18. April 2023
Heinz Hillebrand war in der LINKEN ein über Strömungen hinweg geachteter Genosse. Der Arbeiterbewegung blieb er stets eng verbunden. Mit ihm ist ein hellsichtiger und beständiger Marxist von uns gegangen.
Plötzlich und unerwartet ist Heinz Hillebrand im Urlaub in Tunis verstorben. Außerhalb der Partei DIE LINKE kannte ihn kaum jemand. Innerhalb der Partei löste sein überraschender Tod flügelübergreifend Bestürzung aus. Das ist keine Kleinigkeit innerhalb der zerstrittenen Linken.
Er war einer der Organisatoren der WASG in Nordrhein-Westfalen und prägte die Parteifusion mit. Als einer der beiden ersten Abteilungsleiter aus der WASG arbeitete er in der Parteizentrale der LINKEN und baute die Abteilung für Politische Bildung auf.
Heinz Hillebrand war Kommunist und ein orthodoxer Arbeiterbewegungsmarxist mit einem wachem Blick und großer Neugier. Als in der Lehrlingsbewegung sozialisierter Arbeiter mit einem riesigem Wissensschatz verkörperte er eine heute seltene Spezies intellektueller marxistisch gebildeter Arbeiter.
Hillebrand kam aus Wuppertal. Das erzählte er jedem ungefragt, mal beiläufig und nicht selten mit dem Verweis auf den berühmten Wuppertaler Friedrich Engels. Als gelernter Industriekaufmann wurde Heinz Hillebrand über die Lehrlingsbewegung politisiert. Dieser Weg war typisch für einen erheblichen Teil der westdeutschen Linken aus der Arbeiterklasse. Anders als die studentische 68er-Bewegung fand die Lehrlingsbewegung weitaus weniger mediale und historische Beachtung. Dabei schuf sie oft die Verbindung zwischen den verschiedenen Teilen der Linken. So fand Heinz Hillebrand den Weg über die Gewerkschaftsarbeit im DGB zur Deutschen Kommunistischen Partei, die nicht nur im Ruhrgebiet in vielen Betrieben stark war.
Schnell wurde Heinz Hillebrand zu einem aussichtsreichen »Kader« der Sozialistischen deutschen Arbeiterjugend (SDAJ), der Jugendorganisation der 1968 (wieder)gegründeten Deutschen Kommunistische Partei (DKP). Im Gegensatz zur SPD und später der PDS legte die DKP großen Wert auf die betriebliche und gewerkschaftliche Arbeit. So unterhielt die DKP zahlreiche Betriebsgruppen in großen Betrieben von Automobilherstellern wie VW bis in die Textilindustrie, in der Hillebrand tätig war. Die Betriebsgruppen sorgten für eine direkte Verankerung der Linken in der Arbeiterschaft.
Der Einfluss der DKP in den Gewerkschaften, wie zum Beispiel in der IG Metall, darf nicht unterschätzt werden. Mitte der 1980er setzte die DKP innerhalb der IG Metall sogar die Forderungen nach der Vergesellschaftung der Schlüsselindustrien durch. Die DKP überließ die Organisationsentwicklung nicht dem Zufall. Zwar war die Partei außerhalb einiger Städte bei Wahlen eine absolute Splitterpartei. In vielen außerparlamentarischen Bewegungen, wie in der gewerkschaftlichen Politik, war sie jedoch ein wichtiger Faktor.
Die DKP legte großen Wert auf Bildungsarbeit und die Ausbildung eines organisierten Kaders. Damit erleichterte sie Arbeiterinnen und Arbeitern den Aufstieg in politische Leitungsfunktionen. In den modernen sozialdemokratischen und linken Parteien fehlt diese Form der geplanten Einbindung und Ausbildung von Arbeiterinnen und Arbeitern.
Hillebrand hat dieses Organisationsverständnis tief geprägt. Die SDAJ stand damals in scharfer Konkurrenz zu den maoistischen, oft studentisch dominierten K-Gruppen, Sozialdemokraten und anderen Linken. Noch Jahrzehnte später konnte Hillebrand die alten Schmählieder der SDAJ zum besten geben, wie ich selbst einige Male erleben durfte.
Auf seine Arbeiterherkunft aus Wuppertal und seine kommunistische Vergangenheit blieb er stolz. Als »Topkader« war er dazu ausersehen, in der Wilhelm-Pieck-Schule am Bogensee in der DDR ausgebildet zu werden. Als Westdeutscher freiwillig in den Osten zu gehen, war damals mehr als ungewöhnlich. An der Schule kamen Revolutionärinnen und Kommunisten der sozialistischen Bruderländer und aus dem Globalen Süden zusammen. Die Schule war einerseits dogmatisch, brachte aber andererseits ganz unterschiedliche linke Persönlichkeiten und Traditionen zusammen.
Die SED finanzierte nicht nur die DKP und ihr Umfeld, sie versuchte auch direkt Einfluss auf die Ausbildung ihrer wichtigen Mitglieder zu nehmen. So kam Heinz Hillebrand schon früh mit den ostdeutschen Genossinnen und Genossen in Kontakt, etwa mit Dagmar Enkelmann, der späteren Vorsitzenden der Rosa-Luxemburg-Stiftung, mit der er über dreißig Jahre später wieder im Vorstand eben dieser Stiftung zusammenarbeitete.
Diese Ausbildung hätte ihn zu einem autoritären Betonkopf machen können – und auch wenn er durchaus stur sein konnte, war er schon früh ein hellsichtiger und kritischer Beobachter seiner Zeit und seines Umfelds. So schloss er sich zurück im Westen dem DKP-Erneuererflügel an. Wenn der Kommunismus eine Chance haben sollte, musste er sich reformieren und eigene Wege in Westdeutschland einschlagen.
Der Erneuererflügel war breit aufgestellt von Intellektuellen wie dem Ökonomen Jörg Huffschmid bis zu späteren PDS-Granden wie Wolfgang Gehrke. Die Partei sollte sich neuen Themen widmen, von der ökologischen Frage bis hin zu Alternativen zum Kapitalismus. Gemeinsam war ihnen die Ablehnung der starren Orthodoxie, die versuchte die Diskussionen der Perestroika in Moskau auszublenden. Die Partei sollte sich demokratisieren und für Zukunftsdiskussionen öffnen.
Diese Erneuerung der DKP scheiterte Ende der 1980er am erbitterten Widerstand der DKP-Spitze um ihren Vorsitzenden Herbert Mies. Die Erneuerer traten daraufhin aus der Partei aus – und mit ihnen auch Heinz Hillebrand. Er brach mit der Kommunistischen Partei, aber nicht dem Kommunismus und schon gar nicht mit der Arbeiterbewegung.
Stattdessen gründete er schon 1990 einen Gesprächszirkel mit unterschiedlichen Linken – aus dem später der Rosa-Luxemburg-Club hervorging. Marxistische Diskussionen und die Ausbildung neuer Sozialistinnen und Sozialisten blieben ihm auch nach 1990 wichtig. Damit unterschied er sich von vielen, die der Untergang der Sowjetunion und der großen kommunistischen Parteien in die politische Resignation trieb.
Ab Ende der 1980er bis Anfang der 2000er waren Linke und ihre Ideen eine Randerscheinung. Wer sich als Marxist bezeichnete, wurde als ewig gestrig angesehen. Heinz blieb trotz der neoliberalen Wende der Gesellschaft, der Sozialdemokratie und des Anpassungskurses der Gewerkschaften durch und durch Arbeiterbewegungsmarxist.
Neben seinem politischen Engagement war er in der Textilbranche tätig und dort unter anderem für den Zoll beim Import/Export verantwortlich. Der Kontakt zu den Gewerkschaften blieb ihm wichtig, Betriebsarbeit war für ihn kein Fremdwort. Es ist daher kein Zufall, dass Hillebrand Konferenzen und Bildungsveranstaltungen für Betriebsräte und Beschäftigte organisierte, die die Umbrüche des Neoliberalismus wie der Gewerkschaften reflektieren sollten.
Parallel holte Hillebrand mit fast fünfzig Jahren sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach und begann mit über fünfzig noch ein Studium der Geschichte, Germanistik und Philosophie in Bochum. Die Geschichte war auch in der Bildungsarbeit eine seiner Leidenschaften. So organisierte er etwa eine Konferenz zum 100-jährigen Geburtstag des linken Gewerkschafters Viktor Agartz.
Er plante nach seinem Studium noch über Persönlichkeiten der Arbeiterbewegung im Bergischen Land zu promovieren. Doch dazu kam es wegen der sich regenden politischen Bewegung aber nicht mehr. Denn die reale Bewegung hatte für ihn stets Vorrang.
Ab 2003 kam es in Reaktion auf die rot-grünen Agenda-Reformen zu massenhaften Sozialprotesten. Dazu organisierte Heinz Hillebrand mit anderen eine Konferenz zu den Chancen des sozialen und politischen Widerstands. Über 300 Aktive und Betriebsräte kamen zusammen. Hillebrand hatte die Kontakte aus seiner DKP-Zeit und der langen Bildungsarbeit. Quer durch die Bundesrepublik machte sich eine Aufbruchstimmung breit: Der Wunsch nach etwas Neuem links der SPD regte sich allerorten, wie sich Hillebrands langjähriger Wuppertaler Weggefährte Bernhard Sander erinnert.
Als sich im Westen die Vorläufer der späteren WASG formierte, lud Heinz Hillebrand unter anderem mit Bernhard Sander und dem Gewerkschafter Hüseyin Aydin zu einem Gründungstreffen nach Wuppertal ein. Statt der erwarteten 60 kamen 140 Interessierte aus Gewerkschaften, linksradikalen Gruppen sowie viele politisch gut ausgebildete Erwerbslose, wie Bernhard Sander betont.
Sozialistinnen und Sozialisten müssen die sich bietenden Zeitfenster nutzen und niemand wusste das besser als Heinz. Während der Gründungsphase reiste er unermüdlich durch Nordrhein-Westfalen und half, neue Parteigruppen zu gründen. Die Phase der Parteigründung war für ihn eine unglaublich arbeitsame Zeit und zugleich erfüllte sie ihn.
Die Mitglieder der neu gegründeten WASG drängten in Nordrhein-Westfalen auf den Wahlantritt. Heinz beurteilte ihre Chancen zwar skeptisch, stellte sich dem aber nicht entgegen und organisierte den Wahlantritt nach Kräften mit. Auch hier kümmerte er sich schnurstracks um die Ausbildung der Kandidierenden. Die WASG holte aus dem Stand 2,2 Prozent – ein erster Achtungserfolg. Parallel erzielte die PDS 1,3 Prozent.
»Uns war beiden klar, dass die WASG nur eine Chance hatte, wenn sich die WASG mit der PDS zusammenschloss«, erzählt Bernhard Sander. Den PDS-Landesvorsitzenden Paul Schäfer kannte Heinz noch aus der Zeit der DKP. Auf einer legendären S-Bahn-Fahrt in Köln besprachen Hillebrand, Sander und Schäfer die Fusion beider Parteien im bevölkerungsreichsten Bundesland Deutschlands. Gegen die Widerstände vieler innerhalb der WASG setzten sie die Parteifusion in NRW gemeinsam durch.
Das gelang ihnen durch Überzeugungsarbeit und die Sprengung des oppositionellen Leverkusener Kreises – durchaus keine Selbstverständlichkeit. In Berlin zum Beispiel gelang diese Fusion aus WASG und PDS nicht und die WASG trat in Konkurrenz zur neuen Partei bei den Wahlen an. Zu den 1.200 Mitgliedern der WASG und ebenso vielen Mitgliedern der PDS kamen dann mit der Fusion 3.000 neue dazu.
Nach der erfolgreichen Gründung organisierte Heinz sogleich die Bildungsarbeit der Partei neu. Vor allem »die Grundbesohlung der neuen Genossinnen und Genossen« mit politischer Bildung lag ihm am Herzen. Einen Schwerpunkt legte er dabei wenig überraschend auf die Auszubildenden. Später sorgte er maßgeblich dafür, dass die Ostdeutsche Sahra Wagenknecht in Nordrhein-Westfalen einen Listenplatz erhielt und so erstmals in den Bundestag einziehen konnte. Ganz gleich wie man zu Sahra Wagenknecht heute stehen mag, zeigt sich daran die politische Bedeutung Heinz Hillebrands, der über einen ungeheuren Schatz an Kontakten verfügte.
Als neuer Abteilungsleiter aus dem tiefsten Westen kam er in die sehr ostdeutsch geprägte Parteizentrale der neuen Linkspartei. Hier versuchte er gegen große Widerstände eine Abteilung für politische Bildung aufzubauen. Die damalige Leiterin des Bereichs Parteientwicklung und politische Bildung Claudia Gohde erinnert sich: »In der PDS gab es große Vorbehalte organisierte politische Bildungsarbeit in der Partei. Vom Parteilehrjahr (der SED) haben wir genug, hieß es da meist. Es war schon ein anderer Schlag wie Heinz die politische Bildungsabteilung von Grund auf neu aufbaute. Das war beeindruckend.« Als spätere langjährige Organisatorin der linken Parteizentrale weiß Gohde wovon sie spricht.
Der Widerstand aus dem Osten gegen die Bildungsarbeit hielt noch Jahre an. Für viele Ostkader war die systematische Vermittlung marxistischer Theorie ein Graus. Die PDS war in der Zeit ihres Bestehens zwischen der orthodox-kommunistischen KPF und einem pragmatischen Erneuererflügel gespalten. Der Marxismus war für beide Teile der PDS eng mit der DDR und ihrem dogmatischen Denken verknüpft. In der PDS gab es trotzdem flügelübergreifend wichtige marxistische Denkerinnen und Denker wie zum Beispiel Uwe-Jens Heuer, die aber innerparteilich meist in der Opposition waren und nur einen Minderheitsflügel stellten.
In der organisierten Parteiarbeit schlug sich dieses Wirken marxistischer Intellektueller, die teils schon in der DDR aneckten, kaum wieder. Stur und mit unglaublichem Einsatz schuf Heinz eine Kommission Politische Bildung und eine Struktur von Bildungsverantwortlichen in der LINKEN. Besondere Beachtung schenkte er dabei der marxistischem Grundlagenbildung. So organisierte er einen Online-Grundlagenkurs zur Einführung in linkes und marxistisches Denken. Daneben setzte er sich für die Diskussion alter und neuer Klassiker des Marxismus ein, wie zuletzt eine Tagung zu Eric Hobsbawm wieder einmal zeigte.
Als er in Rente ging, war er jedoch unzufrieden und oft enttäuscht vom niedrigen Niveau der Auseinandersetzung in der Partei und teils auch deren politischer Bildungsarbeit. Zu geschichts- und theorielos waren ihm viele Veranstaltungen.
Die PDS war zwar Volkspartei, aber eine Partei der Arbeiterschaft war sie nie. Sie war vielmehr eine Akademikerpartei hoch gebildeter vormaliger Parteifunktionäre. Das stark auf den Staat ausgerichtete Verständnis der PDS teilte Heinz Hillebrand nicht. Schon kurz nach der Parteifusion gründete er mit anderen die Sozialistische Linke, die Gewerkschafterinnen, Sozialdemokraten, Kommunistinnen und andere zusammenbrachte, um für eine LINKE zu streiten, die sich klar an der Arbeiterbewegung orientierte. Er arbeitete bis zuletzt im Bundessprecherrat der Sozialistischen Linken mit.
Für viele Jahre war sie eine der beiden wichtigsten Strömungen der Partei. Heinz setzte sich hier und in der Partei stets mit Vehemenz für seine Ideale ein. Vor der Strömung stand für ihn als überzeugtem Zentristen immer die Partei und ihre politischen Ziele. Selbst wenn man mit ihm nicht einer Meinung war, konnte man sich nach einem Streit wieder mit ihm zusammensetzen.
Die Spaltung der Sozialistischen Linken und die Neugründung der Bewegungslinken schmerzten ihn und machten ihn etwas bitter. Seinem Engagement tat das keinen Abbruch. Aufgeben war für Heinz keine Option. Trotz seines Engagements gelang es ihm nicht, DIE LINKE zu einer marxistischen oder einer Arbeiterbewegungspartei auf der Höhe der Zeit zu machen. Aber vielleicht war das auch nicht möglich.
Nichtsdestoweniger bildete Heinz eine Verbindung zur Zeit der Kommunistischen Partei und förderte viele junge Marxistinnen und Marxisten, so etwa auch mich. Viele Genossinnen und Genossen haben seiner Fähigkeit, Kontakte zu knüpfen und interessierte Diskussionen zu führen sowie seiner Förderung viel zu verdanken.
Rente bedeutete für Heinz nicht Ruhestand. Als frisch gewählter Fraktionsvorsitzender der LINKEN Wildau trieb er die Bürgermeisterin vor sich her und deckte einen Korruptionsskandal um die Vergabe von Immobilien auf. Seit Jahren suchen Finanzinvestorinnen und -investoren im Berliner Umland nach billigen Grundstücken für die Immobilienspekulation. Im Zuge dessen wurde ein Grundstück weit unter Wert an einen Unternehmer verkauft, der pikanterweise die Siegesfeier der Bürgermeisterin finanziert hatte. Heinz selbst wurde für seine Recherche mit einer Anzahl von Klagen überzogen und durfte darüber nicht mehr reden. Mundtot machen lassen, wollte er sich jedoch nicht. Er erhielt aus Wildau so viel politischen Rückenwind, dass die Bürgermeisterin aufgrund dieses Korruptionsfalls zurücktreten musste.
Aus Unzufriedenheit mit der Position der LINKEN zur Ukraine gründete er erst letztes Jahr wieder ein neues Netzwerk mit, den Liebknecht-Kreis in Brandenburg, und war bis zuletzt einer der Organisatoren und Köpfe dieser Strömung. In dieser Sache konnte ich ihm politisch nicht mehr folgen. Als alter Kommunist kämpfte er trotzdem gegen die Spaltung seiner Partei. Denn er wusste, wie schwierig es ist, eine Partei zu gründen. Daher warnte er davor bis zuletzt.
Trotz einiger Streitereien zweifelte ich nie daran, dass ich mit Heinz eines Tages wieder bei einem Weinchen an einem Tisch sitzen würde. Heinz war immer da. Mit ihm konnte man reden. Jetzt ist Heinz überraschend nicht mehr da. Mit ihm stirbt nicht nur ein wunderbarer Genosse und organischer Intellektueller der Arbeiterbewegung, sondern ein Bindeglied zur Linken des 20. Jahrhunderts.