmend davon frei machen können, auf Menschen angewiesen zu sein, die Löhne einfordern, krank werden können oder eben in den Streik treten. Eine KI mag nicht das Kontextwissen und die Empathie haben, die nötig sind, um gewissenhaft Material auszusortieren, das so brutal oder verstörend ist, dass wir es alle nicht sehen wollen. Aber eine KI ist durchaus gut darin, die Lohnkosten zu senken und die Gewinne zu erhöhen. Und genau dazu wird KI eingesetzt.

Automatisieren und outsourcen

TikTok verfolgt eine zweigleisige Strategie: Ein Teil der Content-Moderation wird durch KI automatisiert und der automatisierungsresistente Rest wird an Drittanbieter ausgelagert, was für den Konzern um ein Vielfaches günstiger ist und ihn auch von der Verantwortung für diese Beschäftigten entledigt. Was TikTok in Deutschland vorhat, folgt einem bewährten Prinzip, bei dem Tech-Giganten Dienstleistungen in Länder mit niedrigeren Löhnen und geringerem Arbeitsschutz verlagern. In Kenia etwa kooperiert TikTok bereits mit dem Subunternehmen Teleperformance. Der Stundenlohn dort? 2 Euro.

Firmen wie Teleperformance sind Teil einer regelrechten Outsourcing-Industrie, die von dem Kostendruck von Tech-Giganten wie TikTok massiv profitiert. Sie expandieren in der Regel entweder dorthin, wo Arbeit billig ist, oder rekrutieren Bevölkerungsgruppen, die auf dem Arbeitsplatz weniger Optionen haben, migrantische Arbeitskräfte etwa. Gerade das macht die gewerkschaftliche Organisierung so schwierig.

»In Kenia kooperiert TikTok bereits mit dem Subunternehmen Teleperformance. Der Stundenlohn dort? 2 Euro.«

Und diese Outsourcing-Industrie wächst besonders stark im Bereich der Content Moderation, sagt Milagros Miceli. Sie ist Informatikerin und Soziologin und beobachtet in ihrer Arbeit die Auswirkungen von KI auf Arbeitsstandards. Auch in Deutschland sind solche Subunternehmer längst angekommen. Die kanadische Firma Telus, die inzwischen unter anderem Standorte in Leipzig, Essen und Dortmund hat, übernimmt bereits in großem Stil Content-Moderation für Meta, den Mutterkonzern von Facebook und Instagram.

Wie die Zukunftspläne von TikTok aussehen, wohin das Unternehmen die Berliner Stellen auslagern will, ist unklar. Der Konzern lässt sich nicht in die Karten gucken, so Verdi. Fest steht nur: Qualitätsverluste werden billigend in Kauf genommen.

»Die Branche schaut genau hin«

Im letzten Jahr hat es bereits eine Entlassungswelle gegeben, von heute auf morgen, sagt eine Mitarbeiterin. Bei vielen habe sich das Gefühl eingestellt: Mich könnte es hier als Nächstes treffen. Viele spürten zum ersten Mal, wie unsicher ihr Arbeitsplatz ist. Vor dieser Willkür des Unternehmens könne man sich am besten gewerkschaftlich schützen, deswegen sei sie eingetreten, erzählt sie, so wie viele ihrer Kolleginnen. Aber viele hätten dennoch Angst, sich dem Streik anzuschließen. Sie berichtet von Einschüchterungsversuchen durch die Personalabteilung, E-Mails mit Falschinformationen.

Ob das Ganze hier eine Art Testlabor ist, will ich von Verhandlungsführerin Kathlen Eggerling wissen. »Die Branche schaut genau hin«, sagt sie. Wie groß der Widerstand der Belegschaft ist und ob es am Ende funktioniert, dürfte nicht nur Auswirkungen auf die Beschäftigten hier haben. Denn sollte TikTok Erfolg haben, wird es Nachahmer geben.

Was hier in Berlin passiert, bietet einen Vorgeschmack auf das, was der gesamten Branche bevorsteht. Denn Unternehmen werden es sich nicht nehmen lassen, das zentrale Versprechen von KI für sich als Wettbewerbsvorteil zu nutzen: menschenleere Effizienz durch einen Algorithmus, der nie krank wird, nie streikt, wenig kostet und obendrein auch noch den idealen Vorwand liefert, um Löhne zu drücken, Jobs zu verlagern und Arbeitsstandards zu unterlaufen.

Die wirklichen Vorreiter in dieser Auseinandersetzung sind aber die Beschäftigten. Es ist keine Übertreibung zu sagen, dass dieser Streik bei TikTok historisch ist. Auch wenn immer mehr Gewerkschaften in der Tech-Branche Fuß fassen – einen solchen Streik bei einem Social-Media-Konzern gab es weltweit noch nie. Dass es in Berlin gelungen ist, dürfte auch daran liegen, dass die Belegschaft hier gut organisiert ist. Etwa 70 Prozent sind mittlerweile in der Gewerkschaft. Und so bietet der Fall in Berlin auch Hoffnung. Er zeigt: Auch gegen einen Konzern-Riesen wie TikTok kann man sich wehren. Doch es geht nur gemeinsam.

Astrid Zimmermann ist Managing Editor bei JACOBIN.