16. Juli 2021
Die Flutkatastrophe im Westen Deutschlands zeigt unsere durch den Klimawandel erhöhte Verwundbarkeit gegenüber den Naturgewalten. Doch Fatalismus wäre die falsche Reaktion.
In Köln lief der Rhein über die Ufer und überflutete Straßen und Keller.
Über achtzig Menschenleben haben die katastrophalen Überschwemmungen im Westen Deutschlands bereits gekostet. Im Fernsehen und in den sozialen Medien sieht man Opfer und Helferinnen unter Schock: Das Wasser zerstört Ortschaften innerhalb von Minuten und reißt alles mit sich. Selbst wer hunderte Meter von Flüssen und Bächen entfernt wohnt, kann seinen gesamten Haushalt davonschwimmen sehen.
Niemand, der nun durch das Hochwasser obdachlos geworden ist, hätte vor drei Tagen auch nur im entferntesten damit gerechnet. Mancherorts konnten die Pegelstände der Flüsse nicht mehr gemessen werden, weil es als ausgeschlossen galt, dass das Wasser jemals so hoch steigen würde. Es stellt sich die Frage, wie lange ein privatwirtschaftlich organisiertes Versicherungswesen für solche Milliardenschäden noch wird aufkommen können, bevor es kollabiert und damit die nächste Finanzkrise auslöst. Die menschlichen und ökonomischen Risiken solcher Extremwetterereignisse werden zunehmend unkalkulierbar, nicht nur auf individueller, sondern sogar auf kollektiver Ebene.
Der Zusammenhang zunehmender Extremwetterereignisse mit der menschengemachten Klimakatastrophe lässt sich nicht nur statistisch darlegen: Auch der Mechanismus, der in den gemäßigten Breiten zu immer stärkeren Wetterextremen führt, wird wissenschaftlich immer besser verstanden: Das wechselhafte, milde Wetter, das wir in Nordeuropa und anderen Regionen bisher gewohnt sind, wird von sich abwechselnden Hoch- und Tiefdruckgebieten erzeugt. Diese entstehen durch den Temperaturunterschied zwischen der Arktis und den Subtropen, welcher zusammen mit der Erdrotation einen polaren Jetstream erzeugt.
Doch das Sommereis der Arktis schmilzt und kann so weniger Sonnenlicht ins Weltall zurückspiegeln, was zu einer sprunghaften Erwärmung der Polarregion führt. So wird die Temperaturdifferenz kleiner, der Jetstream schwächt sich ab und bildet stehende Wellenmuster. Das führt dazu, dass Hoch- oder Tiefdruckgebiete wochenlang an einem Ort verharren. Die Folge: Entweder extreme Dürre oder extreme Niederschläge in einer Region – eine enorme Belastung für die menschliche Gesundheit, Infrastruktur und Landwirtschaft. Das Auftreten dieser stehenden Wellenmuster erhöht auch das Risiko des Ausfalls mehrerer »Kornkammern der Welt« auf der Nordhalbkugel und damit weltweiter Hungerkatastrophen.
Wieder einmal zeigt sich: Wenn wir das Klima weiter destabilisieren, nehmen wir damit unbeherrschbare Risiken in Kauf. Der gradualistische Ansatz, der die Lösung des Klimaproblems immer weiter in die Zukunft verschiebt und sich in erster Linie neoliberaler Marktinstrumente bedient, ist gescheitert. Die Stabilisierung des Klimas muss als dringende Aufgabe betrachtet werden – ein der jetzigen Situation angemessener Klimaschutz würde weltweit klotzen statt kleckern und die Transformation aller Wirtschaftsbereiche unverzüglich in Angriff nehmen. Ein absolutes Minimum wäre, dass sich die Weltgemeinschaft einigt, ab sofort keine Investitionen mehr in fossile Infrastruktur vorzunehmen. Dies wird aber nur gelingen, wenn wirtschaftlich eine echte post-fossile Perspektive für die ganze Welt geschaffen werden kann.
Die notwendige Voraussetzung für die Stabilisierung des Klimas ist, dass die Emissionen von CO2, Methan, Lachgas und anderen Klimagasen sinken – und zwar schnell. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die meisten Klimamodelle zu dem Schluss kommen, dass Emissionsminderungen allein nicht mehr ausreichen werden, um die Erderwärmung auf eineinhalb Grad zu begrenzen. Es werden zusätzliche Maßnahmen notwendig sein, die CO2 aktiv aus der Erdatmosphäre entfernen – vielleicht sogar noch extremere Mittel. Denn selbst anderthalb Grad könnten sich am Ende als zu destabilisierend für eine Infrastruktur herausstellen, die seit Jahrtausenden auf das gleiche Weltklima ausgelegt ist. Denn in der Tat war dieses in den letzten zehntausend Jahren sogar ungewöhnlich stabil, was die Sesshaftwerdung der Menschheit und die Entwicklung von Ackerbau in vielen Regionen der Welt begünstigte.
In diesem Zusammenhang muss sich nicht zuletzt die Linke selbstkritische Fragen stellen: Unser Angebot für eine bessere Zukunft bleibt auch in der Klimafrage zu nebulös und phrasenhaft. Doch das Klimaproblem lösen wir nicht in unseren Subkulturen, sondern durch eine Bewegung zur kollektiven Selbstermächtigung, über die Stabilität und Handlungsmacht wiedergewonnen werden können.
In der Pandemie hat sich gezeigt, in welcher Weise eine Gesellschaft wie die unsere auf systemische Krisen reagiert: Sie werden auf den Schultern der arbeitenden Klasse ausgetragen, während die Elite aggressiv ihre Privilegien verteidigt. Im Zweifel wird lieber in Bürgerrechte und Privatleben eingegriffen als in die wirtschaftlichen Interessen von Milliardären und Konzernen. Auch wenn die Behauptung von Analogien zwischen der Pandemie und dem Klima in vielen Fällen in die Irre führen kann: In dieser Hinsicht bietet unser Umgang mit Corona durchaus einen Ausblick darauf, wie unsere weitere Handhabung der Klimakatastrophe ausfallen könnte. Das zeigt sich schon heute in unserer Behandlung von Geflüchteten, die in vielen Fällen vor den multidimensionalen Katastrophen Schutz suchen, zu denen es kommt, wenn rapide Klimaveränderungen auf eine durch koloniale und neokoloniale Ausbeutung geschwächte Infrastruktur treffen. Eine Welt, welche die Stabilisierung des Klimas Großkonzernen und Privatinteressen überlässt, bringt auch auf diese Weise neue Formen des Ausschlusses und der Ausbeutung hervor.
Ein demokratischer und solidarischer Umgang mit der Klimakrise verlangt dagegen vor allem eines: Viel Koordination und Planung – auf regionaler, nationaler und globaler Ebene. Ganz kontrollieren oder beherrschen werden wir die Natur nie; an unsere biologische Verwundbarkeit hat uns die Pandemie zu Genüge erinnert. Gleichzeitig gilt bei allem gebührenden Respekt vor der Natur: Es gibt keine Ausstiegsoption aus der industriellen Zivilisation. Ein Planet von mehr als acht Milliarden Menschen muss einen neuen Umgang mit industriellen Technologien finden. Innovation muss auf der Ebene ganzer soziotechnischer Systeme – nicht nur einzelner Gadgets – stattfinden. Die Erde wird eine Kulturlandschaft bleiben. Wir können uns nicht mehr auf die Selbstregulierung der Ökosysteme und des Klimas verlassen – sie werden immer wieder unserer aktiven Intervention bedürfen.
Diese neue Verantwortung der Menschheit ist die wahre Bedeutung des Anthropozäns. Sie verlangt nach einem Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, welches, – anders als der Kapitalismus – lange in die Zukunft planen und die Wünsche und Bedürfnisse unterschiedlichster Gruppen auf einem äußerst diversen Planeten demokratisch koordinieren und klug mit seinen begrenzten Ressourcen haushalten kann. Ansonsten verbleibt die Macht, unsere Umwelt zu beeinflussen und zu formen, bei den Reichen und Mächtigen, die sie zu ihrem eigenen Nutzen zu gebrauchen wissen werden. Die Frage ist nicht, ob die Umwelt von morgen ein in weiten Teilen geplantes System sein wird. Die Frage ist, wer es planen wird: Die Wenigen oder die Vielen.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.