16. Mai 2024
Ungleichheit schadet nicht nur den Armen, sondern auch der Volkswirtschaft, der Demokratie und dem Klima. Um als Gesellschaft zu überleben, müssen wir den Reichtum rückverteilen, den einige wenige sich angeeignet haben.
Ein Flaschensammler in der Düsseldorfer Innenstadt.
Die Reichen werden immer reicher und die Armen immer zahlreicher. Das gewährleisten die kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen, die bestehenden Eigentumsverhältnisse und die ungerechten Verteilungsmechanismen – zumal der Neoliberalismus seine Hegemonie trotz der Banken- und Finanzkrise, seiner Untauglichkeit während der Covid-19-Pandemie und der seither unübersehbaren Inflationstendenzen nicht eingebüßt hat.
Armut dringt seit geraumer Zeit stärker in die Mitte unserer Gesellschaft vor, während sich der Reichtum immer mehr bei wenigen Familien konzentriert. Einerseits hat die Armutsbetroffenheit hierzulande im Jahr 2022 einen Rekordstand seit der Vereinigung erreicht: 14,2 Millionen Menschen (16,8 Prozent der Bevölkerung) hatten weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten mittleren Haushaltsnettoeinkommens zur Verfügung, was für Alleinstehende 1.186 Euro im Monat und 1.779 Euro für ein kinderloses Paar entsprach. Die höchsten Armutsrisiken wiesen Erwerbslose mit 49,7 Prozent, Alleinerziehende mit 43,2 Prozent und Nichtdeutsche mit 35,3 Prozent auf. Kinder und Jugendliche waren mit 21,8 Prozent stärker betroffen denn je. Zudem nimmt das Armutsrisiko der Seniorinnen und Senioren am stärksten zu.
Andererseits befinden sich die großen Privatvermögen in wenigen Händen: Die fünf reichsten deutschen Unternehmerfamilien (Albrecht/Heister, Böhringer, Kühne, Quandt/Klatten und Schwarz) besitzen zusammen etwa 250 Milliarden Euro und damit mehr als die ärmere Hälfte der Bevölkerung, das heißt weit über 40 Millionen Menschen. Rund 40 Prozent der Bevölkerung haben gar kein nennenswertes Vermögen. Über 30 Millionen Menschen leben – streng genommen – von der Hand in den Mund, weil ihnen Rücklagen fehlen, die man spätestens in einer finanziellen Krisensituation braucht, und sind im Grunde nur eine Kündigung oder eine schwere Krankheit von der Armut entfernt.
»Ungleichheit rechnet sich weder für die Volkswirtschaft, die an Dynamik einbüßt, noch für die Gesellschaft, deren Zusammenhalt schwindet.«
Tagtäglich findet Umverteilung von unten – den hart Arbeitenden – nach oben – zu den viel Besitzenden – statt: Unternehmensprofite, Veräußerungs- und Kursgewinne der Aktionäre, Dividenden, Zinsen sowie Miet- und Pachterlöse von Immobilienkonzernen fließen überwiegend in die Taschen materiell Bessergestellter, sind aber normalerweise von Menschen erarbeitet worden, die erheblich weniger Geld haben, oft nicht einmal genug, um in Würde leben zu können.
Nötig sind daher eine Rückverteilung des Reichtums von oben nach unten durch eine andere Steuerpolitik, eine Stärkung der öffentlichen Daseins- und Gesundheitsvorsorge sowie ein Ausbau der sozialen, Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur. Wenn die politischen Entscheidungsträger, wie sie zu betonen nicht müde werden, den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärken wollen, muss ihre Politik erkennbar dazu beitragen, die Kluft zwischen Arm und Reich zu schließen.
Wenn die zunehmende Ungleichheit primär eine Folge der neoliberalen Modernisierung unserer Gesellschaft ist, kann sie nur durch die Beseitigung oder die Milderung der Folgen dieses Prozesses mit Erfolg bekämpft werden. Weil der Neoliberalismus die soziale Ungleichheit legitimiert, ja geradezu glorifiziert, muss er wieder energischer bekämpft werden, will man gesellschaftliche Polarisierungsprozesse in Zukunft vermeiden. Ohne eine Abkehr vom Neoliberalismus ist die Rückverteilung des Reichtums nicht vorstellbar.
Die wirksamste Garantie für das Fortbestehen der sozioökonomischen Ungleichheit ist die Gleichgültigkeit der Bevölkerungsmehrheit. Sie zu durchbrechen, muss deshalb die wichtigste Aufgabe ihrer Kritikerinnen und Kritiker sein. Ungleichheits- beziehungsweise armutssensibles Handeln, das es zu fördern gilt, kann von der Erkenntnis motiviert sein, welche Nachteile mit Armut und sozialer Ungleichheit verbunden sind, oder von dem Wissen, welche Vorteile soziale Gleichheit ohne Armut beinhaltet. Weshalb tut die wachsende soziale Ungleichheit der Gesellschaft nicht gut? Warum sind Megavermögen auf der einen sowie Niedriglöhne, Minirenten und geringe Transferleistungen auf der anderen Seite des Verteilungsspektrums für die jeweiligen Individuen wie die Gesellschaft im höchsten Maß problematisch?
Durch eine Rückverteilung des Reichtums würden relativ wenige Hochvermögende und Spitzenverdiener etwas verlieren, sehr viele Besitzlose, Geringverdienerinnen und Transferleistungsbezieher aber etwas gewinnen. Daher muss der Ungleichheitsdiskurs um einen Gleichheitsdiskurs ergänzt werden. Dieser sollte auf der positiven Vision einer solidarischen, weitgehend egalitären Gesellschaft beruhen und Andersdenkende überzeugen. Welche immensen Vorteile würde eine Gesellschaft der Gleichheit mit sich bringen, und was könnte das für einzelne Individuen und Personengruppen bedeuten?
Bezogen auf die vorrangig zu adressierenden Personengruppen sind gute Argumente nötig, um sie zu überzeugen, dass mehr Gleichheit allen Menschen ermöglicht, ein Leben in Würde zu führen. Ganz entscheidend ist das öffentliche Bewusstsein, welches die mentale Basis für eine Erhaltung oder aber eine Umgestaltung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse bildet.
»Armut hält die Betroffenen von der politischen Einflussnahme (im Wahlakt) ab und Reichtum beeinflusst die staatlichen Entscheidungen unabhängig von Wahlen.«
Anscheinend ist die Bevölkerungsmehrheit der sozioökonomischen Ungleichheit gegenüber zuletzt sensibler geworden. Sie weist dem Staat heute eher die Aufgabe zu, die bestehenden Einkommens- und Vermögensunterschiede zu begrenzen, also neben der inneren und äußeren Sicherheit des Landes auch die Existenzsicherheit seiner Bürgerinnen und Bürger zu gewährleisten. Auch die öffentlichen Appelle, gründlich über die Einkommensunterschiede in Deutschland nachzudenken, häufen sich. Viel entscheidender ist jedoch die Verteilungsschieflage bei den Vermögen, das Arme höchstens in seiner negativen Form – den Schulden – haben.
Wenn es nicht gelingt, in der Bevölkerung mehr Armuts- und soziale Ungleichheitssensibilität zu erzeugen, fehlt jener massive außerparlamentarische Druck, der nötig sein wird, um die politisch Verantwortlichen zur Einsicht zu bringen. Erforderlich ist eine stärkere Medienresonanz für Prekarisierungs-, Marginalisierungs- und Pauperisierungsprozesse. Auch braucht es eine höhere Sozialmoral, die aufgrund der Wohnungsnot und des Mietwuchers in Großstädten wie Ballungsgebieten allmählich bis in die Mittelschicht reichende Desintegrations-, Exklusions- und Deprivationstendenzen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt begreift.
Über die Existenzangst armutsbetroffener und -bedrohter Menschen spricht man hierzulande aber immer noch viel zu wenig – und schon gar nicht mit den Leidtragenden selbst. Dass arme Menschen unter ihrer Bedürftigkeit schon deshalb sehr leiden, weil sie stigmatisiert, marginalisiert und sozial ausgegrenzt werden, ist banal. Obwohl die Armut nicht ansteckend ist, werden Arme wie Aussätzige behandelt.
Ein höheres Maß an Gleichheit ist wirtschaftlich sinnvoll, ökologisch notwendig, moralisch geboten, verteilungsgerecht und politisch möglich. Damit mehr Gleichheit erreicht und die Gleichgültigkeit der Ungleichheit gegenüber durchbrochen wird, muss vielen Menschen bewusst gemacht werden, dass es bei der Rückverteilung des Reichtums nicht bloß um die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit, sondern auch um die Bewahrung des gesellschaftlichen Wohlstandes, die Sicherung der Demokratie, die Rettung des Planeten und die Verhinderung eines Krieges geht. Hiermit sind zentrale Gegenstandsbereiche benannt, auf denen Überzeugungsarbeit dazu beitragen kann, dass es zur Beseitigung der globalen und der innergesellschaftlichen Verteilungsschieflage kommt.
Die Fähigkeit, finanzielle Ressourcen nicht für die private Lebensführung zu verausgaben, wie auch die Neigung zum Sparen nehmen tendenziell mit der Höhe des Einkommens und Vermögens einer Person zu. Daher entzieht die Kapitalkonzentration in den Händen einiger weniger der Volkswirtschaft die Mittel, die sie benötigt, um die Binnenkonjunktur anzukurbeln und damit nach keynesianischem Muster Wirtschaftskrisen zu bewältigen. So lähmt die Monopolisierung auch die Wachstumskräfte der Wirtschaft, wodurch die Krisenhaftigkeit des Systems steigt und der zunehmende private Reichtum wiederum mehr Armut schafft.
Pointiert formuliert: Ungleichheit rechnet sich weder für die Volkswirtschaft, die an Dynamik einbüßt, noch für die Gesellschaft, deren Zusammenhalt schwindet. Umverteilung von oben nach unten würde der Volkswirtschaft nützen, eine Stärkung der Massenkaufkraft bewirken und die schwächelnde Konjunktur ankurbeln. Vor allem die Kaufkraft der untersten Einkommensgruppen durch staatliche Maßnahmen wie eine kräftige Anhebung des Mindestlohns dauerhaft zu erhöhen, wäre nicht bloß sozial gerecht, sondern auch ökonomisch sinnvoll. Deshalb liegt es sogar im wohlverstandenen Systeminteresse, die Kluft zwischen Arm und Reich ein Stück weit zu schließen.
Die sozioökonomische Polarisierung der Gesellschaft wirkt für diese hingegen kontraproduktiv, denn sie fördert Tendenzen zur Entsolidarisierung, Entpolitisierung und Entdemokratisierung. Daher ist die Verschärfung der Ungleichheit sowohl Gift für den sozialen Zusammenhalt wie für die Demokratie. Wirtschaftliche und soziale Polarisierungstendenzen ziehen in der Regel auch politische Polarisierungstendenzen nach sich, die aus Deutschland schon vor Beginn der Covid-19-Pandemie im Frühjahr 2020 eine »zerrissene Republik« gemacht haben.
Die wachsende sozioökonomische Ungleichheit bildet in dreierlei Hinsicht eine akute Gefahr für die Demokratie: Erstens beteiligen sich Armutsbetroffene immer weniger an Wahlen, die für das parlamentarische Repräsentativsystem konstitutiv und zudem sein niedrigschwelligstes politisches Partizipationsangebot sind. Zweitens verlieren manche Angehörige der (unteren) Mittelschicht, die armutsbedroht sind oder besonders in Krisensituationen große Angst vor einem sozialen Abstieg oder auch Absturz haben, ihr Vertrauen in das politische und Parteiensystem, was den Aufstieg rechtsextremer »Alternativorganisationen« begünstigt. Drittens konzentrieren sich das Kapital und der Medienbesitz immer stärker bei wenigen Hochvermögenden, deren Machtgewinn es ihnen ermöglicht, staatliche Entscheidungen so massiv in ihrem Sinne zu beeinflussen, dass von einer demokratischen Willensbildung keine Rede mehr sein kann.
»Solange die ungerechten Verteilungsverhältnisse fortbestehen, fehlt dem umfassenden Klima-, Arten- und Tierschutz der nötige Rückhalt innerhalb der Bevölkerung.«
Zwar führt die sich vertiefende Kluft zwischen Arm und Reich nicht automatisch zu einer Krise des parlamentarischen Repräsentativsystems. Ursächlich dafür sind vielmehr Formen der Entpolitisierung, durch welche die etablierten Parteien sowohl Frustrationserlebnisse als auch Abwehrreaktionen vieler Menschen hervorrufen. Sowohl das Ideal der politischen Gleichheit aller Bürgerinnen und Bürger als auch die Legitimationsbasis der Demokratie leiden unter wachsender Ungleichheit, weil diese mit einer schwindenden Partizipationsbereitschaft der Armen ebenso verbunden ist wie mit einer politischen Überrepräsentation der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen. Resümierend kann man feststellen: Armut hält die Betroffenen von der politischen Einflussnahme (im Wahlakt) ab und Reichtum beeinflusst die staatlichen Entscheidungen unabhängig von Wahlen.
Ein weiteres, ebenfalls sehr gewichtiges Argument, das gegen Ungleichheit, aber für die Umverteilung des Reichtums spricht, ist ökologischer Natur. Denn sozioökonomische Ungleichheit verhindert Nachhaltigkeit, zumindest hemmt sie deren politische Durchsetzung. Deshalb bekämpft die Klima(gerechtigkeits)bewegung, in der das Motto »System Change, not Climate Change« an Einfluss gewonnen hat, auch die soziale Ungleichheit mit dem Ziel, den Planeten zu retten und das Überleben der Menschheit zu ermöglichen. Solange die ungerechten Verteilungsverhältnisse fortbestehen, fehlt dem umfassenden Klima-, Arten- und Tierschutz der nötige Rückhalt innerhalb der Bevölkerung.
Dass wachsende Ungleichheit die notwendige Verwirklichung von Umwelt- und Naturschutz, die Bewahrung von Biodiversität sowie die Schaffung von Klimagerechtigkeit blockiert, zeigt sich etwa, wenn man die Menge der Treibhausgasemissionen besonders privilegierter und marginalisierter Bevölkerungsschichten miteinander vergleicht. Ohne die ökologischen Krisenerscheinungen auf ein Problem des massenhaften individuellen (Fehl-)Verhaltens zu reduzieren, also ihre strukturellen, im kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem begründeten Ursachen auszublenden, kann man feststellen, dass sich die größten Umweltverschmutzer, »Klimakiller« und Artenvernichter an der Spitze der Reichtumspyramide finden.
Das oberste Ziel einer an der sozialen Gerechtigkeit orientierten Politik muss die Rückverteilung jener materiellen Ressourcen sein, die reiche Kapitaleigner und Finanzinvestoren bisher für sich beansprucht, der Gesellschaft und ihren Mitgliedern hingegen vorenthalten sowie in für den Planeten zerstörerischer, ökologisch höchst fragwürdiger Weise missbraucht haben. Die analytischen Feststellungen zur extremen Ungleichheit des ökologischen Fußabdrucks von Armen, Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen können auch strategisch fruchtbar gemacht werden. Umverteilung erscheint dann nicht mehr bloß als Gebot der sozialen, vielmehr auch als Gebot der Klimagerechtigkeit.
Ungleichheit größeren Ausmaßes ist moralisch nicht zu rechtfertigen, weil Armut die Würde der Betroffenen verletzt – man kann in diesem Zusammenhang durchaus von »struktureller Gewalt« (Johan Galtung) sprechen – und Reichtum seinen Nutznießern eine gewisse Macht über weniger vermögende Menschen verleiht, die gleichfalls entwürdigend wirkt. Verteilungsgerecht wäre eine ungefähre Gleichverteilung des Reichtums, die es allen Menschen ermöglichen würde, ihre Talente zu entfalten und sich optimal zu entwickeln, ohne gegenüber anderen benachteiligt zu sein.
Ob sich die Ungleichheit in Zukunft weiter verschärft oder abschwächt, hängt maßgeblich davon ab, was gegen sie auf unterschiedlichen Politikfeldern unternommen wird. Die häufig mehr Ungleichheit schaffenden Parlaments- und Regierungsbeschlüsse der vergangenen Jahrzehnte sind weder alternativlos noch irreversibel. Weil die soziale Ungleichheit durch politische (Fehl-)Entscheidungen zugunsten der Wohlhabenden, Reichen und Hyperreichen verschärft worden ist, besteht auch die Möglichkeit, sie durch staatliche Eingriffe zugunsten der Armen und eines sozialen Ausgleichs zu verringern.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zuletzt das Buch Deutschland im Krisenmodus. Infektion, Invasion und Inflation als gesellschaftliche Herausforderung veröffentlicht. Heute ist sein neuestes Buch Umverteilung des Reichtums erschienen.
Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt und zahlreiche Bücher veröffentlicht, zuletzt Deutschland im Krisenmodus und Umverteilung des Reichtums.