22. März 2024
Während EU-Beitrittsgespräche mit der Ukraine laufen, machen sich Wirtschaftseliten und Gewerkschaften jeweils eigene Vorstellungen von der Zukunft des Landes.
»Die Zukunft der Ukraine ist derzeit eine Rechnung mit vielen Unbekannten.«
In der beliebten ukrainischen Fernsehserie Diener des Volkes gibt es eine Szene, in der Präsident Wassyl Holoborodko, gespielt vom damaligen TV-Star Wolodymyr Selenskyj, einen Anruf von Angela Merkel erhält: »Herzlichen Glückwunsch, wir haben entschieden, Ihr Land in die EU aufzunehmen«, teilt sie dem verdutzten Staatsoberhaupt mit. »Vielen Dank, die Ukrainer haben so lange auf diesen Moment gewartet«, jauchzt Holoborodko in den Hörer, im Hintergrund ertönt feierlich die EU-Hymne Ode an die Freude. »Die Ukrainer?«, fragt Merkel verwundert. »Oh, entschuldigen Sie, mein Fehler. Ich wollte eigentlich in Montenegro anrufen.«
Ausgestrahlt wurde die Sendung vor bald zehn Jahren. Heute hängt Montenegro – zusammen mit Ländern wie der Türkei, Bosnien, Serbien und Albanien – noch immer in der europäischen Warteschleife. Einige der insgesamt neun Kandidierenden haben die Verhandlungen über eine Mitgliedschaft bereits vor Jahrzehnten eröffnet. Selenskyj ist jetzt auch im wirklichen Leben ukrainischer Präsident, seine Partei heißt wie in der Serie Diener des Volkes. Und sein Land befindet sich endlich auf dem Weg in die EU – auch wenn unter vollkommen anderen Umständen, als man es sich vor einem Jahrzehnt vorstellte.
Mitte Dezember nahm Brüssel offiziell Beitrittsgespräche auf, Ende Januar begann dann der sogenannte Screening-Prozess, bei dem die ukrainischen Gesetze auf ihre Kompatibilität mit jenen der EU überprüft werden. Zehn Jahre nach der – in der Ukraine als »Euromaidan« bekannten – Revolution auf dem Kyjiwer Unabhängigkeitsplatz und mehr als zwei Jahre seit Beginn des vollumfänglichen russischen Angriffs ist damit ein entscheidender Schritt in Richtung Mitgliedschaft getan. Ein Schritt, der auch der Mehrheitsmeinung in der Ukraine entspricht: War bis zum Euromaidan nur knapp die Hälfte der Menschen für einen EU-Beitritt, sprachen sich im vergangenen Herbst gemäß einer Umfrage des Kyiv International Institute of Sociology 92 Prozent für einen Beitritt aus.
Der Weg dorthin dürfte allerdings noch immer sehr weit sein. In den kommenden Jahren, wenn nicht Jahrzehnten, wird es um die Übernahme des Rechtsbestands der EU – des sogenannten Acquis mit seinen 35 Beitrittskapiteln auf vielen tausend Seiten – gehen, sowie um die Kopenhagen-Kriterien in den Bereichen Wirtschaft, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte. Und ob am Ende dieses Prozesses dann tatsächlich der EU-Beitritt steht, ist ungewiss.
Denn neben den formalen Kriterien hängt dieser nicht zuletzt vom Ausgang des russischen Feldzugs gegen die Ukraine ab. Dass ein Land mitten im Krieg der EU beitritt, ist noch nie vorgekommen. Unwahrscheinlich ist ein solcher Beitritt auch, weil der EU-Vertrag im Kriegsfall eine Beistandspflicht vorsieht – und die Anwendung des entsprechenden Paragrafen zum jetzigen Zeitpunkt ausgeschlossen scheint.
Doch sollte am Ende der langen Verhandlungen mit Brüssel tatsächlich irgendwann eine Aufnahme in den exklusiven Club stehen, bleibt die Bedeutung europäischer Integration dennoch umkämpft: Während wirtschaftliche Eliten im Hinblick auf die Nachkriegsukraine ein einträgliches Geschäft wittern, haben ukrainische Linke und Gewerkschaften ganz eigene Vorstellungen davon, was es ihnen bringt, Teil der EU zu sein.
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!
Anna Jikhareva ist Politologin und Redakteurin bei der Schweizer Wochenzeitung WOZ.