15. September 2020
Lange Zeit glaubten Linke an den ewigen Fortschritt. Doch die Klimakatastrophe bringt uns an planetare und gedankliche Grenzen. Über die Macht einer apokalyptischen Erzählung.
Wir sitzen alle in Waggons an deren Spitze sich eine kraftvolle Zugmaschine befindet. Die »Lokomotiven der Weltgeschichte«, wie Marx Revolutionen einmal nannte, waren lange Zeit für Linke mehr als eine Metapher: Im Bild der Lokomotive verdichten sich Fortschrittsdenken sowie die Aufforderung zum politischen Kampf, denn irgendjemand muss den Zug ja steuern und die Maschine mit Energie versorgen.
Die Lokomotiven der Geschichte waren somit das, was heute schmerzlich vermisst wird: eine linke Erzählung, die die verschiedenen Fäden des Alltagsverstands zusammenbindet, die unübersichtlichen Erscheinungen gesellschaftlicher Widersprüche ordnet und eine strategische Perspektive aufzeigt. Wenn sie gut ist, verbindet sie das Vergangene mit dem Bestehenden und dem Möglichen.
Spätestens seit dem Untergang des Realsozialismus denkt heute kaum noch jemand an solche Lokomotiven. Die Vorstellung einer besseren Zukunft mag in der Ideologie des Neoliberalismus noch einigen präsent sein, etwa der Wunschtraum eines Kapitalismus, der irgendwann keine Diskriminierungen mehr kennen wird – den meisten Linken dürfte die Hoffnung aber erst einmal abhandengekommen sein.
Heute kann niemand sicher sagen, ob der linke Traum von der Zukunft, die klassenlose Gesellschaft, in ein, zwei, drei Generationen vergessen sein wird – oder ob es sich mit ihm wie mit dem Wunsch vom Fliegen verhält, von dem Brecht in dem Gedicht Ulm 1592 erzählt. Das Gedicht handelt von einem Schneider, den Brecht an den Ulmer Albrecht Ludwig Berblinger anlehnt. Er will dem Bischof zeigen, dass er fliegen kann, und steigt mit seiner selbst entworfenen Flügelkonstruktion auf das Kirchendach. Der Bischof ist sich sicher, dass das nicht klappen könne, denn der Mensch sei ja kein Vogel. Der Schneider lässt sich nicht beirren und springt dennoch – und zerschellt auf dem Kirchenvorplatz. Der Bischof beteuert daraufhin den umstehenden Leuten, der Mensch werde niemals fliegen können. Bekanntlich hat die Geschichte den Bischof auf lange Sicht widerlegt. So lässt sich das Gedicht als Parabel auf den Fortschritt interpretieren. Der Politiker und Journalist Lucio Magri fügt dieser Deutung in seiner Geschichte der Kommunistischen Partei Italiens, der einst größten und stärksten kommunistischen Partei Westeuropas, eine weitere Wendung hinzu: So wie die Menschen heute fliegen können, so könnte es sich auch einmal mit dem Kommunismus verhalten. Vielleicht in hundert, vielleicht auch erst in fünfhundert Jahren könnte der zerschellte Traum der klassenlosen Gesellschaft doch noch Realität werden.
Ob der Kommunismus in Vergessenheit gerät, oder ob es gelingt, eine neue Linke aufzubauen, wird auch davon abhängen, ob eine kohärente Erzählung mit linken Inhalten und einem Verständnis von Zeit und Geschichte entwickelt wird. Die Lokomotive eignet sich dafür nicht mehr, denn die Geschichte vom ewigen Fortschritt ist aus linker Sicht in Verruf geraten: Weltkriege, Atombomben und der Holocaust machen sie unglaubwürdig.
Die Postmoderne erklärte das Ende der großen Erzählungen solange, bis nichts und niemand mehr übrig war, für das es sich zu kämpfen lohnte. Schließlich riefen Neokonservative das Ende der Geschichte aus und hinterließen nichts als Leere an jenem Ort des Bewusstseins, an dem sich einst die Hoffnung auf eine bessere Zukunft befand. Seitdem dominiert der Präsentismus, der weder das Vergangene noch das Kommende kennt, nur noch »auf Sicht« fährt und sich dabei in Endlosschleifen aus Pragmatismus, konstruktiven Vorschlägen und kreativen Lösungen verheddert.
Doch wer nur noch auf Sicht fährt, wird kaum hinterfragen, ob die eingeschlagene Richtung überhaupt die richtige ist. Und wer siegesgewiss hinter der nächsten Steigung das lang ersehnte Paradies erwartet, droht den hinter der Gebirgskette liegenden Abgrund zu übersehen. Präsentismus und Fortschrittszug sind für ein linkes Geschichtsbild deshalb ungeeignet. Eine adäquate Erzählung ist vielmehr die der Apokalypse: Einmal ist sie angesichts des tatsächlich drohenden Kollapses der Menschheit durchaus angemessen, außerdem ist sie kulturell bereits verankert und wird aktuell durch die Klimabewegung aktualisiert – und in ihrer universalistischen Variante ist sie obendrein sogar mit dem Traum von der klassenlosen Gesellschaft kompatibel.
Am Beispiel der Literatur und diverser Filme zeigt die Germanistin Eva Horn, dass die Zukunft vor allem als Katastrophe erscheint: Auf dem Buchmarkt boomen dystopische Romane, auf den Kinoleinwänden geht es immer wieder um Killerviren, die die Menschheit vernichten, Riesenasteroiden, die auf die Erde zurasen, und gigantische Naturkatastrophen.
Die gegenwärtige Vorstellung von der Apokalypse ist wesentlich durch die Religion geprägt. Im Christentum etwa markiert die Apokalypse das Ende der alten und den Beginn der neuen, besseren Welt; das griechische Wort »apokalpysis«, das »Enthüllung« bedeutet, übersetzt es als »Offenbarung«. Doch auch bei jenen, die keinen religiösen Bezug haben, hat sich die Angst vor dem Weltuntergang tief ins Bewusstsein eingeprägt.
Die Apokalypse bietet auch jenseits des religiösen Inhalts eine Form, Geschichte zu erzählen. Ihr Narrativ ist nicht einheitlich, sondern bietet vielmehr eine Erzählstruktur – eine Form, die mit unterschiedlichem Inhalt gefüllt werden kann. So gibt es heute mindestens drei apokalyptische Erzählungen, die sich dem Inhalt nach stark unterscheiden. Da ist zunächst die konservative Variante, die auf die Bewahrung des Bestehenden zielt, die Hände in den Schoß legt und hofft, es möge sich schon alles fügen. Da ist zum zweiten die reaktionäre Erzählung vom Untergang, die Thilo Sarrazin mit seinem Buch Deutschland schafft sich ab 2010 wieder populär machte. Dem entgegen steht drittens eine Variante der apokalyptischen Erzählung, bei der es um die Sorge um die gesamte Menschheit geht und die somit universalistisch ist. Damit steht sie im krassen Gegensatz zu der reaktionären Version, die sich auf einen begrenzten Teil, etwa auf ein ethnisch oder kulturell homogenes Volk bezieht.
Die universalistische Spielart der apokalyptischen Erzählung findet sich auch in der globalen Klima-Bewegung wieder, die die Untergangsgeschichte von der alten Ökologie-Bewegung geerbt hat. Eindringlich sprach Greta Thunberg im Herbst 2019 vor den Vereinten Nationen vom Anfang eines »Massenaussterbens«. Ähnlich klingt dies bei der klimapolitischen Gruppe Extinction Rebellion, die vor dem Aussterben von Pflanzen, Tieren und der Menschheit selbst warnt.
Die Angst vor dem Untergang der Menschheit entspringt keinem Wahn, sondern ist durch zahlreiche Analysen und Studien belegt, was höchstens von Leugnerinnen und Leugnern des Klimawandels angezweifelt wird. Das klassische Fortschrittsdenken des Marxismus hat hierzu wenig anzubieten, ein passenderes Geschichtsbild findet sich jedoch beim Philosophen Walter Benjamin. Am Ende seines Lebens, sich auf der Flucht vor dem Faschismus und dabei in einer zunehmend aussichtslosen Lage befindend, greift er die gängige Fortschrittsmetapher auf: »Marx sagt, die Revolutionen sind die Lokomotiven der Weltgeschichte. Aber vielleicht ist dem gänzlich anders. Vielleicht sind die Revolutionen der Griff des in diesem Zug reisenden Menschengeschlechts nach der Notbremse.« Sehr ähnlich klingt es, wenn Greta Thunberg bei der UN-Klimakonferenz in Katowice davon spricht, dass es die einzig vernünftige Sache sei, die Notbremse zu ziehen.
Der Vorstellung, dass eine Katastrophe drohe, wenn es so weitergehe, setzt Benjamin eine etwas andere Auffassung entgegen: »Dass es ›so weiter‹ geht, ist die Katastrophe«. Hier gehen Benjamin – und damit eine potenziell kommunistische Erzählung – und zumindest Teile der Klimabewegung getrennte Wege. Benjamin geht es gerade darum, das Drohende mit dem Gegenwärtigen und dem Vergangenen zu verbinden. Damit steht er der kalifornischen Ideologie entgegen, die technologische »Lösungen« gesellschaftlichen Veränderungen vorzieht. Konstruktive, kreative Köpfe sollen es richten: Ein paar Erfindungen hier, ein paar schlaue Ideen da – so kann das Ende der Menschheit vielleicht doch noch verhindert werden. Doch auch Tausende Hackathons werden nicht helfen, wenn die gesellschaftlichen und ökonomischen Ursachen des Klimawandels unangetastet bleiben, also die kapitalistische Produktionsweise, die dem Profit grundsätzlich den höchsten Stellenwert einräumt, nicht beendet wird.
»Tausende Hackathons werden nicht helfen, wenn die gesellschaftlichen
und ökonomischen Ursachen des Klimawandels unangetastet bleiben.«
Grüne Kapitalistinnen und Kapitalisten hoffen gemeinsam mit dem solutionistischen Flügel der globalen Klimabewegung auf ein Licht am Ende des Tunnels. Slavoj Žižek appelliert in seinem Buch Mut zur Hoffnungslosigkeit, die Ausweglosigkeit der Lage konsequent zu Ende zu denken. Wahrer Mut bestehe darin, »einzugestehen, dass das Licht am Ende des Tunnels wahrscheinlich die Scheinwerfer eines entgegenkommenden Zuges sind«. Erst wenn wir die Ausweglosigkeit unserer Situation samt ihrer strukturellen Ursachen erkennen, können wir die Koordinaten der Gesamtsituation verändern.
Einst war der Marxismus von einem unbändigen Optimismus geprägt: Nach der Revolution wird der neue Mensch geschaffen, immerzu geht irgendwer dem Sonnenaufgang entgegen, ist der Zukunft zugewandt. Mit seinem (vielleicht vorläufigen) Scheitern kehrte Melancholie ein, eine orientierungslose allerdings, weil den Linken jede Zeitstruktur und jegliches Geschichtsbild abhandengekommen ist. Eine linke apokalyptische Erzählung im Sinne Benjamins könnte an diesem Punkt ansetzen.
Und die Erzählung vom Griff nach der Bremse könnte uns zugleich vor einem falschen Verständnis des Sozialismus schützen, denn was bringt schon der Wechsel des Triebfahrzeugs, wenn weder die Reisenden noch das einfache Personal davon etwas mitbekommen.
Schließlich geht es bei der linken apokalyptischen Erzählung nicht nur darum, ein Weiter-so auszuschließen und den Kommunismus langfristig als Alternative zu bewahren, sondern auch um die Frage des Subjekts: Die Zerstörungsmaschine des Kapitalismus wird weder einfach wegreflektiert werden, noch lässt er sich durch symbolische Platzbesetzungen oder Demonstrationen stoppen. Es muss sich wer trauen, die Notbremse zu ziehen.
Ohne Notbremsung wird der Zug entgleisen. Wenn wir den Untergang der Menschheit wirklich noch verhindern wollen, kommen wir nicht umhin, dem Profitstreben auf Kosten der Menschen und der Natur ein Ende zu setzen. Dann wird es darum gehen, wie die Gesellschaft sich zukünftig organisieren soll – dann werden wir uns hoffentlich an den Schneider von Ulm erinnern.
Sebastian Friedrich ist Autor und Journalist aus Hamburg.