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09. Oktober 2025

Trumps Friedensplan ist eine Blaupause für Unterwerfung

Der »Frieden«, den Trumps 20-Punkte-Plan verspricht, ist die Fortsetzung des Krieges mit ökonomischen Mitteln. Anstelle von Selbstbestimmung erhalten die Palästinenser technokratische Fremdverwaltung und das Recht auf Sicherheit gilt nur für Israel.

Donald Trump und Benjamin Netanjahu bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus am 29. September 2025.

Donald Trump und Benjamin Netanjahu bei einer Pressekonferenz im Weißen Haus am 29. September 2025.

IMAGO / ZUMA Press Wire

Am 6. Oktober 2025, einen Tag vor dem zweiten Jahrestag des Hamas-Angriffs auf Israel, begannen in Ägypten indirekte Gespräche zwischen der Hamas und Israel über einen neuen Friedensplan für den Gazastreifen. Grundlage der Verhandlungen ist der sogenannte 20-Punkte-Plan des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump. An den Gesprächen beteiligen sich Qatars Premierminister Sheikh Mohammed bin Abdul Rahman Al Thani und der Direktor des türkischen Nachrichtendienstes Ibrahim Kalin als Vermittler. Die israelische Delegation wird von Ron Dermer, dem Minister für Strategische Angelegenheiten und engen Vertrauten von Premierminister Benjamin Netanyahu, geleitet. Zudem sind Vertreter des Islamischen Dschihad und der Volksfront zur Befreiung Palästinas anwesend.

Während zahlreiche Staaten – darunter Australien, Kanada, China, Frankreich Großbritannien, Italien, Japan, Spanien wie auch Deutschland – die in Ägypten aufgenommenen Verhandlungen begrüßen und in ihnen eine historische Chance für Frieden im Nahen Osten sehen, ergibt sich bei einer genaueren Lektüre des 20-Punkte-Plans ein deutlich ambivalenteres Bild. Die Einstellung der Kriegshandlungen ist selbstverständlich zu begrüßen, da sie dem Töten in Gaza ein Ende setzt. Der Plan legt jedoch den Schwerpunkt weniger auf die strukturelle Lösung der Ursachen des Konflikts, sondern vor allem auf zwei Dimensionen: die ökonomische Entwicklung des Gazastreifens und die Sicherheitsinteressen Israels.

Unter dem Deckmantel von Wiederaufbau und Modernisierung wird Gaza in ein Regime ökonomischer Disziplinierung überführt. Die Bevölkerung soll durch Investitionen, Sonderwirtschaftszonen und Infrastrukturprogramme befriedet werden, während politische Ansprüche auf Selbstbestimmung, Souveränität und Gleichberechtigung marginalisiert bleiben.

Daher lässt sich der Plan als Ausdruck einer imperialen Ökonomie des Friedens lesen. Er versucht, das politische Konfliktfeld in marktförmige, verwertbare Strukturen zu übersetzen. Frieden soll durch Kapitalflüsse entstehen. Diese Form der Pazifizierung folgt der neoliberalen Logik, dass wirtschaftliche Entwicklung soziale und politische Stabilität erzeugen könne, während sie faktisch die bestehenden Macht- und Abhängigkeitsverhältnisse zementiert. Der Friedensplan wird zwar die physische Vernichtung des Gazastreifens aussetzen, aber die Bevormundung und Unterjochung der 2 Millionen Menschen, die dort leben, in neuen Strukturen fortsetzen.

Gazas neoliberale Kolonialisierung

Ein erstes zentrales Merkmal ist die Entpolitisierung und Technokratisierung der Herrschaft. Gaza soll durch ein »technocratic, apolitical Palestinian committee« regiert werden, eine Konstruktion, die der palästinensischen Gesellschaft jede politische Souveränität entzieht. An die Stelle von Selbstverwaltung tritt eine technokratische Fremdverwaltung, gesteuert von internationalen Akteuren wie Donald Trump oder Tony Blair, der hier nicht zufällig als Mitarchitekt auftritt.

Blair gilt seit seiner Rolle im Irakkrieg als einer der zentralen politischen Akteure bei der Etablierung einer modernen, neo-kolonialen, hegemonialen Außenpolitik westlicher Prägung im Nahen Osten. Ähnlich zeigte bereits der sogenannte »Deal in the Desert« von 2004 mit Libyen, wie Blair »Frieden« als ökonomisches Projekt verstand: Unter dem Vorwand politischer Öffnung wurde der libysche Energiesektor westlichen Konzernen geöffnet, ein Muster, das Stabilität mit Investitionssicherheit gleichsetzt und Souveränität ökonomischer Verwertbarkeit unterordnet.

Eng damit verbunden ist die Ökonomisierung des Friedens, die den Wiederaufbau, Investitionen und die Einrichtung einer »special economic zone« als Mittel der Stabilisierung propagiert. Konfliktlösung wird hier zur Frage von Kapitalflüssen, nicht von Rechten oder Gerechtigkeit. Der Plan suggeriert, dass Marktdisziplin und Entwicklungsökonomie Gewalt »neutralisieren« könnten, ein typisches Merkmal der neoliberalen Sicherheitsökonomie. Der 20-Punkte-Plan transformiert damit ein komplexes, historisch-politisches Konfliktverhältnis in ein ökonomisches Verwaltungsproblem, dessen Lösung in Infrastrukturprogrammen, ausländischen Kapitalflüssen und privatwirtschaftlichen Entwicklungsinitiativen gesucht wird. Illegale Besatzung, Annexion, Apartheid, Vertreibung und Völkermord werden nicht als strukturelle Ungerechtigkeiten begriffen, sondern als Hindernisse für Marktöffnung und Kapitalzirkulation.

»Gaza wird zu einer Sonderwirtschaftszone, in der die Bevölkerung nicht durch Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und politische Teilhabe, sondern durch wirtschaftliche Integration und Marktkonformität befriedet werden soll.«

Der Wiederaufbau des Gazastreifens wird so zum Experimentierfeld für die Durchsetzung neoliberaler Entwicklungsparadigmen – vergleichbar mit jenen Nachkriegsszenarien im Irak oder in Bosnien, in denen internationale Finanzinstitutionen, NGOs und private Investoren eine neue Form von »post-conflict capitalism« etablierten. Der Plan verspricht »jobs, opportunity and hope«, doch diese Hoffnung ist an Fremdkapital, Abhängigkeit und Deregulierung geknüpft, nicht jedoch an lokale Autonomie oder soziale Gerechtigkeit. Gaza wird damit zu einer Sonderwirtschaftszone unter Aufsicht, einer Art neoliberaler Enklave, in der die Bevölkerung nicht durch Selbstbestimmung, Gleichberechtigung und politische Teilhabe, sondern durch wirtschaftliche Integration und Marktkonformität befriedet werden soll.

Darüber hinaus institutionalisiert die unter US-Vorsitz stehende »Board-of-Peace«-Struktur eine Form der externen Aufsicht, die Gaza faktisch in ein international verwaltetes Protektorat verwandelt. Verwaltung, Finanzen und Sicherheit werden internationalen Kontrollinstanzen unterstellt, wodurch eine tiefgreifende Abhängigkeit von westlicher Finanzierung, Expertise und Legitimation entsteht. Diese Form der Governance ersetzt die militärische Besatzung Israels durch eine administrative Steuerung und technokratische Überwachung, die unter dem Mantel internationaler Kooperation operiert. Sie transformiert die Logik der gewaltvollen Kontrolle; an ihre Stelle tritt ein System indirekter Regulierung, das sich auf Entwicklungsdiskurse, »Good-governance«-Narrative und ökonomische Konditionalitäten stützt.

Ein weiterer zentraler Baustein des Plans ist die Sicherheit Israels als ideologische Legitimation. Nahezu alle vorgesehenen Maßnahmen, von der vollständigen Entmilitarisierung des Gazastreifens über die Stationierung internationaler Stabilisierungstruppen bis hin zur Festlegung von Waffenstillstandslinien und Sicherheitszonen, werden explizit im Namen der Sicherheit Israels formuliert. Diese Priorisierung erzeugt eine asymmetrische Logik. Das Recht auf Sicherheit wird selektiv angewendet. Israel erscheint als einzig zu schützendes Subjekt, während Gaza als permanente Gefahrenquelle konstruiert wird, als Raum, der befriedet, überwacht und kontrolliert werden muss, um regionale Stabilität zu gewährleisten.

Auffällig ist dabei, dass die Sicherheit der Palästinenser im gesamten Plan keinerlei Erwähnung findet. Weder die fortgesetzte militärische Gewalt gegen die Zivilbevölkerung noch die humanitäre Katastrophe, die durch systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur, Blockade und Vertreibung entstanden ist, werden in den Sicherheitsbegriff integriert. Selbst angesichts der als genozidal zu bezeichnenden Gewalt gegen die Bevölkerung des Gazastreifens bleibt das Konzept von Sicherheit strikt einseitig nationalisiert – exklusiv an den Staat Israel gebunden, nicht aber an die Bevölkerung, die am unmittelbarsten von existenzieller Unsicherheit betroffen ist.

Diese Rhetorik der Sicherheit dient somit nicht nur als politisches Argument, sondern als hegemoniale Rechtfertigungsformel für eine fortgesetzte Struktur asymmetrischer Gewalt. Unter dem Deckmantel »präventiver Sicherheit« werden Mechanismen geschaffen, die eine permanente Überwachung, Kontrolle und Intervention legitimieren, auch über das Ende aktiver Kampfhandlungen hinaus. Der Begriff der Sicherheit wird dadurch entleert und funktionalisiert: Er schützt nicht Leben an sich, sondern die bestehende Machtordnung. Diese selektive Definition produziert eine politische Struktur, die entscheidet, wessen Leben schützenswert ist und wessen Leben geopfert werden darf.

Die Formel der »Sicherheit Israels« fungiert somit als ideologischer Ankerpunkt eines Diskurses, der Kontrolle als Schutz und Überwachung als Frieden deklariert. Sie naturalisiert die koloniale Asymmetrie zwischen Besatzungsmacht und besetztem Territorium, indem sie Unterordnung als notwendige Bedingung für Stabilität konstruiert.

Oslo reloaded

Der 20-Punkte-Plan steht in der Kontinuität früherer Versuche, den israelisch-palästinensischen Konflikt durch verhandelte Arrangements zu befrieden – allen voran der Osloer Verträge von 1993 und 1995. Schon in Oslo wurde ein Prozess eingeleitet, der formell auf gegenseitiger Anerkennung beruhte, faktisch jedoch auf einer asymmetrischen Machtkonstellation gründete. Während Israel als souveräner Staat über territoriale, militärische und ökonomische Kontrolle verfügte, trat die Palästinensische Befreiungsorganisation als politischer Akteur ohne vergleichbare Handlungsmacht in die Verhandlungen ein. Die vermeintliche »Zwei-Staaten-Perspektive« beruhte somit auf der Annahme, dass die unterlegene Seite Frieden nur durch Konzessionen und Selbstbeschränkung erreichen könne – eine Logik, die im 20-Punkte-Plan in radikalisierter Form fortgeschrieben wird.

Wie schon die Osloer Verträge verschiebt auch der neue Plan die politische Frage der Besatzung in den Bereich administrativer und sicherheitstechnischer Steuerung. In Oslo wurde die Verantwortung für die palästinensischen Gebiete schrittweise an die Palästinensische Autonomiebehörde übertragen, deren Handlungsspielräume jedoch eng an israelische Sicherheitsinteressen und internationale Finanzierung gebunden waren. Der 20-Punkte-Plan reproduziert dieses Modell, indem er die politische Souveränität de facto suspendiert. Wie bereits im Oslo-Prozess wird Frieden nicht als wechselseitige Anerkennung von Rechten konzipiert, sondern als kontrollierte Befriedung unter Bedingungen struktureller Ungleichheit.

»Der resultierende ›Frieden‹ ist eine Form neokolonialer Stabilisierung: ein Zustand, in dem das Ende der Gewalt an die Bedingung fortgesetzter Unterwerfung geknüpft bleibt.«

Beide Modelle beruhen auf einem asymmetrischen Sicherheitsdiskurs. Schon in Oslo diente die Verpflichtung der Palästinenser zur »Sicherheitskooperation« mit Israel dazu, die militärische Kontrolle über das besetzte Gebiet indirekt aufrechtzuerhalten. Der 20-Punkte-Plan treibt diese Logik weiter, indem er die Entmilitarisierung, internationale Kontrolle und wirtschaftliche Integration Gazas als Bedingung für Frieden definiert.

Diese Kontinuität verweist auf ein strukturelles Paradox solcher Friedensprozesse: Verhandlungen, die in einem Zustand fundamentaler Machtasymmetrie stattfinden, reproduzieren zwangsläufig die Verhältnisse, die sie zu überwinden vorgeben. Wenn die eine Seite über territoriale Kontrolle, ökonomische Ressourcen und internationale Rückendeckung verfügt, während die andere auf Anerkennung, Hilfsgelder und politische Duldung angewiesen ist, wird »Frieden« zum Codewort für Stabilisierung bestehender Herrschaftsverhältnisse. In solchen Konstellationen dient der Friedensprozess selbst als Instrument der Verwaltung des Konflikts, nicht seiner Lösung.

Damit wird deutlich, dass Friedensverhandlungen unter ungleichen Bedingungen nicht auf Gleichberechtigung, sondern auf Verwaltung von Unterordnung beruhen. Sie transformieren offene Gewalt in institutionalisierte Kontrolle und übersetzen militärische Macht in bürokratische, ökonomische und sicherheitspolitische Abhängigkeit. Der resultierende »Frieden« ist daher kein Ausdruck von Versöhnung oder Gerechtigkeit, sondern eine Form neokolonialer Stabilisierung: ein Zustand, in dem das Ende der Gewalt an die Bedingung fortgesetzter Unterwerfung geknüpft bleibt.

Frieden durch Recht

Diese Analyse verdeutlicht, dass Friedensprozesse, die unter Bedingungen struktureller Machtasymmetrie stattfinden, dazu beitragen, bestehende Ungleichheiten fortzuschreiben, anstatt sie zu überwinden. Frieden wird in solchen Konstellationen nicht als Manifestation von Gerechtigkeit verstanden, sondern als Herrschaftsmodus, der Gewalt nicht aufhebt, sondern in institutionalisierte Steuerung überführt. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach den völkerrechtlichen Voraussetzungen einer legitimen und nachhaltigen Friedensordnung besondere Relevanz.

Ein Friedensplan, der diesen Anspruch erfüllt, darf sich nicht auf die Herstellung von Stabilität durch Kontrolle beschränken, sondern muss sich auf die verbindlichen Normen der Völkerrechtsordnung stützen. Nur wenn ihre grundlegenden Prinzipien gewahrt und umgesetzt werden, kann ein Prozess der Befriedung in einen Prozess der Gerechtigkeit übergehen.

Das Selbstbestimmungsrecht der Palästinenser, das in Artikel 1 der UN-Charta sowie in den Internationalen Menschenrechtspakten verankert ist, stellt ein zwingendes Völkerrechtsprinzip dar und bildet die Grundlage jeder legitimen Friedensordnung. Es umfasst mehrere miteinander verbundene Dimensionen. Erstens verlangt es die Wahrung der territorialen Einheit und Integrität Palästinas, wie sie in den Resolutionen 242 (1967) und 338 (1973) des Sicherheitsrats bekräftigt wurde. Dazu gehören alle besetzten Gebiete – Gaza, das Westjordanland und Ost-Jerusalem – sowie das Verbot jeder dauerhaften Veränderung des territorialen Status durch Annexion, Kolonisierung oder Abtrennung.

Zweitens schließt das Selbstbestimmungsrecht die Einheit der Bevölkerung ein: die Überwindung der durch Besatzung, Blockade und Vertreibung verursachten Fragmentierung sowie die Anerkennung der palästinensischen Diaspora und der Geflüchteten als integralen Teil der Nation. Drittens fordert es wirtschaftliche Selbstbestimmung, das heißt die ständige Souveränität über natürliche Ressourcen und das Recht auf eigenständige wirtschaftliche Entwicklung ohne externe Kontrolle. Schließlich umfasst es die sozio-politische Selbstbestimmung, das Recht der Palästinenserinnen, frei über ihre politische Ordnung, ihre Institutionen und ihr kulturelles Leben zu entscheiden, und die Beendigung jeder Form technokratischer oder internationaler Fremdverwaltung.

»Eine rechtmäßige Friedensordnung setzt das unverzügliche, bedingungslose und vollständige Ende der völkerrechtswidrigen Besatzung voraus.«

Darüber hinaus ist die anhaltende israelische Kontrolle über die palästinensischen Gebiete nach der Haager Landkriegsordnung, der Vierten Genfer Konvention und Artikel 2 Absatz 4 der UN-Charta als völkerrechtswidrige Besatzung zu qualifizieren, ein Ergebnis zu dem auch der IGH in seinem Rechtsgutachten aus dem Jahr 2024 kam. Eine rechtmäßige Friedensordnung setzt daher das unverzügliche, bedingungslose und vollständige Ende dieser völkerrechtswidrigen Besatzung voraus. Gestufte oder von israelischer Zustimmung abhängige Rückzugsmechanismen widersprechen dem Gebot eines sofortigen und totalen Endes der Besatzung.

Mit der Beendigung der Besatzung sind auch Maßnahmen der Restitution und Wiedergutmachung verbunden. Dazu gehören die Rückgabe von Land, Eigentum und Ressourcen, die widerrechtlich enteignet oder zerstört wurden, sowie finanzielle und materielle Reparationen für Kriegsschäden, Vertreibung und anderweitige zivile Verluste. Zentral ist außerdem die Gewährleistung des in der UN-Resolution 194 (III) von 1948 verankerten Rückkehrrechts für alle palästinensischen Geflüchteten und ihre Nachkommen.

Ein dauerhafter Frieden verlangt ferner die strafrechtliche Aufarbeitung begangener Verbrechen. Die systematische Zerstörung ziviler Infrastruktur, die Tötung von Zivilisten und die gezielte Blockade lebensnotwendiger Güter sind nach der Völkermordkonvention als genozidale Handlungen einzustufen. Ein nachhaltiger Frieden setzt daher die individuell-strafrechtliche Ahndung dieser Taten voraus – durch nationale oder internationale Gerichtsbarkeit, etwa vor dem Internationalen Strafgerichtshof gemäß dem Römischen Statut.

Schließlich muss jede Friedensregelung Sicherheitsgarantien für einen souveränen palästinensischen Staat enthalten. Der Schutz von Leben und Territorium darf nicht ausschließlich auf Israel bezogen sein, sondern muss wechselseitig und gleichwertig gelten. Israel muss daher ebenso verpflichtet sein, die Existenz und territoriale Integrität eines souveränen palästinensischen Staates anzuerkennen. Regionale und internationale Mechanismen – etwa UN-Mandate oder multilaterale Beobachtermissionen – können die Umsetzung dieser Sicherheitsgarantien begleiten, dürfen aber die Souveränität Palästinas nicht einschränken.

Die Verwertung von Tod und Leben

Der sogenannte 20-Punkte-Plan steht paradigmatisch für die Kapitalisierung des Friedens – für den Versuch, Konfliktlösung und Gerechtigkeit durch ökonomische Effizienz und administrative Kontrolle zu ersetzen. Frieden wird hier nicht als Ergebnis politischer Aushandlung, rechtlicher Gleichheit oder moralischer Verantwortung gedacht, sondern als Funktion von Investitionsklima, Marktdisziplin und externer, kolonialer Steuerung.

Diese Form des »Friedensmanagements« verwandelt einen historischen Befreiungskampf in ein Projekt internationaler Governance, in dem die palästinensische Bevölkerung nicht als politisches Subjekt, sondern als ökonomisches Problem konstruiert wird, das es zu verwalten, disziplinieren und integrieren gilt. Hierin zeigt sich die neoliberale Zerstörung des Politischen: Das ökonomische Paradigma ersetzt das geltende Recht. Wo Kapitalflüsse den Maßstab des Friedens bilden, wird der Mensch zur Variable in einem globalen Berechnungsmodell. Der Gazastreifen – Sinnbild jahrzehntelanger Entrechtung – wird so zum Labor einer Weltordnung, die Konflikte nicht beendet, sondern ökonomisch verwertet.

Diese neoliberale Ordnung trägt den Keim der Gewalt in sich. Sie zerstört soziale Bindungen, Räume der Solidarität und kollektive Selbstbestimmung, um sie durch Marktmechanismen und externe Aufsicht zu ersetzen. Was unter dem Begriff des Wiederaufbaus firmiert, erweist sich bei näherer Betrachtung als Rekonstruktion einer kapitalisierten und rassifizierten Ordnung der Unterwerfung – ein Prozess, in dem Kapitalakkumulation zur Bedingung des Überlebens jener wird, deren Leben zuvor als entwertet, dehumanisiert und politisch entbehrlich konstruiert wurde.

In diesem Sinne ist der »Frieden«, den der 20-Punkte-Plan verspricht, nicht das Gegenteil von Krieg, sondern seine Fortsetzung mit ökonomischen Mitteln. Die daraus entstehende Weltordnung ist eine, in der das Leben selbst zur ökonomischen Ressource wird. In Gaza bedeutet dies: Der Wiederaufbau wird an Entwaffnung, Abhängigkeit und Disziplinierung gebunden; das Recht auf Sicherheit gilt nur für die Mächtigen, nicht für die Entrechteten.

»Die systematische Verelendung, Entmenschlichung und Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung sind kein politischer Unfall, sondern die extreme Konsequenz einer Weltordnung, die Leben nur nach seiner Verwertbarkeit misst.«

Diese Dynamik wird in erschütternder Klarheit im Bericht der UN-Sonderberichterstatterin Francesca Albanese, »From an Economy of Occupation to an Economy of Genocide«, sichtbar. Albanese zeigt, dass die israelische Besatzung längst eine ökonomische Struktur des Völkermords hervorgebracht hat – ein System, in dem die Vernichtung von Leben selbst zur produktiven Kraft wird. Der Genozid, so ihre zentrale These, produziert Märkte, indem er Land, Ressourcen, Infrastruktur und sogar menschliche Existenz in ökonomische Werte übersetzt. Der Tod schafft Verwertbarkeit: Zerstörung wird zur Voraussetzung neuer Kapitalflüsse – für die Rüstungs- und Sicherheitsindustrie, die ihre Waffen als »battle-tested« exportiert; für den Bausektor, der vom Abriss wie vom Wiederaufbau profitiert; für die Finanz- und Investitionswirtschaft, die Besatzung und Wiederaufbau als stabile Renditefelder entdeckt; für die Technologie- und Überwachungsindustrie, die Kontrolle und Überwachung in Hightech exportiert; und schließlich für die humanitäre Entwicklungsindustrie. Albanese beschreibt dies als eine Art »corporate-military-humanitarian complex«, in dem Zerstörung, Verwaltung und Wiederaufbau ununterscheidbar werden – eine Struktur, die Gewalt in Wertschöpfung übersetzt und die Grenze zwischen Krieg und Ökonomie verwischt.

Im Umkehrschluss zeigt sich, dass in dieser Logik auch das Aufhören des Tötens ökonomisch motiviert ist. »Frieden« erscheint nicht als moralische oder rechtliche Kategorie, sondern als marktwirtschaftlicher Wendepunkt – als Phase, in der die Bedingungen der Vernichtung in profitable Rekonstruktionsprojekte überführt werden. So wie der Krieg Märkte zerstört, um neue entstehen zu lassen, wird auch der Frieden zur ökonomischen Übergangsform: zur Fortsetzung derselben Kommerzialisierung des Lebens mit anderen Mitteln.

In ihrer äußersten Konsequenz führt diese neoliberale Logik nicht zur Befriedung, sondern zur Zerstörung des Lebens selbst. Wenn die Welt als Markt regiert wird, wird Gewalt zur Bedingung von Profit, und das Sterben – sei es durch Bomben, Blockaden oder Hunger – zur kalkulierten Größe globaler Ordnung. Gaza steht damit exemplarisch für eine Epoche, in der die neoliberale Rationalität die Grenze zwischen Ökonomie und Vernichtung verwischt. Die systematische Verelendung, Entmenschlichung und Vernichtung der palästinensischen Bevölkerung sind kein politischer Unfall, sondern die extreme Konsequenz einer Weltordnung, die Leben nur nach seiner Verwertbarkeit misst. Ein Frieden, der auf dieser Grundlage errichtet wird, ist kein Frieden, sondern ein Regime der Kontrolle – ein Markt des Überlebens, in dem Gerechtigkeit keinen Platz mehr hat.

Gegen diese Logik kann nachhaltiger Frieden nur als radikale Umkehr gedacht werden: als Wiederherstellung von Souveränität, Gleichheit und Würde; als Entkopplung von Leben und Markt; als politischer Akt gegen eine Ordnung, die den Tod verwaltet, um Kapital zu sichern. Nur wenn Frieden sich nicht länger kapitalisieren lässt, kann er beginnen, das Leben zu schützen, anstatt es zu vernichten.

Khaled El Mahmoud ist Jurist und Völkerrechtler. Er promovierte im Völkerrecht an der Universität Potsdam und ist geschäftsführender Redakteur des Völkerrechtsblogs.