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19. Dezember 2025

Wie Ungleichheit in Österreich organisiert wird

Beim Spargelstechen, auf dem Bau oder in der Pflege zeigt sich: Weite Teile der österreichischen Wirtschaft werden nur durch unterbezahlte, prekäre und mitunter undokumentierte Arbeit am Laufen gehalten.

Es sind fast ausschließlich migrantische Arbeitskräfte, die in Österreich Spargel stechen.

Es sind fast ausschließlich migrantische Arbeitskräfte, die in Österreich Spargel stechen.

IMAGO / CHROMORANGE

»Uns geht’s doch so gut in Österreich«: Es ist das Knockout-Argument, das all jene schnell zu hören bekommen, die Missstände im Land ansprechen. Dabei fällt unter den Tisch, dass in erster Linie Menschen in höheren Klassen komfortabel leben und dieser Komfort auf lang etablierten ausbeuterischen Praxen beruht.

Mit anderen Worten: Ungleichheit ist kein Zufall. Sie ist gemacht. Das gilt in Österreich ebenso wie überall sonst. In unserem Sammelband Wer gegen Wen geben wir Einblick in die Methoden, mit denen Ausbeutung organisiert und das System am Laufen gehalten wird. Mit Schlaglichtern auf Pflege, Landarbeit und undokumentierte Arbeit zeigt sich, dass organisierte Ungleichheit in Österreich auf verschiedenen Säulen aufbaut: Normalisierung, Isolation, Unsichtbarmachung und fehlende Streitkultur.

Ausbeutung in der Landwirtschaft ist normalisiert 

Weite Bereiche der österreichischen Gesellschaft funktionieren nur deshalb, weil sich alle daran gewöhnt haben, dass in diversen Berufen ein gewisses Level an Ausbeutung stattfindet. Von der Kassenkraft im Supermarkt bis zur Staplerfahrerin in Lagerhallen: Unterbezahlung und Überlastung sind für viele lohnarbeitende Menschen Realität. In manchen Bereichen ist dieser Zustand jedoch besonders ausgeprägt, darunter die Landwirtschaft und der Pflegesektor – Berufe, in denen vor allem Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund und/oder prekärem Status tätig sind.

Die normalisierte Ausbeutung fängt mit dem an, was auf dem Teller landet. Wenn beispielsweise Supermärkte mit »regionalem Gemüse« zum Super-Sparpreis werben, ist dabei eine Sache schon stillschweigend eingepreist: Die Bedingungen, unter denen Landarbeiterinnen und -arbeiter jede Saison aufs Neue nach Österreich kommen und hier Spargel stechen, Erdbeeren pflücken und Kraut schneiden.

»Ungleichheit ist kein Zufall. Sie ist gemacht. Das gilt in Österreich ebenso wie überall sonst.«

Harte körperliche Arbeit, wenig bis kaum Rückzugsmöglichkeiten nach Feierabend, teils dürftig ausgestattete Sanitäranlagen und das in manchen Fällen für nicht mehr als 4 bis 5 Euro die Stunde: Zu derartigen Bedingungen lässt sich die autochthone, weiße österreichische Bevölkerung in der Regel nicht herab – weil sie es dank migrantisch geprägtem Niedriglohnsektor nicht muss.

Dieser wiederum hat ebenfalls System, wie Lisa Bolyos im Buch beschreibt. Die Mitbegründerin von Sezonieri, einer Kampagne für die Rechte der Erntearbeitenden in Österreich, fasst in Bezug auf Landwirtschaft zusammen: »Um einen Niedriglohnsektor überhaupt herzustellen, braucht man Rassismus. Anders könnte es diese fest verankerte Vorstellung nicht geben.« Das Argument, die Lebenshaltungskosten seien umso niedriger, je weiter aus Osteuropa eine Person kommt, ist dabei nicht haltbar. Dieses Narrativ wird zwar immer wieder bemüht, um niedrige Löhne zu rechtfertigen, aber auch auf niedrige Löhne kommen trotzdem hohe beziehungsweise deutlich gestiegene Ausgaben – Stichwort Inflation.

Lisa Bolyos betont, dass Ausbeutung – auch innerhalb der Familie – als Normalzustand in der Landwirtschaft lange Tradition hat. Nur mit dieser Geschichte der Ausbeutung, die auf die Leibeigenschaft zurückgeht, ist es überhaupt möglich, dass Obst und Gemüse in Österreich so billig zu bekommen sind. Dabei wäre es aber zu einfach, nur mit dem Finger auf Landwirtinnen und Landwirte zu zeigen. Das grundlegende Problem beginnt schon viel früher: »Vor allem die ökologisch produzierten landwirtschaftlichen Produkte sind im Einkaufspreis einfach zu billig für den Lebensmitteleinzelhandel in Österreich. [...] Wenn Kleinbäuerinnen und -bauern sagen, sie können sich die rechtlich bindende Lohnzahlung nicht leisten, ist da was Wahres dran. Das heißt nicht, dass es in Ordnung ist. Aber es ist ein strukturelles Problem, das sich durch die Lieferkette zieht.«

»Von der Kassenkraft im Supermarkt bis zur Staplerfahrerin in Lagerhallen: Unterbezahlung und Überlastung sind für viele lohnarbeitende Menschen Realität. In manchen Bereichen ist dieser Zustand jedoch besonders ausgeprägt, darunter die Landwirtschaft und der Pflegesektor.«

Zu einer fehlenden Lobby für Kleinbäuerinnen und -bauern kommt eine Kultur des Laienarbeitgebertums, in der – klassisch österreichisch – alles irgendwie gemacht wird, ohne Erfahrung, was alles damit einhergeht, Angestellte zu beschäftigen. Dazu gesellen sich unzureichende Kontrollen, ob die Standards für einen sicheren Arbeitsplatz und faire, pünktliche Lohnauszahlung eingehalten werden. Insgesamt ergibt das ein Setting, in dem es allzu einfach wird, Ausbeutung in der Landarbeit zu normalisieren.

Das gleiche Prinzip zeigt sich in der Pflegearbeit. Diesen Aspekt bringt Jelena Gučanin im Buch auf den Punkt, wenn sie fragt, inwiefern die angeblich unsichtbare Sorgearbeit denn tatsächlich unsichtbar ist: »Viel eher will da niemand hinschauen, gerade jene, die die Macht hätten, daran etwas zu verändern.« Nun ist zwar spätestens seit den Pandemiejahren das Thema unbezahlte Arbeit durchaus im öffentlichen Diskurs angekommen. Grundsätzlich verändert hat sich in der Praxis aber nicht viel: Nach wie vor wird ausgeblendet, dass Sorge- und Pflegearbeit oft un- oder bestenfalls noch unterbezahlt verrichtet wird. Einfach die Löhne zu erhöhen, reicht dabei jedoch nicht aus. Wenn nämlich Care-Arbeit schlicht teurer und dadurch für einen kleineren Kreis leistbar wird, verlagert sich einfach nur das Problem.

Wenn Pflegearbeit irgendwann nicht mehr von Familien – und dabei vor allem Frauen – selbst verrichtet werden kann oder will, kommt eine andere Option ins Spiel: die 24-Stunden-Betreuung. Die Realität von Personenbetreuenden ist nur selten Teil öffentlicher Diskurse darum, wie das Pflegesystem reformiert werden müsste, um mit den immer größeren Stressoren nachhaltig umgehen zu können. Die Personenbetreuung ist dabei ein Knochenjob: Die meisten Personen, die betreut werden müssen, haben unterschiedliche schwere Krankheiten, berichtet Flavia Matei von der Interessensvertretung IG24, einem Verein von migrantischen Personenbetreuerinnen und Aktivisten in Österreich.

»Seit den Pandemiejahren ist das Thema unbezahlte Arbeit zwar durchaus im öffentlichen Diskurs angekommen. Grundsätzlich verändert hat sich in der Praxis aber nicht viel: Nach wie vor wird ausgeblendet, dass Sorge- und Pflegearbeit oft un- oder bestenfalls noch unterbezahlt verrichtet wird.«

Der Ist-Zustand der Branche ist gezeichnet von hoher Belastung und extrem schlechter Bezahlung. Viele Betreuerinnen verdienen netto kaum mehr als 3 Euro pro Stunde – und arbeiten dabei im Schatten der Scheinselbstständigkeit. Die meisten Personenbetreuenden sind Frauen aus Rumänien, der Slowakei, Kroatien und Ungarn, die für zwei bis vier Wochen am Stück nach Österreich kommen, um sieben Tage die Woche, 24 Stunden am Tag für die Klientinnen und Klienten da zu sein. Theoretisch sind sie dabei selbstständig. In der Praxis besteht aber meist vollständige Abhängigkeit von Vermittlungsfirmen, die über Gehalt, Dauer und Standort der Arbeit bestimmen – ohne dass die Betreuerinnen ein offiziell geregeltes Anstellungsverhältnis als Sicherheit hätten.

Wie ramponiert dieses System ist, wurde mit der Pandemie deutlich, als Personenbetreuerinnen in Österreich gestrandet waren und ihre Rotation unterbrochen wurde. Geändert wurde die Schieflage bisher dennoch nicht. Österreichische Familien, so die Begründung, könnten sich eine Alternative mit Anstellung nicht leisten. Für Flavia Matei »ein problematisches Argument, weil es die Verantwortung für den Missstand den Betreuerinnen umhängt. Aber das Problem zu lösen, liegt nicht in ihrer Verantwortung.« Für ein Pflegesystem, das auf dem Papier billig ist, zahlen an einer anderen Stelle Menschen einen Preis. Und die Kombination aus unleistbarer Pflege und gleichzeitiger Ausbeutung der betreuenden Personen lässt nur einen Schluss zu, so Flavia Matei: »Dann ist das System grundsätzlich falsch und gehört reformiert.«

Dass eine solche Reform nicht geschieht, liegt vor allem daran, dass der Status quo immer noch günstiger kommt. Wie auch bei der Erntearbeit werden unter der Devise »Jemand anderes wird’s schon richten« die Löcher eines maroden Systems mit der Arbeit von Menschen gestopft, die es sich nicht anders aussuchen können. Für migrantische Arbeitende »gelten ganz andere Arbeitsbedingungen« als für Österreicherinnen und Österreicher. Es existiert eine Art Parallelsystem, »eine Sonderklasse«, so Matei.

»Für ein Pflegesystem, das auf dem Papier billig ist, zahlen an einer anderen Stelle Menschen einen Preis.«

Eben jene Bedingungen bleiben oft ungesehen – nicht zuletzt, weil zwar über die Betroffenen gesprochen wird, aber nur in den seltensten Fällen mit ihnen. Das ist kein Zufall und zahlt in die Bedingungen ein, unter denen Betreuerinnen arbeiten, sich aber nur schwer zusammentun können: Wer rund um die Uhr als Pflegekraft in einem privaten Wohnbereich verfügbar zu sein hat, dem bleibt kaum Raum zur politischen Organisation. Es zeigen sich also ganz ähnliche Muster wie in der Landarbeit: Isolation, konstante Beschäftigung und sehr begrenzte Ansprache.

Wer undokumentiert arbeitet, fällt durch alle Raster

Unsichtbarkeit als Strategie der Ausbeutung funktioniert auch dann besonders gut, wenn die Arbeit auf dem Papier nicht nachweisbar ist. Ob auf dem Bau, in der Gastronomie oder im Nagelstudio nebenan: Eine ganze Reihe von Branchen profitiert von undokumentierter Arbeit. Schutzstandards oder ein Rechtsanspruch auf pünktlich ausgezahlten, fairen Lohn? Oft Fehlanzeige. Stattdessen herrscht in diesen Arbeitsverhältnissen, die in der Regel aus Notlagen entstehen, ein hohes Maß an Abhängigkeit – und damit die beste Grundlage für Erpressung.

Möglich wird das unter anderem durch einen fast unüberschaubaren Dschungel an Aufenthaltstiteln in Österreich. Rund dreißig verschiedene, um genau zu sein, und alle gehen mit der Frage einher, was und wie viel gearbeitet werden darf. Besonders migrantische Personen gehen also oft aus einer Zwangslage heraus ein undokumentiertes Arbeitsverhältnis ein. Vina Yun von UNDOK, der Anlaufstelle zur gewerkschaftlichen Unterstützung für undokumentiert Arbeitende, betont, dass es die undokumentiert arbeitende Person nicht gibt. Das Problem zieht sich durch die Sparten und ebenso vielfältig sind Betroffene: »Das können Asylbewerberinnen, Studierende oder sogenannte Schlüsselkräfte sein und jüngere wie ältere Menschen aus den verschiedensten Herkunftsländern.«

Unabhängig davon, wer betroffen ist, gilt: »Wann immer eine wirtschaftliche Krisensituation herrscht, kann man beobachten, wer als Erstes mit der reinen Existenz zu kämpfen hat.« Arbeitgebende profitieren davon, dass migrantische und/oder armutsgefährdete Menschen Sachzwängen ausgesetzt sind – und im Zweifelsfall das (undokumentierte) prekäre Arbeitsverhältnis wählen müssen. Diese Logik macht nicht bei undokumentierten Personen Halt. So kann undokumentierte Arbeit als eine Art Testballon betrachtet werden, mit dem Arbeitgebende Grenzen des Machbaren ausloten. Was an den Rändern funktioniert, wird dann auch in der Mitte zur Praxis. »Es wird definitiv geschaut, was geht«, so Vina Yun. Das ist nicht zuletzt deshalb möglich, weil inmitten von Teuerungskrise und neuen Wellen an Kürzungspolitik die Arbeitsbedingungen insgesamt prekärer werden und vor diesem Hintergrund mehr Druck aufgebaut werden kann.

»Ungleichheit lässt sich nicht zuletzt dann besonders gut durchsetzen, wenn das Wissen über mögliche Alternativen fehlt.«

Auch wenn Arbeitsrechte auf dem Papier existieren, bedeutet das nicht, dass man Zugang dazu hat und sie auch durchsetzen kann. Arbeitgebende drücken so auch die Standards für dokumentiert Arbeitende. Ein Teufelskreis – so wird der Sozialstaat von beiden Seiten ausgehöhlt: »Arbeitgebende erzielen Profite mit undokumentierter Arbeit, denn sie zahlen keine Abgaben und Steuern, wenn sie die Leute nicht anmelden. So wird die Finanzierung sozialstaatlicher Leistungen untergraben.«

Ungleichheit lässt sich nicht zuletzt dann besonders gut durchsetzen, wenn das Wissen über mögliche Alternativen fehlt. So wissen beispielsweise auch dokumentiert arbeitende und/oder anderweitig abgesicherte Menschen in Österreich oft nur bedingt über ihre Rechte Bescheid und sind nicht darin geübt, aufzubegehren, zu streiten, Konflikte auszutragen. Kenntnisse zu erfolgreichen Arbeitskämpfen, ob auf dem Feld oder im Betrieb, fehlen meist. Einerseits, weil sie selten als formalisiertes Wissen verfügbar sind und andererseits, weil viele dieser Konflikte verstreut und voneinander getrennt stattfinden. Eine öffentliche Dimension sucht man oft vergeblich, und viele Geschichten von erfolgreichen Widersetzungen werden niemals öffentlich bekannt. So gibt es kaum soziologische Forschung dazu, wie sich Arbeitskämpfe in der landwirtschaftlichen Saisonarbeit abspielen – obwohl diese teils durchaus erfolgreich sind.

Vielleicht liegt aber genau darin die Möglichkeit für einen wesentlichen Schritt vorwärts: in einem neuen Verständnis, wie Konflikt- und Protestkultur aussehen können, aussehen sollten. Um es mit Lisa Boylos’ Worten zu sagen: »Dazu muss man die Geschichten erzählen, von kleinen Widerständchen bis zum großen Arbeitskampf.« Dass dieser Ansatz grundlegende Systemreformen ersetzen könnte, darf zwar nicht der Anspruch sein – aber er kann zumindest als Wegbereiter dienen.

Josefa Niedermaier betreut als freie Lektorin Buchprojekte rund um die Themen Umwelt, Nachhaltigkeit, Inklusion und Gesellschaft.

Sara Hassan ist Publizist:in, Moderator:in und politische Bildner:in. Als Co-Autor:in des Buchs »Grauzonen gibt es nicht« hält Sara Vorträge über Machtmissbrauch an Arbeitsplätzen auf der ganzen Welt.