03. November 2020
Biden mag in den Umfragen vorn liegen, aber Trump wird eine Wahlniederlage nicht einfach hinnehmen. Das haben seine Äußerungen zur Briefwahl in den vergangenen Wochen gezeigt. Sollte es soweit kommen, wird ihn nur energischer Widerstand auf den Straßen aufhalten können.
Mit Blick auf die Umfragewerte ist Joe Biden der klare Favorit bei der heutigen Präsidentschaftswahl, das gilt sowohl für die absoluten Wählerstimmen, den Popular Vote, als auch für die Stimmen der Wahlleute des Electoral College. Bei Hillary Clinton war das vor vier Jahren allerdings genauso. Obwohl die Umfragemethoden in den vergangenen Jahren verbessert wurden, bleiben die Liberalen hinsichtlich ihrer Prognosen über den Ausgang der Wahl weiterhin zögerlich: Eine Niederlage ist schmerzhaft genug. Da muss man sich nicht vorher auch noch fälschlicherweise des Sieges sicher sein.
Die Gegnerinnen und Gegner Trumps sind wegen einer Reihe plausibler Szenarien nervös. Zum einen könnte der Fall eintreten, dass Trump wie schon 2016 zwar den Popular Vote verliert, jedoch das Electoral College gewinnt. Zum anderen besteht die Möglichkeit, dass Trump am Wahlabend, da viele der Briefwahlzettel noch nicht ausgezählt sein werden, einen Vorsprung im Electoral College erzielt und die Republikaner daraufhin eine Kampagne starten, um die Gesetzgeber, Gouverneure und den Supreme Court davon zu überzeugen, die weitere Auszählung zu umgehen und damit seine vermeintliche Wiederwahl zu besiegeln.
Hinsichtlich dieses zweiten Szenarios heißt es in der Presse häufig, Trump könne dadurch »die Wahl stehlen«. Tatsache ist, dass Trump in beiden der beschriebenen Fälle die Wahl stehlen würde, da sich beide Ausgangsmöglichkeiten gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung stellen. Sollte einer dieser Fälle eintreten, dann sollte die amerikanische Bevölkerung dies als Anklage gegen die undemokratischen politischen Institutionen der USA betrachten und die Unrechtmäßigkeit des Ergebnisses deutlich machen.
Die Verfassung wird in den USA sowohl von den Republikanern als auch den Demokraten als unantastbar betrachtet, so als strahle sie eine universell gültige aber ebenso hermetische Weisheit aus. Daher stehen die Chancen auf eine Reformierung der undemokratischen Aspekte des US-amerikanischen politischen Systems, wie etwa des Electoral College, denkbar schlecht. Dabei ist die Institution des Electoral College eher einem Zufall zu verdanken. Als Al Gore die Wahl gegen George W. Bush verlor, obwohl er die Mehrheit der Stimmen erlangt hatte, erklärte der Politologe Michael Nelson diesen Umstand folgendermaßen:
»Beim Verfassungskonvent von 1787 war das Electoral College keineswegs die erste Wahl. Die anwesenden Delegierten waren sich nicht einig darüber, wer den Präsidenten wählen sollte. Es gab verschiedene Vorschläge, ob es nun der Kongress, die Bevölkerung, die Gouverneure der Bundesstaaten oder sogar eine zufällig ausgewählte Gruppe von Gesetzgebern sein sollte. Da sich der Verfassungskonvent auch nach drei Monaten, in denen die immer selben Argumente vorgebracht wurden, auf keine dieser Ideen einigen konnte und man auf eine weitere Vertagung zusteuerte, setzte er kurzerhand einen Ausschuss ein, der sich mit der Wahl des Präsidenten und anderen ›aufgeschobenen Angelegenheiten‹ befassen sollte. Aus diesem Ausschuss ging das Electoral College hervor, ein Mechanismus, der so merkwürdig und kompliziert war, dass er von den Auseinandersetzungen entlang der etablierten Konfliktlinien des Konvents ausgeklammert wurde. Die Delegierten akzeptierten das Electoral College als eine Notlösung, die durch etwas Besseres ersetzt werden sollte, sobald die neue Regierung ihre Arbeit aufgenommen hatte.«
Aber etwas Besseres ist nie gekommen. Stattdessen sind die USA seit 250 Jahren mit diesem verworrenen und schlecht durchdachten Mechanismus gestraft. Bei mehreren Gelegenheiten hat dieses System dazu geführt, dass die politische Mitbestimmung der Bevölkerung offensichtlich untergraben wurde und im Weißen Haus eine Regierung einzog, die niemals die Zustimmung der Mehrheit der amerikanischen Wählerinnen und Wähler erhalten hatte. Die einzige Rechtfertigung für das Fortbestehen des Electoral College ist, dass es in der Verfassung verankert ist. Und die Verfassung ist heilig.
Von allen Methoden, die der Verfassungskonvent für die Wahl des Präsidenten in Betracht zog, ist nur eine einzige potenziell demokratisch: die direkte Wahl durch die Bevölkerung, ohne dazwischengeschaltete Vermittler oder Einmischungen anderer Art. Die anderen Vorschläge, wie z.B. Gouverneure oder Gesetzgeber der Bundesstaaten wählen zu lassen, sind, wie viele andere Merkmale der Verfassung, unverhohlen elitär und bilden ein unnötiges Hindernis für die freie Willensäußerung der Bevölkerung. Das Electoral College, das ursprünglich als Torwächterinstrument der Eliten entworfen wurde, verlor diese Funktion schließlich, als Gesetze erlassen wurden, um die Wahlleute davon abzuhalten, entgegen dem Wahlausgang in ihren Staaten zu stimmen. Dennoch bleibt es ein unlogisches und kompliziertes System, das es den Wahlkampagnen unmöglich macht, sich einfach darauf zu konzentrieren, landesweit die meisten Stimmen zu holen.
Nach den Wahlen im Jahr 2000, die George W. Bush für sich entschied, ohne den Popular Vote gewonnen zu haben, begannen Liberale, das Electoral College zu kritisieren. Doch die Kritik flaute in den Obama-Jahren wieder ab, da sich Obama seinerzeit auch die Mehrheit der Wahlleute hatte sichern können. Doch nachdem Hillary Clinton 2016 nicht Präsidentin wurde, obwohl sie das Popular Vote klar gewonnen hatte, wurden die Einwände wieder lauter. Den Liberalen ist klar geworden, dass das Electoral College nicht nur unter den gegenwärtigen Bedingungen antidemokratisch ist, sondern dass es außerdem auch den Republikanern in die Hände spielt. Der bisher wichtigste Schritt zur Eindämmung des Electoral College ist der sogenannte »National Popular Vote Interstate Compact«, ein Abkommen, das die Bundesstaaten dazu verpflichtet, ihre Stimmen für den Gewinner des Popular Vote abzugeben. Bislang wurde die Maßnahme von fünfzehn meist demokratisch orientierten Staaten angenommen – doch dieser Mechanismus greift erst dann verlässlich, wenn die Staaten, die sich diesem Abkommen angeschlossen haben, auch eine Mehrheit der Stimmen im Electoral College bilden. Und dieses Ziel liegt in weiter Ferne.
Fest steht also, dass das Electoral College nicht von heute auf morgen durch ein demokratischeres System ersetzt werden wird. Wir könnten bei dieser Wahl schon wieder in die Situation geraten, dass der Wille der Bevölkerung vor den Augen aller übergangen wird. Wenn Trump den Popular Vote verliert und das Electoral College gewinnt, oder wenn sich abzeichnet, dass parteiliche Machenschaften in den Gerichten oder in den Parlamenten der Bundesstaaten ihm den Sieg verschaffen könnten, dann wird der Widerstand dagegen auf den Straßen stattfinden müssen.
Die Gegenreaktion sollte die ganze Bandbreite der Protestformen bespielen, von Massendemonstrationen über Boykotte bis hin zu Petitionen. Idealerweise sollte sie auch Streiks umfassen. Denn Streiks sind die schärfste Waffe der breiten Bevölkerung. Durch Arbeitsniederlegungen im öffentlichen und privaten Sektor kann wirksam Druck auf Politik und Kapital ausgeübt werden, sich einer Krise anzunehmen und sie zu lösen. Auch Straßenproteste können Wirkung zeigen, das bewiesen die Republikaner im Jahr 2000 in Florida, während die Demokraten erfolglos auf den Kampf im Gerichtssaal setzten. Und obwohl es vielleicht nicht den erforderlichen Grad an Organisation gibt, um wirkungsvolle Streiks durchzuführen, so haben die Proteste gegen rassistische Polizeigewalt in diesem Sommer gezeigt, dass die US-amerikanische Bevölkerung durchaus fähig ist, Massenproteste auf den Straßen zu mobilisieren.
Es ist im offensichtlichen Interesse der Liberalen zu protestieren oder zu streiken, falls Trump versucht, die Wahl zu stehlen – entweder direkt oder indirekt über das Electoral College. Und obwohl die US-Linke nicht gerade von Joe Biden begeistert ist, so ist sie doch eine vehemente Gegnerin einer rechtsgerichteten Trump-Regierung und fest entschlossen, für demokratische Reformen zu kämpfen. In diesem Kampf steht die Linke Seite an Seite mit den Liberalen, die für eine künftige Biden-Regierung mehr übrig haben werden.
Millionen von Amerikanerinnen und Amerikanern empfinden die Trump-Regierung – und insbesondere ihr Versagen während der Coronavirus-Krise – als abstoßend und hegen nun auch zunehmend Zweifel an der vermeintlichen Weisheit des Electoral College. Wenn sich erneut ein Szenario wie in den Jahren 2000 oder 2016 anbahnt, könnte dies eine Gegenreaktion der Bevölkerung provozieren, die um einiges energischer und kraftvoller ausfallen würde als zuvor, ganz gleich was die führende Parteiriege der Demokraten in einem solchen Fall tun oder sagen wird. Eine massenhafte Störung des politischen Betriebs durch die Bevölkerung wäre wünschenswert. Und es wäre wahrscheinlich sogar das Einzige, das verhindern könnte, dass die Präsidentschaftswahl ein weiteres Mal gestohlen wird.
Meagan Day ist Redakteurin beim US-amerikanischen Jacobin.