14. Dezember 2020
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband setzt sich für die Ärmsten in unserer Gesellschaft ein. Im Interview erklärt Geschäftsführer Ulrich Schneider, was die Betroffen vor allem anderen brauchen: mehr Geld.
Die Armut hat in diesem Jahr ein Rekordhoch erreicht.
Unter dem Titel »Gegen Armut hilft Geld« hat der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband seinen jährlichen Armutsbericht veröffentlicht, der die Armutsentwicklung in Deutschland im Jahr 2019 analysiert. Das traurige Ergebnis: Die Zahl der von Armut betroffenen oder bedrohten Menschen steigt weiter an – und ist jetzt auf dem höchsten Stand seit der Wiedervereinigung. Laut dem Bericht beläuft sich die Armutsquote in Deutschland auf 15,9 Prozent und damit auf mehr als 13 Millionen Menschen. Und das noch vor Ausbruch der Corona-Pandemie.
Im Interview erklärt Ulrich Schneider, welche Bevölkerungsgruppen am stärksten von Armut betroffen sind, und warum die armutspolitische Ignoranz der Bundesregierung vor und während der Corona-Krise aller Voraussicht nach zu einer drastischen Verschärfung der Armut in Deutschland führen wird. Dabei plädiert der Geschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands vor allem für eines: Die gesamte Gesellschaft muss sich mutiger gegen Armut einsetzen.
Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband hat im November seinen jährlichen Armutsbericht veröffentlicht. Was sind die Ergebnisse?
Die Armut ist leider auf einem absoluten Rekordhoch angelangt. Wir hatten im letzten Jahr die Situation, dass die Armut ein bisschen zurückgegangen war. Kurz dachte man, es gibt vielleicht eine Trendwende, dass der jährliche Anstieg der Armut gestoppt wird und sich die Situation zum Positiven wendet. Aber bei dem neuen Bericht, der sich auf das Jahr 2019 bezieht, mussten wir feststellen, dass die Armut schon wieder gewachsen war. 15,9 Prozent der Menschen in Deutschland leben in Einkommensarmut – und das ist absolut schlecht.
Was erwartest Du für die Zahlen im nächsten Jahr, die dann auf den tatsächlichen Zahlen aus dem Corona-Jahr 2020 beruhen?
Ich denke, dass die Armut nochmals steigen wird. Das ist ja nicht selbstverständlich. Theoretisch könnte man das auch so sehen: Corona reißt die Wirtschaft ein, klar. Aber alle werden die Lasten gleichermaßen tragen. Und dann wird sich an der Einkommensarmutsquote, die ja immer relativ ist, überhaupt nicht viel ändern. Aber im Moment ist es so, dass finanziell wieder diejenigen am stärksten betroffen sind, die ohnehin schon wenig hatten.
Wenn man sich bloß anschaut, welche Arbeitsplätze verloren gegangen sind. Das waren von April bis zum Sommer 260.000 Minijobber – was vor allem Studentinnen und Studenten betrifft und alte Leute, die sich was hinzuverdienen. Leiharbeiter, die ja nicht viel verdienen, waren ebenfalls als erste betroffen. Und wenn man sich auch die Gesellschaftsgruppen anschaut, die jetzt im zweiten Lockdown wieder die größten Einbußen machen, dann sind das die Beschäftigten in der Gastronomie, Soloselbstständige, Künstler und so weiter. Also Menschen, die ohnehin schon wenig hatten. Von all denen werden viele in die Armut fallen. Denn: die Folgen der Coronakrise sind eben nicht gleich verteilt. Deshalb gehen wir davon aus, dass die Armutsquote zunehmen wird.
Man muss aber auch sehen, dass 80 Prozent der Menschen keine finanziellen Einbußen durch die Coronakrise haben. Das Problem ist nur, dass die restlichen 20 Prozent nicht die Superreichen sind, sondern nun mal die Armen.
Sehr erschreckend ist die Steigerung bei der Altersarmut um fast 66 Prozent seit Anfang Eurer Berichterstattung über die Armut in Deutschland im Jahr 2005.
Man muss fast sagen, das ist kein Wunder. In den vergangenen Jahren sind gleich mehrere Sachen zusammengekommen. Zum einen wurde nach der Jahrtausendwende unter Rot-Grün eine Amerikanisierung des Arbeitsmarktes eingeleitet. Also es wurden viele schlecht bezahlte Jobs geschaffen. Einen großen Niedriglohnsektor aufzubauen war damals auch das Ziel der Regierung. Menschen mit solchen Jobs können noch so lange und so viel arbeiten – sie werden im Alter auf keinen grünen Zweig kommen. Nach der 2000er Wende gab es dann zusätzlich immer mehr Leiharbeit.
Zu alledem kam, dass in dieser Zeit das Rentenniveau auf Talfahrt geschickt wurde. Zusammen kann der Effekt nur sein, dass die Armut unter Rentnern zunimmt. Und leider hat sich das statistisch bestätigt.
Was könnte man gegen Armut tun?
Den Leuten Geld geben – und zwar allen Ernstes. Da wird immer drum herumgeredet. Wenn ich jetzt sagen würde, Bildung ist es oder wenn ich sagen würde, wir müssen armen Menschen bei der Arbeit helfen, dann würden alle applaudieren. Sobald man aber erklärt, dass arme Menschen eigentlich mehr Geld brauchen, dann zucken unheimlich viele zusammen. Geld? Geld kann es doch nicht sein? Aber es ist in der Tat so. Was die Menschen brauchen, ist Geld.
Wir haben rund 13,2 Millionen Arme in Deutschland und rund zwei Drittel davon sind Rentnerinnen und Rentner. Ein Rentner oder eine Rentnerin braucht keine Fortbildung. Das ist alles Nonsens. Was die Leute benötigen, ist eine höhere Rente oder andere Hilfen. Sie brauchen mehr Geld. Bei vielen Erwerbstätigen ist es das Gleiche. Wir haben in Hartz IV rund eine Million Menschen, die aufstocken müssen, und das sind nicht alles nur Minijobber. Das sind Leute, von denen mehr als die Hälfte sozialversicherungspflichtig beschäftigt sind. Darunter sind ganz viele Alleinerziehende, die aber erst mal nicht so tolle Jobs haben, bei denen man nicht wahnsinnig viel verdient. Dazu kommt, dass Alleinerziehende auch nicht 40 Stunden arbeiten können, weil sie nun mal Kinder zu Hause haben. Auch die brauchen Geld, ganz einfach. Und so ist es leider bei ganz vielen armen Menschen. Von den 6 Millionen Hartz IV-Beziehern sind nur 1,5 Millionen wirklich arbeitslos. Und nur bei Letzteren hilft Arbeit.
Was sind Eure konkreten Vorschläge zur Armutsbekämpfung und wie waren die Reaktionen auf den neuen Armutsbericht?
Wir haben schon vor vier Wochen deutlich gemacht, dass wir die Hartz-IV-Regelsätze für absolute Armutssätze halten. Man kommt mit den paar Euro wirklich nicht hin. Und auch wenn das jetzt nochmal um ein paar Euro erhöht wird – also auf 434 Euro –, hat man, wenn man alleine lebt, keine Chance über den Monat zu kommen. Wir fordern 644 Euro im Monat, und zwar plus Strom, plus Heizung und plus Miete. Erst dann würden wir vom Paritätischen Wohlfahrtsverband davon sprechen, dass man die Einkommensarmut gesichert hat.
Und wie sowas ankommt? Also die neoliberale Presse, sagt wir seien nur wüste Umverteiler, und dass es uns gar nicht darum gehe, den Armen was zu geben, sondern vor allem darum, den Reichen was wegzunehmen – also eine ganz bizarre Vorstellung von unserer Motivation. Es wird auch häufig versucht, uns zu diskreditieren, etwa mit Begriffen wie »Sozialindustrie«. Außerdem erleben wir häufig, dass uns vorgeworfen wird, wir seien unrealistisch, unpolitisch und nicht in der Lage, Forderungen zu formulieren, auf die andere zugehen könnten.
Es gibt aber auch positive Reaktionen. Beispielsweise bei den Grünen oder der Linken. Die kommen in ihren Forderungen zur Armutsbekämpfung auf die gleichen Beträge wie wir und fühlen sich durchaus von Verbänden wie der Diakonie, Caritas oder uns getragen. Also wir haben mittlerweile schon ein breites Bündnis stehen. Nur bei der Bundesregierung könnten wir noch ein paar mehr Fans haben.
Angela Merkel hat in einer Haushaltsdebatte Ende 2016 gesagt: »den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut wie heute«. Gleichzeitig hat die EU-Kommission der deutschen Politik attestiert, im Zeitraum von 2008 bis 2014 in hohem Maße zur Vergrößerung der Armut beigetragen haben. Das ist unter anderem auf die Tatsache zurückzuführen, dass die bedarfsabhängigen Sozialleistungen im Verhältnis zur Einkommensentwicklung gesunken sind. Wir haben also in den 2000er Jahren das größte Wirtschaftswachstum seit Ende des Krieges erlebt, und gleichzeitig erleben wir einen Anstieg der Armut. Was erwartest Du konkret von der nächsten Bundesregierung?
Selbstverständlich sollen die Regelsätze für Hartz IV angehoben werden. Das erwarte ich jetzt seit dreißig Jahren. Aber es ist auch klar: Wir dürfen nicht aufgeben. Es müssen mehr Menschen die Erwartung an die Politik formulieren, dass die Spaltung unserer Gesellschaft nicht mehr hinnehmbar ist. Es muss erkannt werden, dass dieser rechtsradikale Spuk in Deutschland nur mit einer guten Sozialpolitik, die den Menschen Sicherheit gibt, beendet werden kann. Dafür werden wir im nächsten Jahr massiv werben.
Außerdem erwarten wir eine inklusivere Politik, die behinderte Menschen endlich wie selbstverständlich teilhaben lässt und nicht weiter aussondert. Wir erwarten eine Politik, die alle einbezieht. Grundlage dafür ist eine andere Steuerpolitik. Wenn wir nicht umverteilen, wenn wir nicht diejenigen mit riesigem Einkommen und Vermögen stärker in die Pflicht nehmen, dann werden wir diese Gesellschaft nicht zusammenhalten können. Das sagen wir den Menschen, das fordern wir von der Politik. Und dann hoffe ich auch, dass man am Ende vielleicht mehr Vernunft und mehr Gerechtigkeit in die Politik kommt.
Wenn Du sagst, »wir« werden dafür werben, dann meinst Du den Paritätischen Wohlfahrtsverband?
Ja. Wir sind aber auch mit einer ganzen Reihe von Organisationen in Bündnisgesprächen, zum Beispiel mit dem BUND. Weil wir sagen: Die ökologische und die soziale Wende gehören zusammen. Außerdem sind wir mit Gewerkschaften zum Thema Umverteilung und einer rigoros anderen Steuerpolitik in Gesprächen. Hinzu kommt, dass wir mit Behindertenverbände zusammenarbeiten wollen.
Hier sind Menschen zusammengeschlossen, die massiv Angst vor den rechtsradikalen Umtrieben in Deutschland haben, und davor, dass mit der AfD Rechtsradikale wieder im Bundestag vertreten sind.
Glaubst Du, dass das Thema Armut nach der Coronakrise anders betrachtet wird?
Das ist schwer zu sagen, denn es gibt wirklich gnadenlos bornierte Vorurteile gegenüber armen Menschen. Also wirklich völlig falsche Bilder. Unsere Aufgabe ist es, diese Vorurteile aufzuknacken und dieses neoliberale Schubladendenken zu überwinden.
Und wie macht man das am besten?
Wir müssen den Menschen den Mut geben, wieder Selbstverständlichkeiten zu denken. Zum Beispiel, die Selbstverständlichkeit, dass man von seiner Arbeit gut leben und später mal eine richtig schöne Rente haben soll. Sobald man solche Forderungen äußert, kommen sofort irgendwelche Volkswirte und sagen: »Sind sie wahnsinnig, dann bricht unser Wirtschaftssystem zusammen, das ist alles unfinanzierbar!«.
Deutschland ist stinkreich. Wir müssen den Leuten Mut machen, den neoliberalen Ökonomen auch mal zu widersprechen. Bei der Einführung des Mindestlohns wurde von neoliberaler Seite dauernd behauptet, dass am nächsten Tag kein Auto mehr fahren würde, kein Taxi mehr zu kriegen sei, und dass die Friseure reihenweise zumachen würden. Nichts ist passiert.
Natürlich können wir uns ein Rentenniveau von 50 Prozent leisten und natürlich ist es nicht nötig, das volkswirtschaftliche Rentenniveau herunterzufahren. Das muss man den Leuten einfach nur klar machen – und ein Vorbild sein.
Aus der CDU werden ja Stimmen laut, man solle einfach privat vorsorgen. Vor allem der jungen Generation wird dann gerne eingeredet, dass die Alten ihnen was wegnehmen – dass es sich um einen Generationenkonflikt handelt.
Welchen Generationenkonflikt sollte ein arbeitsloser Jugendlicher mit seinem ewig arbeitslosen Vater haben? Und welchen Konflikt sollte ein Erbe von irgendeinem Finanzimperium mit seinen Eltern haben? Reiche bleiben reich und Arme bleiben arm. Es gibt nur einen Konflikt: den zwischen Arm und Reich, gerade wenn es um Umverteilung von Mitteln geht.