26. Juni 2024
Wer rechte Parteien schwächen will, muss ihren Nährboden austrocknen und die massive Einkommens- und Vermögensungleichheit ernsthaft bekämpfen. Dafür braucht es Mehrheiten – und die erreicht man nicht durch Appelle an die Moral.
Ungleichheit ist schlecht für die Gessamtwirtschaft.
Die Europawahl ist gelaufen und so mancher linke Akteur ist noch immer bestürzt angesichts der Niederlagen progressiver Kräfte. Insbesondere die deutsche Linkspartei erzielte ein historisch katastrophales Wahlergebnis und unterbot damit sogar noch die schlechtesten Prognosen, die man sich hinter vorgehaltener Hand in der Partei zuraunte.
Während die Stimmung in der Parteizentrale der Linken einer Trauerfeier angemessen gewesen wäre, knallten auf der AfD-Wahlparty die Champagnerkorken. Die AfD konnte als zweitstärkste Kraft vom Platz gehen, überholt nur noch von der CDU/CSU. Manch ein linker Beobachter verzweifelte vor diesem Stimmenzuwachs und der Einsicht: All die Proteste der letzten Monate landauf und landab waren zwar ein ermutigendes Zeichen für jene, die sich seit jeher gegen rechts engagieren, sowie für die Opfer rechter Gewalt. Sie hatten letztendlich jedoch keinerlei Einfluss auf die Wahlentscheidung vieler Menschen.
Weder die begrüßenswerten Demonstrationen der Zivilgesellschaft noch das armselige Nacheifern alter und neuer Parteien in ihren Parolen werden die AfD dauerhaft schwächen können. Wer dies ernsthaft und nachhaltig erreichen will, muss an der Wurzel ansetzen: der wachsenden Ungleichheit in unserer Gesellschaft und der Wut und Angst, die sie hervorbringt.
Dass es im reichen Deutschland nicht gerecht zu geht, ist mittlerweile an jeder Ecke sichtbar und für viele Personen täglich greifbar. Menschen erleben, dass eine Vollzeitbeschäftigung kein Garant dafür ist, über die Runden zu kommen. Sie sehen, dass ein ganzes Arbeitsleben nicht davor schützt, in der Rente bei der Tafel anzustehen. Sie warten auf ausfallende Busse, um in die Städte zu pendeln, in denen sie zwar arbeiten dürfen, aber längst nicht mehr leben können.
Die Corona-Krise und die Preisschocks bei Lebensmitteln und Energiepreisen taten dann noch ihr Übriges. Während knapp 17 Prozent der Deutschen in Armut leben, das heißt mit weniger als 50 Prozent des mittleren Einkommens klarkommen müssen, ändert sich am oberen Ende der Kette: nichts.
»Nicht nur Lindner betrachtet Ungleichheit als einen wünschenswerten Faktor, der Menschen dazu motiviert, besser und härter zu arbeiten.«
Zugleich kann man dabei zuschauen, wie das Vertrauen in Institutionen und Parteien schwindet. Einen Nutzen haben davon vor allem rechte Kräfte, wie nicht erst die EU-Wahl, sondern auch schon ein Blick in die Geschichte zeigt. Dass es einen Zusammenhang zwischen hoher Ungleichheit und dem Erstarken rechter Parteien gibt, ist keine neue Erkenntnis – außer vielleicht für unseren Finanzminister Christian Lindner.
Es ist daher nur richtig und konsequent, in der öffentlichen Debatte immer wieder auf eine Politik zu drängen, die den sozioökonomischen Nährboden der Rechten austrocknen lässt. Um diese aber tatsächlich zu schlagen, braucht es langfristig Mehrheiten für linke Lohn- und Steuerpolitik. Denn eins sollte nicht erst seit dem abstoßenden Video von Naziparolen grölenden Rich Kids klar sein: Wer den Faschismus ersticken will, muss beim Neoliberalismus beginnen.
Dass dies eine Mammutaufgabe ist, leuchtet ein. Dass die Linke hier nur schwer auf »Mitte-links«-Parteien zählen kann, die zwar nicht mit kämpferischen Worten geizen, dafür aber leider mit entsprechenden Taten, ist ebenfalls gewiss. Umso wichtiger ist für eine linke Partei daher eine breitere Zustimmung unter Menschen, die in jüngster Vergangenheit offensichtlich weniger dazu neigten, links zu wählen.
In jeder Talkshow dieses Landes präsentieren sich Vertreterinnen und Vertreter von CDU und FDP regelmäßig zur besten Sendezeit als Schutzpatroninnen der Wirtschaft und Hüter des allgemeinen Wohlstandes. Wer sie wählt, bekommt Sicherheit, Stabilität und Wachstum. Dabei scheuen sie sich nicht davor, überholte Theorien wie den Trickle-down-Effekt oder die Unvereinbarkeit von Wirtschaftswachstum mit einer gerechteren Verteilung aufzuwärmen. Jegliche Maßnahmen zur Umverteilung von Einkommen (und Reichtum) werden in ihrer Welt zu einer Gefahr für das Wachstum, Steuern und Abgaben stehen in ihren Augen den »Leistungsanreizen« im Wege.
Nicht nur Lindner betrachtet Ungleichheit als einen wünschenswerten Faktor, der Menschen dazu motiviert, besser und härter zu arbeiten. Überhaupt sei es eine utopische Vorstellung, man könne die »absolute« Gerechtigkeit herstellen. Deutschlands Armutsbetroffene stünden im internationalen Vergleich doch gut dar, und generell seien dies in erster Linie Menschen, die, wie Peter Tauber von der CDU einst so schön sagte, »nichts Ordentliches gelernt« hätten. Fazit: Ungleichheit sei ein Randphänomen und in einem Land wie Deutschland doch letztendlich das Ergebnis individuellen Versagens.
»Die Menschen bleiben unter ihren Fähigkeiten, können ihre Talente nicht nutzen und das kollektive wirtschaftliche Potenzial eines Landes wird gleich mit gedämpft.«
Flankiert werden solche Narrative dann noch von einer Moderation, die diese nicht einordnen kann – oder will. Der progressive politische Gegner tappt spätestens jetzt in die Falle, reagiert zu Recht empört und neigt dann dazu, mit moralischen Argumenten zu kontern, anstatt Ungleichheit aus einer makroökonomischen Perspektive zu betrachten und entsprechend zu argumentieren.
Das ist aber nicht besonders hilfreich angesichts des ohnehin vorherrschenden Glaubens, dass sich Sozialistinnen und Sozialisten vorwiegend mit moralisch zwar begrüßenswerten, aber gesamtwirtschaftlich schädlichen Forderungen rühmen. Warum nicht die Gegner mit den eigenen Waffen schlagen und zugleich deutlich machen, wessen Politikansätze tatsächlich der Gesamtwirtschaft helfen würden?
Ungleichheit schadet der Wirtschaft aus mehreren Gründen. Ein entscheidender Faktor ist die Nachfrage der ärmeren Bevölkerungsschichten. Wenn diese mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben, steigt ihre Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen. Dies führt zu einer erhöhten Gesamtnachfrage in der Wirtschaft, was Unternehmen dazu veranlasst, ihre Produktion zu steigern und mehr Arbeitskräfte einzustellen.
Wenn die Nachfrage nach Arbeitskräften hoch ist, können die Beschäftigten bessere Löhne und Arbeitsbedingungen aushandeln. Und höhere Löhne bedeuten wiederum, dass die Menschen mehr Geld für Konsum zur Verfügung haben, was die Nachfrage weiter ankurbelt und einen positiven Kreislauf in der Wirtschaft erzeugt.
Ein weiterer Vorteil ist die Exportreduktion. Wenn die inländische Nachfrage stark ist, sind Unternehmen weniger darauf angewiesen, ihre Produkte ins Ausland zu verkaufen. Dies kann dazu beitragen, die Handelsbilanz zu stabilisieren und die heimische Wirtschaft weniger abhängig von globalen Marktbedingungen zu machen.
Darüber hinaus fördert eine gerechtere Einkommensverteilung den Netto-Vermögensaufbau innerhalb der Bevölkerung. Menschen mit niedrigeren Einkommen haben oft keinerlei Ersparnisse oder sind stark verschuldet. Wenn sie jedoch höhere Löhne erhalten, können sie anfangen, Vermögen aufzubauen und Schulden abzubauen. Dies führt zu einer gesünderen finanziellen Situation auf individueller Ebene und insgesamt zu einer stabileren Wirtschaft. Wenn ärmere Haushalte mehr Geld zur Verfügung haben und weniger verschuldet sind, sinkt die Notwendigkeit für Kredite. Und eine Wirtschaft, die weniger auf Verschuldung angewiesen ist, ist weniger anfällig für Finanzkrisen und instabile Märkte.
Ungleichheit hat noch weitere tiefgreifende negative Auswirkungen auf die Wirtschaft, insbesondere durch ihre Einflüsse auf das Bildungswesen und die damit verbundene fiskalische Rendite, also die finanziellen Erträge, die eine Regierung aus ihren Investitionen erhält.
Dabei stellt Bildung eine der besten Investitionen dar, die eine Gesellschaft überhaupt tätigen kann. Gut ausgebildete Menschen tendieren dazu, im Laufe ihres Lebens höhere Einkommen zu erzielen. Dadurch zahlen sie mehr Einkommenssteuern und konsumieren mehr. Außerdem haben sie ein geringeres Risiko, arbeitslos zu werden oder auf staatliche Unterstützung angewiesen zu sein. Dies führt zu niedrigeren Ausgaben für Arbeitslosenunterstützung, Sozialhilfe und andere soziale Sicherheitsnetze.
»Die neoliberale Wirklichkeit ist genau das Gegenteil des neoliberalen Dogmas ›Sei deines eigenen Glückes Schmied‹ – eine permanente Verhöhnung des angeblich herrschenden Leistungsprinzips.«
Bildung fördert zudem die Produktivität der Arbeitskräfte. Höhere Produktivität wiederum führt zu einem stärkeren Wirtschaftswachstum, was die allgemeinen Steuereinnahmen erhöht. Wenn große Teile der Bevölkerung nicht ihr volles Potenzial ausschöpfen können, bleibt ein bedeutender Teil des Arbeitsmarktes unterentwickelt, was die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit schmälert. Die Menschen bleiben unter ihren Fähigkeiten, können ihre Talente nicht nutzen und das kollektive wirtschaftliche Potenzial eines Landes wird gleich mit gedämpft. Die fiskalische Rendite von Bildung kann daher als ein Maß dafür verstanden werden, wie effektiv und rentabel die Investitionen in das Bildungssystem aus der Perspektive der öffentlichen Finanzen sind.
Ungleichheit, insbesondere in Form von Vermögenskonzentration, hat tiefgreifende negative Auswirkungen auf Innovation und Wettbewerb in der Wirtschaft. Wenn Vermögen und Ressourcen stark in den Händen weniger konzentriert sind, wird das wirtschaftliche Gleichgewicht gestört, was zu einer Vielzahl von Problemen führt, die das Wachstum und die Dynamik einer Volkswirtschaft beeinträchtigen können.
Innovation ist eines der Lieblingswörter unserer Neoliberalen. Sie wird als der Motor des wirtschaftlichen Fortschritts angepriesen, der uns neue Produkte, Dienstleistungen und Technologien erschließen und neue Märkte schaffen soll. Was bei diesen wohlklingenden Worten jedoch vergessen wird: Eine ungleiche Vermögensverteilung behindert Innovationsprozesse erheblich.
Wenn Vermögen konzentriert ist, haben nur wenige Menschen oder Unternehmen die finanziellen Mittel, um in Forschung und Entwicklung zu investieren. Dies kann dazu führen, dass das Innovationspotenzial einer Gesellschaft nicht vollständig ausgeschöpft wird, da viele Einzelpersonen oder kleine Unternehmen nicht die notwendigen Ressourcen haben, um ihre Ideen zu verwirklichen. Stattdessen werden sie von den Big Playern plattgemacht.
Gleiches gilt für den viel gepriesenen Wettbewerb. Eine hohe Vermögenskonzentration untergräbt jede faire Konkurrenz. Große, vermögende Unternehmen besitzen alle Mittel, um kleinere Konkurrenten durch aggressive Marktpraktiken wie Preisdumping oder Übernahmen auszuschalten. Das führt zu Monopolisierung oder Oligopolisierung, wobei wenige große Akteure den Markt dominieren. Dies kann das Wirtschaftswachstum langfristig dämpfen und die sozialen Spannungen verstärken.
Ein weiterer Grund, warum die zunehmende Vermögenskonzentration eine ernsthafte Gefahr für die ökonomische Stabilität und das langfristige Wachstum darstellt, wurde in den letzten Jahren in Vorlesungssälen landauf, landab diskutiert. Der Ökonom Thomas Piketty warnte in seinem Bestseller Das Kapital im 21. Jahrhundert vor einer patrimonialen Gesellschaft – also einer Gesellschaft, in der der Kontostand und die Erbschaft der Vorfahren über den sozioökonomischen Werdegang der heutigen Generation entscheidet. Die neoliberale Wirklichkeit ist damit genau das Gegenteil des neoliberalen Dogmas »Sei deines eigenen Glückes Schmied« – eine permanente Verhöhnung des angeblich herrschenden Leistungsprinzips.
In einer Gesellschaft, in der die Rendite auf Kapital – Zinsen, Dividenden, Mieten – größer als die Wachstumsrate der Wirtschaft ist und reiche Haushalte in der Lage sind, eklatant mehr von ihrem Einkommen zu sparen als ärmere Menschen, vermehren Reiche ihr Vermögen schneller als die gesamte Wirtschaft wächst. Das Vermögen einiger Weniger steigt schneller als das Einkommen der Vielen und akkumuliert in einzelnen Familien.
Damit verschärfen sich Einkommens- und Vermögensungleichheit immer weiter. Je höher die Rendite auf Vermögen ist und je geringer das Wirtschaftswachstum ausfällt, desto besser sind Reiche in der Lage, Vermögen zu vererben.
Wer sich also tatsächlich den Orden des Verteidigers der Gesamtwirtschaft anheften will, wer ein stabiles und zugleich nachhaltiges Wirtschaftswachstum erzielen will, wäre gut beraten, die hohe Ungleichheit zu bekämpfen. Hierfür reicht selbstredend keine einzelne Maßnahme aus, dennoch gibt es Ansätze, die mittels parlamentarischer Mehrheit umgesetzt werden könnten.
Die Erhöhung der Spitzensteuersätze für die höchsten Einkommensgruppen wäre beispielsweise ein solcher Weg, die Anhebung der Steuerfreibeträge, um Menschen mit geringen und mittleren Einkommen zu entlasten und die Kaufkraft zu erhöhen, ein anderer. Eine dauerhafte Senkung der Mehrwertsteuer auf Grundbedarfsgüter, wie Lebensmittel oder medizinische Versorgung würde die finanzielle Belastung verringern. Dabei lässt sich ebenso eine Erhöhung der Mehrwertsteuer auf Luxusgüter ins Spiel bringen.
»Dass Menschen trotz Arbeit oder nach jahrzehntelangem Buckeln auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ist zweifelsfrei ein entwürdigendes Armutszeugnis für ein so reiches Land.«
Der Klassiker aller linken Forderungen, die Wiederbelebung der Vermögensteuer, darf natürlich nicht fehlen. Jedoch nicht, wie viele Linke gerne behaupten, um als Staat das nötige Kleingeld für Investitionen in der Tasche zu haben, sondern um die Konzentration hoher Vermögen und die immer damit einhergehende Macht zu schwächen. Aber das Geld, das an den Staat ginge, wäre natürlich trotzdem in Bildungsinvestitionen weitaus besser aufgehoben als in der Zweityacht eines Erben.
Höhere Steuersätze auf große Erbschaften und Schenkungen spielen hier eine ähnliche Rolle. Sie wären zudem ein klares Signal, dass eben nicht das Geburtsglück über den Lebensweg entscheidet. Ähnlich verhält es sich mit einer Erhöhung der Steuern auf Kapitalerträge.
Um Menschen in den unteren und mittleren Einkommensgruppen zu stärken, kommt man um stärkere Tarifbindungen, höhere Löhne und eine Bekämpfung des Niedriglohnsektors nicht herum. Eine daraus resultierende lebenswerte Rente ist mit Blick auf die Altersarmut in Deutschland selbstredend das Minimum, das man von einer Regierung erwarten sollte. Dass Menschen trotz Arbeit oder nach jahrzehntelangem Buckeln auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ist zweifelsfrei ein entwürdigendes Armutszeugnis für ein so reiches Land. Und letzten Endes ist es auch ein Dämpfer für die Wirtschaft.
Dieser makroökonomische Argumentationsversuch mindert selbstredend nicht die bisherigen Ansätze, mit denen linke Akteure Ungleichheit als Gefahr für den demokratischen und sozialen Zusammenhalt anprangern. Gegen die Entsolidarisierungsprozesse muss auf allen Ebenen und mit allen Mitteln angekämpft werden.
Wenn wir aber die AfD tatsächlich dauerhaft klein bekommen wollen, werden wir um eine nachhaltige Bekämpfung der Einkommens- und Vermögensungleichheit nicht herumkommen. Dafür braucht es deutlich mehr Stimmen in der Wahlurne. Und die werden wir nicht alleine mit Geschichtsstunden und Appellen an die Moral erreichten, sondern nur, wenn wir deutlich machen, dass Ungleichheit uns alle angeht.
Dana Moriße ist Wirtschaftshistorikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am DIFIS (Deutsches Institut für Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung) sowie im Netzwerk Plural Ökonomik e.V.