20. Oktober 2023
Der Streik der United Auto Workers in den USA sorgt für Aufsehen. Die Strategie der Gewerkschaft unter ihrem neuen Vorsitzenden Shawn Fain ist deutlich ambitionierter als bei früheren Arbeitskämpfen – und erinnert an den Gewerkschaftsführer Walter Reuther in den 1940er-Jahren.
Shawn Fain erneuert die Autogewerkschaft UAW.
In den USA gab es in den vergangenen Monaten eine regelrechte Streikwelle, doch wenige Aktionen erregten so viel Aufmerksamkeit wie der seit dem 14. September andauernde Kampf der United Auto Workers (UAW) gegen die sogenannten Big Three (die Autohersteller General Motors, Ford und Stellantis). Eine Besonderheit ist die Strategie des »Stand-up strike« der Gewerkschaft. Dabei werden nicht alle Produktionsstätten gleichzeitig und mit Vorlauf, sondern im ungleichmäßigen Wechsel und nach kurzfristigen Ankündigungen bestreikt. Das erhöht den Druck auf die Konzerne, die nicht wissen, wo als nächstes die Bänder stillstehen. Gleichzeitig konnte viel öffentliche Unterstützung generiert werden. Während sich die Führungskräfte der Automobilhersteller in der unangenehmen Lage befinden, üppige Aktienrückkäufeund exorbitante Gehälter für sich selbst rechtfertigen zu müssen, zeigen Umfragen, dass 53 Prozent der befragten Amerikanerinnen und Amerikaner die Aktionen gutheißen, während lediglich 22 Prozent sich gegen die Streiks aussprechen.
In der vergangenen Woche wurde überraschend bekannt gegeben, dass weitere 8.700 Arbeiter in einem Ford-Werk in Kentucky in den Ausstand getreten sind. Damit befand sich rund ein Viertel der 150.000 Arbeiterinnen und Arbeiter bei den Big Three im Streik. Zwar scheint eine umfassende Einigung mit den Bossen noch in weiter Ferne zu liegen, doch hat die UAW mit ihrem gezielten Vorgehen bereits große Fortschritte bei allen drei Automobilherstellern erzielt. Dazu gehören die Abschaffung gewisser Gehaltsstufen, die Wiedereinführung des Teuerungsausgleichs, das Streikrecht bei Werksschließungen und – vielleicht am beeindruckendsten – die Einbeziehung der Arbeiterschaft mit Blick auf die künftige Elektrofahrzeugproduktion bei General Motors (GM).
Der Ansatz der Gewerkschaft in Bezug auf Verhandlungen und Streiks unterscheidet sich deutlich von dem der UAW der vergangenen Jahrzehnte. Anstatt sich von den Unternehmen »Kompromisse« diktieren zu lassen und die Mitglieder während der Verhandlungen im Ungewissen zu halten, hat die UAW-Führung eine ebenso mutige wie ambitionierte Strategie entwickelt, die darauf abzielt, die historische Rolle der Auto-Gewerkschaft als Maßstab für die gesamte Arbeiterklasse wiederherzustellen. Sie hat die Mitglieder aktiv in die Tarifvertragskampagne und die Streikbeschlüsse einbezogen. Außerdem befördert und unterstützt sie die Kreativität ihrer Mitglieder auf den Streikposten und in den Betrieben. So haben sich beispielsweise die noch nicht zum Streik aufgerufenen Arbeiterinnen und Arbeiter eigenmächtig geweigert, freiwillige Überstunden zu leisten, und leisten nur noch »Dienst nach Vorschrift«, um den Druck durch eine Produktionsdrosselung weiter zu erhöhen.
Darüber hinaus hat sich die UAW-Führung sehr viel offener und informationsbereiter in Bezug auf den Verhandlungsprozess gezeigt. Sie informiert regelmäßig in den sozialen Medien, per SMS und E-Mail sowie an den Streikposten und in den Betrieben über die Fortschritte bei den Verhandlungen (beziehungsweise über das Ausbleiben solcher Fortschritte).
Was diesen Streik so anders macht als viele vorherige Aktionen der UAW, hat viel mit dem Ansatz des kürzlich gewählten Gewerkschaftspräsidenten Shawn Fain zu tun. Seine Position wird angesichts der erfolgreichen Reformbemühungen bei der UAW und einer allgemein höheren Militanzbereitschaft innerhalb der Arbeiterschaft gestärkt. In vielerlei Hinsicht erinnert Fains couragierter Ansatz an den des frühen UAW-Führers Walter Reuther – bevor die Gewerkschaft und Reuther selbst ihre Ambitionen und Ziele zurückschraubten.
Fains wöchentliche Live-Streams am Freitag, die zehntausende Zuschauende haben und für UAW-Mitglieder und -Unterstützer zum neuen »Pflichtprogramm« geworden sind, symbolisieren ganz besonders den neuen Kurs der Gewerkschaft. In einem inszenierten Ritual, das an Reality-TV erinnert, sitzt Fain meist an seinem Schreibtisch in seinem spärlichen Büro, umgeben von Streikschildern, und schaut direkt in die Kamera. Er nutzt oft die Gelegenheit, um plakative Mode-Statements abzugeben. Zu seinen jüngsten Outfits gehörten ein weißes Golfhemd mit Tarnmuster, ein knallroter Kapuzenpullover, den Fain vom Italienischen Metallgewerkschaftsbund FIOM geschenkt bekommen hatte, und ein T-Shirt mit »Eat the Rich«-Aufdruck. Letzteres kam ganz bewusst zum Einsatz, nachdem die New York Times einen Tag zuvor ein Profil von Fain veröffentlicht hatte. Dessen Titel: »New U.A.W. Chief Has a Nonnegotiable Demand: Eat the Rich«.
Fain beginnt seine Ansprache stets mit einer Begrüßung der UAW-Mitglieder und fährt dann nicht mit dem aktuellen Lagebericht zu den Verhandlungen mit den Big Three fort, sondern spricht zunächst über andere Streiks und gewerkschaftliche Organisierungserfolge. So verdeutlicht er die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Kämpfen. Anschließend geht er auf die Autoindustrie-Verhandlungen ein und legt dar, wo sich die Unternehmen in Bezug auf die Vorschläge der Gewerkschaften bewegt haben und wo keine Fortschritte erzielt wurden. Die Updates sind nicht nur informativ, sondern haben auch eine motivierende Komponente, da Fain die Verhandlungen als Teil eines größeren Kampfes für soziale und ökonomische Gerechtigkeit betrachtet und immer wieder die Führungskräfte der Konzerne für ihre Gier und die Respektlosigkeit, die sie gegenüber der Arbeiterschaft an den Tag gelegt haben, kritisiert.
Dann kommt der Moment, auf den alle warten: die Ankündigung, welche Fabriken in dieser Woche zum »Aufstehen«, also zur Teilnahme am Streik aufgerufen werden. Die UAW variiert ihre Aktionen dabei von Woche zu Woche: manchmal rief Fain Arbeiter bei allen drei Unternehmen zum Streik auf, mal »verschonte« er ein Unternehmen, das in dieser Woche Fortschritte in den Verhandlungen vorweisen konnte, mal blieb er auch eine Woche lang untätig und forderte keinerlei neue Streiks. Im jüngsten Fall des Ford-Werk in Kentucky hatte Fain nicht einmal auf seine wöchentliche Ankündigung gewartet und stattdessen die Arbeitsniederlegung bereits am Mittwoch bestätigt. Am darauffolgenden Freitag teilte er mit, die UAW werde Streikausweitungen künftig nicht mehr ausschließlich bei den freitäglichen Livestreams ankündigen.
»Fain macht die Tarifverhandlungen wieder politischer, will die Löhne an die Unternehmensgewinne koppeln und formuliert ein weiter gefasstes soziales Ideal, indem er unter anderem eine grundsätzlich kürzere Wochenarbeitszeit ohne Lohnkürzungen fordert.«
Fains ebenso öffentlichkeitswirksames wie für die Konzerne unberechenbares Vorgehen sorgt bei den Chefs der Automobilunternehmen für Nervosität und Empörung. Die CEOs haben bereits mehrere Erklärungen abgegeben, in dem sie Fain für sein »Theater« und das potenzielle Scheiternlassen der Verhandlungen kritisieren. Doch trotz dieser Beschwerden sehen sich die Firmen offensichtlich unter Druck gesetzt, sich zu bewegen. Die Live-Streams am Freitag wirken wie eine Deadline, die die Verhandlungsführer auf Unternehmensseite verinnerlicht haben. Bereits dreimal wurde der Live-Stream kurzfristig verschoben – nicht wegen technischer Probleme, sondern weil die Verhandlungsteams der Konzerne in letzter Minute Zugeständnisse machten; in der Hoffnung, dass ihr Unternehmen in dieser Woche von einer Verschärfung des Streiks verschont bleibt.
Einige Aspekte der aktuellen UAW-Strategie sind neu, zum Beispiel die starke Präsenz auf Social Media. Andere, wie der Streikposten-Chic und die besagten modischen Statements des Vorsitzenden in seinen Live-Streams, sind auf Fain und seine Persönlichkeit zugeschnitten. Viele Beobachter merken jedoch an, dass der aktuelle Streik stark an frühere Traditionen der Gewerkschaft anknüpft, bevor diese handzahm wurde und vor allem Zugeständnisse an die Konzerne »aushandelte«.
Taktisch erinnert der Streik von 2023 an den Sitzstreik 1936-1937, in dessen Zuge die UAW gegründet wurde. Ganz grundsätzlich scheinen wir eine Rückkehr der UAW als eine Kraft, die für die gesamte Arbeiterklasse und für eine umfassendere sozialpolitische Vision einsteht, zu erleben.
In einigen Berichten wird betont, Fain übernehme offenbar Taktik-Aspekte des letzten UAW-Präsidenten, der eine vergleichbare nationale Bedeutung erlangte: Walter Reuther. Es war Reuther, der zunächst als UAW-Vertreter bei GM und dann als Präsident der UAW die Musterverträge in der Automobilindustrie ausarbeitete, die in der Nachkriegszeit den Goldstandard für Jobs der Arbeiterklasse setzten. Er versuchte damals auch, diese Verträge mit einer breiteren sozialdemokratischen Vision zu verbinden, in der Gewerkschaften wie die UAW eine viel größere Rolle bei der Gestaltung des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Lebens spielen sollten.
Letztendlich war Reuther in letzterer Hinsicht nicht erfolgreich. Endergebnis war ein Verhandlungssystem mit den Big Three, das zwar zu echten Verbesserungen für die Automobilarbeiter führte, aber auch den Boden für die Krisen bereitete, mit denen die Gewerkschaft heute zu kämpfen hat.
Mit der aktuellen Streik-Taktik greift Shawn Fain auf das alte Reuther-Playbook zurück – dieses Mal soll es aber ein anderes Resultat geben.
Gehen wir zurück zu den Verhandlungen mit GM im Jahr 1945: In dieser Verhandlungsrunde kämpfte Reuther für seine Vision, die auch eine Kontrolle der Gewerkschaft über die Investitionsentscheidungen des Unternehmens beinhaltete. Konkret verhandelte er nicht nur über die Löhne und Sozialleistungen der Arbeiterschaft, sondern auch über Fragen wie den Verkaufspreis der produzierten Autos. Die Hauptforderung der Gewerkschaft unter dem Slogan »Kaufkraft für Wohlstand« (Purchasing Power for Prosperity) war eine 30-prozentige Lohnerhöhung sowie gleichzeitig keine Erhöhung der Fahrzeugpreise. Sie war somit nichts anderes als ein ausdrücklicher Versuch, die Gewinnströme des Unternehmens vom Kapital zur Arbeiterschaft umzuleiten.
»Der Ansatz der Gewerkschaft in Bezug auf Verhandlungen und Streiks unterscheidet sich deutlich von dem der UAW der vergangenen Jahrzehnte.«
Ebenso wie UAW-Chef Fain heute, betrachtete Reuther die Verhandlungen 1945 nicht nur als unternehmens- oder branchenintern, sondern als grundsätzlich gesellschaftlich und politisch. Er verband die Forderungen der Autoarbeiterschaft mit den Bemühungen um eine »realitätsnähere Verteilung des amerikanischen Reichtums«, wie er es ausdrückte. Er verlangte, dass GM »seine Bücher offenlegt«, um zu beweisen, dass der Konzern sich die Gehaltserhöhungen durchaus leisten konnte. Über die Löhne hinaus verknüpfte Reuther die Verhandlungen mit einer umfassenderen, sozialdemokratischen Vision. Diese beinhaltete die Forderung nach Sozialleistungen wie einer landesweiten Gesundheitsversorgung, Rentenzahlungen, verbesserten Urlaubs- und Freistellungsregelungen für alle Arbeiterinnen und Arbeiter oder eine Erhöhung des Arbeitslosengeldes.
Da er einen solchen umfassenden Kampf führte und ihn politisch auslegte, machte Reuther die Verhandlungen von 1945 auch zu einer öffentlich geführten Auseinandersetzung. Er legte den Stand der Gespräche mit der GM-Spitze nicht nur für die Gewerkschaftsmitglieder offen, sondern auch für die Presse, indem er stets Reporter zu den Gesprächen mitbrachte, damit die Entwicklungen in den Zeitungen abgedruckt werden konnten.
Wie zu erwarten, wollte GM nichts von Reuthers Vision wissen. Die Uneinigkeit führte zu einem 113-tägigen Streik, der bis ins Jahr 1946 dauerte und das Unternehmen vollständig lahmlegte. Es war ein harter Kampf und Teil der größten Streikwelle in der Geschichte der USA, bei der in einem einzigen Jahr elf Prozent der nicht in der Landwirtschaft beschäftigten Arbeiterinnen und Arbeiter streikten.
Am Ende stand eine Einigung, die in vielerlei Hinsicht ein Sieg für die UAW war. Wie es der Historiker und Reuther-Biograph Nelson Lichtenstein ausdrückte, war dies jedoch ein »Pyrrhussieg«. Die Gewerkschaft konnte zwar Lohnerhöhungen durchsetzen, scheiterte aber mit ihren Bemühungen, auch die Preisgestaltung zu kontrollieren. Darüber hinaus machte die grassierende Nachkriegsinflation die in den Verhandlungen erzielten Lohnerhöhungen schnell wieder zunichte.
Die Beilegung des Streiks markierte den Beginn einer politischen Gegenreaktion, die mit der Übernahme des Kongresses durch die Republikaner im Jahr 1946 begann und im Taft-Hartley Act von 1947 gipfelte, der die organisierte Arbeiterschaft weitgehend lähmte. Gleichzeitig scheiterten sozialdemokratische Gesetzesentwürfe wie die Wagner-Murray-Dingell Bill, mit der ein landesweites Gesundheitssystem eingeführt worden wäre.
Diese Entwicklungen führten dazu, dass sich Reuther bei der nächsten Verhandlungsrunde mit GM im Jahr 1950 in einer gänzlich anderen Ausgangssituation wiederfand. An seiner Vision von 1945 hatte sich grundsätzlich nichts geändert, aber ihm fehlten die Hebel, diesen Forderungen Nachdruck zu verleihen. Diese Erkenntnis veränderte den Verhandlungsstil der UAW grundlegend. Da er seine größeren Ziele offensichtlich nicht erreichen konnte, gab sich Reuther mit einer Regelung zufrieden, die im Grunde auf einen »privaten Wohlfahrtsstaat« für die Arbeiterinnen und Arbeiter innerhalb der Automobilindustrie hinauslief. Die Gewerkschaft war nach wie vor nicht in der Lage, die Investitions- und Produktionsentscheidungen des Managements zu kontrollieren, und begnügte sich damit, künftig lediglich die Bedingungen für die Ausbeutung der Arbeiterschaft auszuhandeln.
Am Ende der Verhandlungen stand der sogenannte Vertrag von Detroit. Anders als 1945 fanden die Verhandlungen dazu weitgehend im Geheimen zwischen hochrangigen Gewerkschafts- und Unternehmensvertretern statt. Allerdings bescherte er den Autoarbeitern eine beispiellose Verbesserung ihres Lebensstandards. Er garantierte nicht nur regelmäßige Lohnerhöhungen zusätzlich zu einer automatischen Anpassung an die Lebenshaltungskosten, sondern auch Renten- und Gesundheitsleistungen.
Im Gegenzug erhielt der GM-Konzern seinerseits mehr Stabilität und Kontrolle. Im Gegensatz zu früheren Verträgen hatte die Einigung von 1950 eine Laufzeit von fünf Jahren, was damals beispiellos war. Außerdem überließ die Gewerkschaft GM die vollständige Kontrolle über Management- und Produktionsentscheidungen.
In Reaktion darauf veröffentlichte Daniel Bell, der später ein bekannter Soziologe werden sollte und damals als Redakteur im Ressort »Arbeit« beim Magazin Fortune arbeitete, eine Analyse des Abkommens. Er brachte dort auf den Punkt, was der Vertrag von Detroit tatsächlich bedeutete: »Der Friedensschluss mit der Gewerkschaft mag GM eine Milliarde gekostet haben. Das klingt nach viel, war aber ein Schnäppchen [...] General Motors hat die Kontrolle über eine der wichtigsten Managementfunktionen gesichert – die langfristige Planung von Produktion, Modellwechseln und Investitionen in Werkzeuge und Anlagen.«
»Was den heutigen Kampf der UAW so erfrischend und hoffnungsfroh macht, ist, dass Fain versucht, mehr von Reuther 1945 und weniger von Reuther 1950 umzusetzen.«
Reuther seinerseits sah den Vertrag von Detroit als Basis, auf der er seine ehrgeizige, frühere Vision aufbauen konnte. Am Ende war der Vertrag aber ein gewerkschaftlicher Höhepunkt, der den Handlungsspielraum der UAW in Zukunft einschränkte. Er lenkte die Interessen der allermeisten Gewerkschaften weg von grundsätzlichen sozialen Zielen und hin zum Aufbau von »privaten Wohlfahrtsstaaten auf jeweiliger Unternehmensebene« für ihre eigenen Mitglieder. Dies machte es nicht nur schwieriger, auf umfassendere politische Reformen zu drängen, sondern trug auch dazu bei, das Bild der Gewerkschaften als engstirnige »Sonderinteressen«-Gruppen zu prägen, die nur für ihre eigenen Leute einstehen.
Die Einigung führte des Weiteren dazu, dass einzelne Unternehmen die Renten- und Krankenversicherungsleistungen für ihre Angestellten finanzierten. Als jedoch die Kosten für die Gesundheitsfürsorge in die Höhe schnellten und einige Unternehmen letztendlich mehr Rentnerinnen als Arbeiterinnen hatten, gerieten diese »privaten« oder »firmeninternen Wohlfahrtsstaaten« ins Wanken.
Somit mag die Einigung von Detroit zwar den Grundstein für die ökonomisch gerechter organisierten und erfolgreichen Nachkriegsjahrzehnte in den Vereinigten Staaten gelegt haben, aber sie bildeten auch den Grundstein für den zukünftigen Niedergang der Gewerkschaften, insbesondere der UAW.
Was den heutigen Kampf der UAW so erfrischend und hoffnungsfroh macht, ist, dass Fain versucht, mehr von Reuther 1945 und weniger von Reuther 1950 umzusetzen. Er macht die Tarifverhandlungen wieder politischer, will die Löhne an die Unternehmensgewinne koppeln und formuliert ein weiter gefasstes soziales Ideal, indem er unter anderem eine grundsätzlich kürzere Wochenarbeitszeit ohne Lohnkürzungen fordert. Fain geht teilweise sogar über Reuther hinaus, indem er eine Klassenkampf-Rhetorik pflegt, die Klasse der Milliardäre direkt angreift und die Arbeiterinnen und Arbeiter aufruft, für ihre eigene Befreiung zu kämpfen.
Es mögen ambitionierte, hochgesteckte Ziele sein – und ein Scheitern ist durchaus denkbar. Doch es ist das erste Mal seit Jahrzehnten, dass ein wichtiger Teil der amerikanischen Arbeiterbewegung endlich wieder versucht, einen grundlegend anderen Weg einzuschlagen.
Barry Eidlin ist Assistenzprofessor für Soziologie an der McGill University und vormals leitender Gewerkschaftsvertreter der UAW im Ortsverband 2865.