29. November 2022
Erst kamen die Blogs, dann kam Twitter – und jetzt scheint Elon Musk fest entschlossen, die Plattform gegen die Wand zu fahren. Was danach kommt, liegt auch in unserer Hand.
Elon Musk hat bislang vor allem die Monetarisierung bei Twitter vorangetrieben.
IMAGO / UPI PhotoUngefähr vor zwölf Jahren löste sich eine Online-Plattform auf, die auch ich genutzt hatte. Obwohl die meisten, die sich daran beteiligten, heute Erwachsene mittleren Alters sind, hört man sich schnell wie der alte Mann des Internets an, sobald man anfängt, vom »Bloggen« zu erzählen – also von tagebuchartigen Posts, die man mithilfe von Blogspot oder Wordpress auf individuell betitelten und persönlich kuratierten Websites veröffentlichte.
In der zweiten Hälfte der 2000er hatte ich das Glück, Teil einer Gruppe von Bloggern zu sein, die sich nach und nach »IRL« kennenlernten – oder im »Meatspace«, wie es der harte Kern dieser Gruppe mit Verweis auf William Gibson wohl gesagt hätte. Ich lernte dadurch, wie man in der Öffentlichkeit schreibt, und ich tat das im Austausch mit einer Menge von Leuten, die viel klüger waren als ich, und denen ich fast alles verdanke. Aber diese Gruppe ging in die Brüche – aus technischen und persönlichen Gründen, wie das eben so ist. Die eher banalen Auslöser dafür, dass intensive, aber kurze Freundschaften zerbrechen, sollen uns hier nicht weiter aufhalten, die technischen Ursachen sind viel interessanter. Vor allem jetzt, wo wir beobachten, wie der erfolgreichste Nachfolger der Blogs, Twitter, ziemlich dramatisch zusammenbricht.
Der Appeal von Blogs ergab sich zum einen aus ihrer Einfachheit (man musste nicht wissen, wie man programmiert, nur in der Anfangszeit brauchte man ein paar Grundkenntnisse, um Bilder zu posten) und zum anderen aus ihrem DIY-Charme. Viele Blogger waren mit Musikzeitschriften groß geworden; einige hatten vorher Zines gemacht (und manche tun das immer noch). Eng verbunden damit war eine gewisse Vorstellung von kultureller Zugänglichkeit. Man lernte drei Akkorde, machte Kopien vom Plattencover und gab eine eigene Platte heraus. »Es ist einfach, es ist billig, also mach es einfach«. Jetzt gab es auch ein journalistisches Pendant dazu, nur dass alles in diesem Fall noch einfacher wurde. Ein Unternehmen operierte zwar im Hintergrund – die Plattform Blogger wurde 2003 von Google übernommen –, aber verglichen mit dem, was danach kam, war das noch relativ leicht auszublenden.
Man sollte Blogs nicht romantisieren (so unangenehm Twitter auch sein kann, die einzige konkrete Morddrohung, die ich je erhalten habe, erreichte mich in meiner Zeit als Blogger). Alle Beiträge waren kostenlos, und vielen Bloggern kam es wie gerufen, dass Blogs »echte« Bücher, »echten« Journalismus und »echte« akademische Karrieren abzulösen schienen, vor allem, weil all das von Twitter und Facebook in einem Rundumschlag vernichtet wurde.
Der Reiz dieser neuen Netzwerke lag zum einen darin, dass man mit relativ geringem Aufwand teilhaben konnte. Es fühlte sich nicht nach Arbeit an, zumindest nicht am Anfang. Auch wenn viele Blogs ziemlich miserabel waren, musste man sich dennoch ein bisschen Mühe geben, um einen halbwegs langen, kohärenten und verständlichen Text zustande zu bekommen. Das Posten war einfach und es musste nicht unbedingt immer Sinn ergeben – mit der Zeit wurde klar, dass ein Tweet auf Twitter besser funktioniert, wenn er nicht so ganz Sinn ergibt, weshalb der Account Dril die Essenz der Plattform nach wie vor am besten einfängt.
Damals, um 2010 herum, schien es nicht so, als würde Twitter irgendwann Blogs ersetzen, sondern eher Foren wie ILX und Dissensus verdrängen, in denen Freundschaften geschlossen, Feinde beobachtet und Flame-Wars ausgetragen wurden. Twitter war wie ein Forum, aber ohne den Initiationsritus, mit weniger offensichtlichen Cliquen und weitaus weniger Platz. Innerhalb eines Jahres fand ich auf Twitter eine ganze Reihe von Leuten, die wahnsinnig intelligent, extrem witzig und ein paar Jahre jünger waren als ich. Zu meiner großen Überraschung stellte ich fest, dass die meisten von ihnen gar nicht unbedingt versuchten, Autoren oder Journalistinnen zu werden. Nur weil sie interessante Dinge zu sagen hatten, hieß das nicht zwangsläufig, dass sie daraus auch eine Karriere machen wollten.
Während Elon Musk Twitter an die Wand fährt oder in den Bankrott treibt oder in eine durchkommerzialiserte Version von 4Chan verwandelt, sollte man sich am besten die schrecklichsten Eigenheiten der Plattform in Erinnerung rufen – die Selbstgerechtigkeit, die rassistischen Tiraden, die unaufhörliche, geradezu grotesk dogmatische Kontrolle untereinander, die vielen unerträglichen »Was Ihr alle wissen solltet«-Threads, die Schlaumeier-Accounts, die einem herablassend Dinge erklären, die man sowieso schon weiß, die Verstärkung falscher oder übertriebener Behauptungen, die schlechte Geschichtsschreibung in mundgerechten Threads und überhaupt die allgemeine Unerträglichkeit. Entscheidend ist, dass die Betreiber erkannt haben, wie wichtig diese Charakteristika sind, um Leute auf die Seite zu locken. Sie haben Algorithmen entwickelt, die all diese Widerwärtigkeiten noch verstärken. Posten ist amoralisch, und jeder, der regelmäßig auf Twitter unterwegs ist, wird sich in dem bizarren Wortsalat der Tweets von Donald Trump (der diese rhetorische Form meisterhaft beherrscht hat) zumindest ein bisschen wiedererkennen.
All diese Probleme hat der marxistische Autor Richard Seymours in seinem Buch The Twittering Machine treffend beschrieben. Wenn die Plattform stirbt, wird sie niemand vermissen. Im Großen und Ganzen habe ich Twitter aber bis vor kurzem noch gerne genutzt. Ich mochte die Zugänglichkeit, und es gefiel mir, dass ich alle möglichen Dinge fragen oder gefragt werden konnte. Ich habe über Twitter viel gelernt und bin mit vielen netten Leuten in Kontakt gekommen.
Als ich vor Jahren eine gut gemeinte Analyse der Großbritannien-Wahl von 2017 las, die mir irgendwie defizitär vorkam, wurde mir plötzlich klar, was in dem Bericht fehlte: Twitter und die überdrehte Dynamik des Wahlkampfs, die sich dort entspann. Die Corbyn-Accounts wurden immer euphorischer, je deutlicher sich abzeichnete, was passieren würde. Kurz gesagt: Die Tatsache – und es ist eine Tatsache –, dass Jeremy Corbyn im Juni 2017 nur wenige tausend Stimmen vom Amt des Premierministers entfernt war, wird man nie verstehen, wenn man das »Absolute Boy«-Meme nicht versteht.
Umgekehrt war die unmittelbare Ursache dafür, dass ich immer weniger Zeit auf Twitter verbrachte – ich deaktiviere meinen Account für mehrere Wochen und bin aufgeblasen genug, um einen Download meines Twitter-Archivs zu beantragen – die Wahl 2019 und ihre noch immer anhaltenden Auswirkungen. Genauso wie Twitter damals die Euphorie um Corbyn intensivierte, hat die Plattform die politische Diskussion innerhalb der britischen Linken in eine anhaltende Verbitterung getrieben, die die Debatten immer depressiver und verzweifelter werden lassen. Es scheint wahnsinnig wichtig zu sein, dieselben Dinge immer und immer wieder zu sagen: Die Medien sind korrupt, die Labour Party ist korrupt, und eines Tages werden wir uns rächen. Aber bis es so weit ist, sollten wir uns in unserer eigenen Niederlage suhlen. Ich sage das nicht, um andere zu belehren. Ich finde es vielleicht nervig, wenn niemand reagiert, wenn ich einen interessanten Artikel teile, den ich geschrieben oder gelesen habe, aber Standing Ovations bekomme, wenn ich nochmal aufzähle, aus welchen Gründen ich Keir Starmer verachte. Aber ich weiß, dass ich genau das tun werde, wenn ich mich einlogge. Ich kann es einfach nicht lassen.
Während Linkstwitter bei der Wahl 2017 zu Hochformen auflief, geht es dieser Tage hauptsächlich darum, darauf zu bestehen, dass die Wahl 2017 – entgegen einem ganzen Schwall an gegenteiligen Behauptungen – tatsächlich stattgefunden hat; ob sie von Bedeutung war oder nicht, scheint nebensächlich zu sein. Die Behauptung – die einst mehr oder weniger zutraf –, dass der Twitter-Nutzer @yunglinbiao94 besser darüber Bescheid wusste, was in der britischen Politik tatsächlich vor sich ging, als ein angestellter Journalist, bedeutet viel weniger, wenn diese Twitter-Blase nichts weiter tut, als sich über angestellte Journalisten zu beschweren. Inzwischen besteht der politische Zweck all dessen hauptsächlich darin, zur beruhigenden Selbstvergewisserung Beschimpfungen loszuwerden, deren Auswirkung auf die Politik letztendlich darin bestehen wird, dass irgendwann einmal ein aufstrebender sozialistischer Abgeordneter oder ein Mitglied des Stadtrats ausgeschlossen werden wird, weil sie Deinen »Keir Starmer ist ein Penner«-Tweet geliked haben. Vor diesem Hintergrund kommt der südafrikanische Bösewicht eigentlich genau zum richtigen Zeitpunkt und versetzt uns lediglich den Gnadenstoß.
Dennoch muss man anerkennen: Twitter hat einen Zweck, auch wenn er ziemlich verdorben und sehr monetarisiert ist. Wie geht es also weiter? Für Autorinnen und Leser haben andere soziale Netzwerke offensichtlich nicht den gleichen Reiz – sie sind in erster Linie visuell, es geht entweder um Bilder oder, immer mehr, um kurze Clips; und wer alt genug ist, um früher mal gebloggt zu haben, ist heute viel zu alt für Tiktok. Kleinere, monetarisierte Fragmente des »Diskurses« werden auf Substacks und Patreons überleben, und die haben zumindest den Vorzug, ihre User dazu zu zwingen, kurz nachzudenken, bevor sie etwas posten.
All das wird aber die zentrale Frage nicht lösen. Das, was Musk unseren »Stadtplatz« nennt, ähnelt allmählich wirklich mehr und mehr einem wirklichen Platz, wie etwa More London oder Piccadilly Gardens – Orte, die vollkommen in Privatbesitz sind, durchweg überwacht werden, einzig und allein darauf ausgelegt sind, Geld zu machen, und deren Langeweile nur gelegentlich durch kleine Raufereien aufgebrochen wird. Aber wir brauchen Stadtplätze, und wir brauchen einen Ort, an dem wir miteinander reden können. Vielleicht ist es an der Zeit, dass wir unsere eigenen bauen.
Owen Hatherley ist Culture Editor bei »Tribune« und Autor mehrerer Bücher. Zuletzt ist von ihm »Red Metropolis: Socialism and the Government of London« bei Repeater erschienen.