02. Oktober 2024
Ton Steine Scherben haben der 68er-Bewegung ihre Hymnen geschrieben. Entnervt von der Politszene zog die Band irgendwann aufs Land – und produzierte Eso-Musik.
»Musikalische Inspiration schöpfte die Band nun nicht mehr aus dem proletarischen Kampf, sondern aus Tarot-Karten.«
Ton Steine Scherben lieferten den Soundtrack der Studierendenrevolte der 1960er und 70er Jahre. Vergessen wird oft, dass die Anfänge der Band in der Lehrlingsbewegung liegen. Bevor die Band 1970 in Berlin-Kreuzberg entstand, hatten die Musiker gemeinsam als Begleitkapelle von agitatorischen Theatergruppen gespielt. Die meisten von ihnen hatten selbst eine Lehre absolviert oder abgebrochen. Zusammen mit Hoffmann’s Comic Teater – kreative Schreibweise beabsichtigt – tourten sie durch Jugendheime und thematisierten die Lage der proletarischen Jugendlichen.
Das Stück Rita und Paul etwa handelte vom unglücklich verliebten Jungarbeiter Paul, der vor Wut über die Springer-Medien seinen Fernseher zerstört. Musikalisch untermalt wurde diese Szene mit dem bis heute bekannten Song »Macht kaputt, was euch kaputt macht«. Zusammen mit ein paar Lehrlingen aus dem Publikum spaltete sich ein Teil von Hoffmann’s Comic Teater ab und gründete 1970 die Theatergruppe Rote Steine. »Wir waren die erste Gruppe, in der sich Lehrlinge und Jungarbeiter selbstständig gemacht haben, ohne sich von irgendwelchen Intellektuellen führen zu lassen«, erinnert sich der Trompeter der Band, Bernhard Käßner. Er gründete die Roten Steine und war später bei den Scherben »Mitglied in der zweiten Reihe«, wie er sagt.
Die Lehrlings- und Jugendzentrumsbewegung hatte von 1969 bis 1973 ihre Hochphase und politisierte die Lebensbedingungen proletarischer Jugendlicher: Zuhause musste man in beengten Verhältnissen den Eltern gehorchen, auf der Arbeit den Vorgesetzten, lange Haare bei Männern waren verboten, Freizeitvergnügen aufgrund niedriger Löhne unerschwinglich. »Ich persönlich habe auf dem Bau Betonbauer gelernt. Man musste oft Bier für die anderen holen oder die Baustelle ausfegen«, erinnert sich Käßner.
»Für die Jugendlichen war es, als wäre überall Summer of Love wie in San Francisco, nur bei ihnen nicht. Sie waren einfach nur billige Arbeitskräfte.«
So ging es etlichen Lehrlingen – Bierflasche und Besen wurden zum Symbol der Bewegung. Junge Frauen wurden häufig im Betrieb gemobbt oder sexuell belästigt. Zugleich war eine umfassende kulturelle Aufbruchsstimmung spürbar: »Für die Jugendlichen war es, als wäre überall Summer of Love wie in San Francisco, nur bei ihnen nicht. Sie waren einfach nur billige Arbeitskräfte. Der Antrieb für die Rebellion war dieser Widerspruch zwischen den Versprechungen und der tatsächlichen Lebensrealität«, blickt Schlagzeuger und Scherben-Gründer Wolfgang Seidel zurück.
Da es keine Freiräume zur Selbstverwirklichung gab, besetzten die Jugendlichen leerstehende Häuser und gründeten autonome Jugendzentren. Bis 1973 entstanden in der BRD 140 solcher Zentren, in denen viele Jugendliche Musik machten oder Zeitschriften produzierten und so ihre eigenen Freiräume schafften. Auch die Roten Steine lebten und arbeiteten in einem solchen Zentrum.
Nachdem die Begleitmusiker der Roten Steine 1970 erstmals unter dem Namen Ton Steine Scherben zwei ihrer Songs veröffentlicht hatten, traten sie immer öfter unabhängig von der Theatergruppe auf. Fester Teil des politischen Kampfes blieben sie. Rockmusik mit deutschen Texten hatte es vor Ton Steine Scherben kaum gegeben. Für viele Hörerinnen und Hörer machte dieser noch nie dagewesene Sound erfahrbar, dass eine andere Welt möglich ist, jenseits des bleiernen Nachkriegsdeutschlands mit seinen Altnazis. »Die ersten Songs waren noch Ergebnis der Gespräche im Lehrlingstheater, über Probleme zu Hause, auf der Arbeit, untereinander«, erinnert sich Seidel.
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Carlo Hoffmann ist Kulturjournalist und Radiomoderator.