19. Januar 2023
Stress, durchgetaktete Arbeitstage, Ausbeutung: Was das Uhrenhandwerk mit der industriellen Arbeitsteilung und dem Widerstand dagegen zu tun hat, davon erzählt der bildstarke Film »Unruh«.
Standbild aus dem Film »Unruh«
In einem Industriestädtchen im Schweizer Jura geht 1870 ein Gespenst um, das Gespenst des Kommunismus. Hier arbeiten hochspezialisierte Uhrmacherinnen an den besten Zeitmessern der Welt – und an der Revolution. Heimlich bilden sie eine anarchistische Vereinigung und loten die Möglichkeiten des Widerstands im Kleinen wie im Großen aus. Cyril Schäublins Film Unruh, der auf der Berlinale zu Recht einen Preis für die beste Regie gewann, erzählt die Geschichte dieser revolutionären Uhrmacher und Piotr Kropotkins, der erst hier zum Anarchisten wird.
Der Film zeigt die Moderne in ihrer ganzen Kraft und in ihren Widersprüchen. Und er lenkt den Blick auf die Vermessung von Zeit und Arbeitskraft – denn eine Uhr ist ein machtvolles Instrumente der Unterdrückung. Sie gibt vor, wie gestresst wir von Termin zu Termin eilen oder wann der Wecker uns aus dem Bett klingelt, um nicht zu spät zur Lohnarbeit kommen, die uns Minute um Minute Lebenszeit raubt. Und doch ist eine Uhr auch ein filigranes, hoch komplexes Wunder der Handwerkstechnik. Es ist dieses Spannungsfeld, das Unruh meisterhaft ausbalanciert.
Unruh entfaltet sich vor der Drohkulisse einer Wirtschaftskrise, die in den 1870ern am Horizont aufzieht. Krisen, so sagt sich der Chef der Uhrmacher, begegnet man am besten mit gesteigerter Produktivität. Mit einer Stoppuhr bewaffnet überwachen nun die Fabrikoberen die Arbeiterinnen, die vor ihnen an langen Tischen in präziser Feinarbeit die Uhren zusammensetzen, um die Wertschöpfung jeder Sekunde aus ihnen herauszupressen. Das komplexe Handwerk, das der Zusammenbau einer Uhr erfordert, zeigt die Kamera mit weitaus mehr Zuwendung und Bewunderung als die Aufseher für diese Arbeit aufbringen mögen. In weißen Kitteln gekleidet verlesen die Manager die Arbeitszeit jeder einzelnen: »22 Sekunden, Madame«, einer guter Schnitt. »35 Sekunden, Madame«, zu langsam, wenig später folgt die Kündigung. In einer bitteren Ironie ist das Gerät, das die Arbeiterinnen so quält, genau jenes, das sie selber herstellen.
Doch ihr Geist ist vom gnadenlosen Akkord nicht gebrochen: »Ich hab absichtlich langsamer gearbeitet«, flüstert eine Uhrmacherin ihrer Kollegin zu und lacht. Was bleibt einem anderes als lachen, ob der ganzen Absurdität, die der Fabrikbesitzer in seinem Produktivitätswahn auf seine Arbeiter loslässt. Selbst der Weg von einem Fabriktor zum anderen wird zeitlich bemessen – und das, obwohl ausgerechnet Werbemaßnahmen das ganze Gelände blockieren. Um nicht in Fotoshootings reinzustolpern, müssen die Arbeiter Umwege in Kauf nehmen: »Aber Monsieur, wenn ich, statt Ausgang B7 zu nehmen, zum Ausgang C3 muss, verliere ich 11,5 Sekunden.«
Es ist die brutale Umwandlung des Menschen in Zahlen und Vorgaben, die Unruh in Szene setzt. Repetition und Takt sind die prägende Stilmittel, so wie es der Akkord und die Arbeitsteilung in der Industrialisierung waren. Schäublin komponiert in trügerisch ruhigen Bildern das Aufeinanderprallen von Gegensätzen: Ausbeutung und Widerstand, Nationalismus und Internationalismus, Kontrolle und Freiheit, Proletariat und Bourgeoisie, Klasse gegen Klasse. Die Figuren erscheinen oft in untypisch arrangierten Totalen, ganz klein vor riesigen Fabriken, wie verloren zwischen Infrastrukturbauten. Dann plötzlich erscheint ihre Individualität auf der Leinwand in Nahaufnahmen ihrer Gesichter.
In ihrem Widerstand werden die Arbeiter lebendig. Sie verabreden sich zu konspirativen Treffen, lesen sich Nachrichten der weltweiten Arbeiterbewegung vor, feiern Feste und singen sozialistische Lieder. Dass sich die Arbeiterklasse nicht von schnöden Nationalgrenzen oder gar Sprachbarrieren auseinanderdividieren lassen soll, zeigt der Film en passant. Während das Bürgertum eine patriotische Tombola organisiert, sammeln die Arbeiterinnen Spenden für einen Streik in Baltimore. Und wie selbstverständlich kommunizieren sie auf Französisch, Schweizerdeutsch, Deutsch, Englisch und Italienisch. Auch mehrere Szenen auf Russisch sind eingestreut.
Unruh hat keinen klassisch narrativen Bogen, der Film wirkt eher wie ein historisches Dokument. Auch wegen der brillanten Ausstattung – von Kostümen bis zur originalen Stechuhr – ist Unruh ein ästhetisches Erlebnis. Und der Film lässt einem genug Zeit, um die vielen Details und genialen Bildkompositionen auf sich wirken zu lassen. Denn Unruh ist, passend für einen Film über die gnadenlose Beschleunigung der Moderne, so verlangsamt, dass man sich während des Films kurz von der hektischen Temporalität des Kapitalismus befreit fühlt. So erscheint der Film in seiner Machart selbst als kurzer Moment des Widerstands. Gelernt hat Schäublin diese Technik wohl bei seinem Mentor, dem viel beachteten philippinischen Filmemacher Lav Diaz, der für seine bis zu 10-stündigen cineastischen Verlangsamungs-Orgien bekannt ist.
Der Film wirkt auch deswegen wie ein historisches Zeugnis, weil er eine selten behandelte Episode der Geschichte des Sozialismus auf die Leinwand bringt. Denn jurassischen Uhrmacher waren an einem zentralen Meilenstein in der Geschichte des Arbeiterbewegung beteiligt: Der Rauswurf der Anarchisten um Bakunin aus der Ersten Internationale entspann sich vor dem Hintergrund eben dieser »Féderation jurassien«, um die sich Unruh dreht. Die Schweiz war im 19. Jahrhundert eines der am frühesten und am stärksten industrialisierten Länder des Kontinents, wie man bei Karl Marx im Kapital an vielen Statistiken ablesen kann. Die Schweizer Arbeiterklasse gehörte damals zu den militantesten Europas. Auch als liberales Exilland für die 1848er-Revolutionäre, deutsche Sozialdemokraten wie Bebel und Bernstein, Anarchisten wie Bakunin und Kropotkin und russischer Revolutionäre wie Lenin sowie als Studienort von Radikalen wie Luxemburg und häufige Tagungsstätte der Ersten und Zweiten Internationalen nimmt die Schweiz einen zentralen Platz in der Entwicklung des Sozialismus ein. Unruh erinnert an diese, in der Schweiz bewusst von der bürgerlichen Elite verschüttete und im Ausland wenig beachtete Geschichte.
Die Beschäftigung mit dem Kapitalismus und dem Widerstand dagegen kristallisiert sich als Schäublins Kernthema heraus. Sein erster Spielfilm von 2017 verwies bereits im Titel darauf: Dene Wos Guet Geit zitiert einen bekannten Song des Schweizer Liedermachers Mani Matter aus den 1960ern, der die dialektischen Verstrickungen des Kampfs für eine bessere Welt besingt. Schäublins Erstling folgte einer Callcenter-Angestellten, die Rentnerinnen mit dem Enkeltrick um tausende Franken betrügt. Der Film ist eine visuelle Kritik der Atomisierung im Neoliberalismus: In der Totalen verschwinden Individuen vor Sichtbetonwänden, in sterilen Parks oder zwischen dem Glas und Stahl neoliberaler Architektur und Stadtplanung. Ganz ähnlich irren in Unruh Arbeiter durch labyrinthartige Fabrikgelände und verlieren zwischen summenden Maschinen fast ihre Menschlichkeit. Beide Filme drehen sich um Kern um die Entfremdung in der Moderne.
Doch Unruh zeigt immer auch die Hoffnung, die im Widerstand der anarchistischen Uhrmacher gegen die brutale Diktatur des Akkords und gegen die Herrschaft des Bürgertums zu finden ist. Bleibt nur zu wünschen, dass Dene wos guet geit und Unruh den Auftakt einer Trilogie bilden: eine leise Malavita des Kapitalismus.
Caspar Shaller ist freier Journalist.