01. Juli 2024
Hinter der Fassade zweifelt das Partei-Establishment der Demokraten schon lange daran, ob Joe Biden noch als Präsident geeignet ist. Mit der TV-Debatte vom vergangenen Donnerstag ist diese Fassade gefallen.
Joe Biden wirkte bei dem TV-Duell gegen Donald Trump verwirrt und überfordert, Atlanta, 27. Juni 2024
IMAGO / USA TODAY NetworkEs lässt sich viel über die TV-Debatte zwischen Joe Biden und Donald Trump in der vergangenen Woche sagen. So gab es ein deprimierendes Schauspiel, in dem jeder Kandidat versuchte, den jeweils anderen rechts zu überholen, beispielsweise bei Fragen, wer die Migration mehr einschränkt, wer China gegenüber härter auftritt oder wer die Staatskassen weniger belastet. Man könnte auch den Mangel an echten Ideen erwähnen, wie das Leben der Arbeiterinnen und Arbeiter in den USA verbessert werden soll. Und natürlich könnte man darüber sprechen, wie peinlich es war, den beiden Kandidaten für das mächtigste Amt der Welt dabei zuzusehen, wie sie sich über ihre Golf-Handicaps streiten.
Es gab außerdem die erwartete Flut an absurden Lügen und erschreckendem Rassismus seitens Trump, wie beispielsweise seine Behauptung, dass »wir derzeit die größte Anzahl von Terroristen haben, die in unser Land kommen«. Er attackierte Biden unter anderem mit der Aussage, letzterer sei »wie ein Palästinenser geworden«, freilich »ein sehr schlechter Palästinenser; ein schwacher«.
Aber seien wir ehrlich: Es gibt nichts, worüber man mehr sprechen sollte (und nichts, worüber alle mehr reden wollen), als über den alarmierend desaströsen Auftritt von Präsident Joe Biden in der Debatte und über die Reaktion der Medien und des demokratischen Establishments auf diesen Auftritt.
Seit Monaten müssen Biden, seine Partei und seine Berater auf die wachsende Sorge der Öffentlichkeit über den Gesundheitszustand des Präsidenten reagieren. Es gab mehrere Interviews und Auftritte, in denen er abschweifte, Dinge durcheinanderbrachte und seine Aussagen inkohärent wurden. Hinzu kommt seine auffällige Abwesenheit bei nicht-gescripteten Medienauftritten. Aus der Partei heißt es dazu meist, die allgemein Öffentlichkeit sehe nicht die volle Wahrheit. Viele Videos seien gefälscht, manipuliert oder aus dem Zusammenhang gerissen. Hinter verschlossenen Türen trete Biden hingegen scharfsinnig, brillant und prägnant auf.
»Ich habe viel Zeit mit Joe Biden verbracht«, betonte Joe Scarborough von MSNBC noch vor drei Monaten. »Ich habe ihn unterschätzt, als ich sagte, er sei scharfsinnig. Denn er ist weit mehr als scharfsinnig. Ich denke sogar, dass er intellektuell und analytisch heute besser ist als je zuvor.«
Die amerikanische Öffentlichkeit hatte in der vergangenen Woche die Chance, sich selbst davon zu überzeugen. Das Ergebnis ist, dass aus einer lange schwelenden Sorge ein Flächenbrand geworden ist. Man kann den Moment, in dem Biden die Debatte verlor, fast genau auf Minute elf in der Diskussion eingrenzen, als er auf die Frage antwortete, warum die Superreichen weiterhin so wenig Steuern zahlen, wo doch die Staatsverschuldung so hoch ist. In der Szene – die jedem bekannt vorkommen dürfte, der sich frühere Videoaufnahmen von Auftritten des Präsidenten ohne Skript angesehen hat – endete eine zunächst anständig erscheinende Antwort (mit ein paar Stolperern) darin, dass Biden offenbar vergaß, was er überhaupt sagen wollte, abschweifte und letztendlich Nonsens von sich gab. Trump freute das Gestammel und sein wirres Ende sichtlich.
»Bidens Patzer waren besonders eklatant beim Thema Schwangerschaftsabbruch, einem der Punkte, bei denen er einen klaren Vorteil haben sollte.«
Und es wurde nicht besser. Als er über seine jüngste Verordnung zur Aushöhlung des Asylrechts sprach, prahlte Biden mit dem Rückgang der Migration und gelobte, er werde »so lange weitermachen, bis wir das totale Verbot der – die totale Initiative im Verhältnis zu dem, was wir mit mehr Grenzschutz und mehr Asylbeamten tun werden«. Trumps Reaktion darauf: »Ich weiß bei bestem Willen nicht, was er am Ende des Satzes gesagt hat. Ich glaube, er weiß selbst nicht, was er da gesagt hat.«
Auf eine Frage zur amerikanischen Sozialversicherung – eine große Schwachstelle für Trump, der im März angekündigt hatte, die Programme drastisch zu kürzen – beendete der amtierende Präsident seine Antwort nach nur knapp 40 Sekunden und musste von den Moderatoren regelrecht gedrängt werden (»Sie haben noch 82 Sekunden Zeit«), seine Antwort zu ergänzen und den naheliegenden Angriff auf Trump zu starten.
Bidens Patzer waren besonders eklatant beim Thema Schwangerschaftsabbruch, einem der wenigen Punkte, bei denen er eigentlich einen klaren Vorteil haben sollte. Als er über seine grundsätzliche Unterstützung für Roe v. Wade sprach, sagte Biden, es gebe »drei Trimester« – ein Verweis auf drei Stadien einer Schwangerschaft, was natürlich wenig Bezug zu Gerichtsentscheidungen hat – wobei das dritte Trimester »zwischen der Frau und dem Staat« ausgetragen und entschieden werde. Umgehend betonte er dann doch, dass Politiker keine Entscheidungen über die Gesundheit von Frauen treffen sollten. Biden kritisierte die Grausamkeit von Trumps Vorstoß, den Bundesstaaten die Entscheidung über die jeweilige Abtreibungspolitik zu überlassen, erwähnte dabei aber unerklärlicherweise den Fall einer Frau, die von einem Einwanderer ohne Papiere getötet wurde, und Trumps Teilnahme an ihrer Beerdigung.
Der Tiefpunkt war wohl, als Trump die absolut lächerliche Behauptung aufstellte, dass Ärztinnen und Ärzte in demokratisch regierten Staaten »das Leben des Babys [...] sogar nach der Geburt nehmen« und »das Baby im neunten Monat aus dem Mutterleib reißen und es töten« dürften. Biden antwortete darauf lediglich: »Nur wenn das Leben der Frau in Gefahr ist, wenn sie sterben würde – das ist der einzige Umstand, unter dem [das] passieren kann.« Damit erweckte er den Eindruck, dass an Trumps unglaublicher Lüge tatsächlich etwas dran sein könnte.
Dies ist nicht einmal eine annähernd vollständige Liste der Dinge, die am Donnerstag für Biden schief gelaufen sind. Was auch immer man vom Präsidenten hält: es war anstrengend und schmerzhaft, ihm zuzusehen. Es hat wenig Sinn, alle seine schlechtesten Momente vom Donnerstagabend noch einmal Revue passieren zu lassen. Der Versuch des Wahlkampfteams, Bidens desaströses Auftreten auf eine Erkältung zu schieben, wird niemanden überzeugen, vor allem nicht, da die Reporterin Nancy Cordes gegenüber CBS erklärte, ihre erste Nachfrage zu Bidens Performance sei zunächst mit einer Dreiviertelstunde »Funkstille« beantwortet wurden, bevor das Weiße Haus und das Wahlkampfteam der Demokraten sie zeitgleich mit der Erkältung-Ausrede abspeisten.
»Vier Monate nachdem die Idee bereits kurzzeitig aufkam, aber schnell wieder verworfen wurde, wird jetzt offen darüber gesprochen, Biden als Kandidaten auszutauschen.«
Viel bedeutender ist, dass die katastrophale Leistung offenbar das inoffizielle Tabu unter liberalen Kommentatoren und loyalen Apparatschiks der Partei gebrochen hat, Bidens Schwächen öffentlich einzugestehen. Die Einschätzung seitens der Medien war vernichtend. »Es gibt eine tiefe, weit verbreitete und sehr dynamische Panik in der Demokratischen Partei«, meinte beispielsweise John King von CNN. »Diese begann schon Minuten nach der Debatte einzusetzen und hält bis jetzt an. [Diese Panik] betrifft die Parteistrategie, sie findet sich bei gewählten Funktionäre und bei den Geldgebern.«
Der ehemalige Redenschreiber und Berater von Barack Obama, Ben Rhodes, schrieb auf X, ehemals Twitter: »Den Leuten weismachen zu wollen, dass sie nicht gesehen hätten, was sie offensichtlich gesehen haben, ist nicht der richtige Weg, darauf zu reagieren.«
»Das größte Problem bei dieser Wahl sind die Bedenken der Wähler [...] wegen seines Alters. Und die wurden heute Abend noch verstärkt«, so der ehemalige Obama-Wahlkampfleiter David Plouffe. Biden und Trump schienen »vom gefühlten Alter her etwa dreißig Jahre auseinander zu liegen«.
Chuck Todd von NBC fügte hinzu: »Letztendlich sieht Joe Biden genauso aus wie die Karikatur, die die konservativen Medien von ihm gemalt haben [...] Es gab heute Abend keine [online geposteten] Clips, richtig? Das war echt – ihr habt es mit euren eigenen Augen gesehen.«
»Er konnte es einfach nicht besser«, fasste Chris Wallace auf CNN zusammen. Er erinnerte an die sechs Tage Vorbereitung auf die Debatte, die dann in diesem Auftritt Bidens mündeten: »Davon kann man sich nicht wieder erholen.«
Joy Reid von MSNBC räumte ein, Bidens Partei glaube »nach heute Abend nicht mehr« daran, dass er Trump schlagen kann. Ein demokratischer Kongressabgeordneter, der mit seinen Kolleginnen und Kollegen auf dem Capitol Hill das TV-Event verfolgte, erzählte gegenüber CNN, Bidens verworrene Antwort zur Staatsverschuldung habe für betretenes Schweigen im Saal gesorgt und in ihm »die Lust geschürt, von einer Brücke zu springen«. Ein CNN-Kommentator sagte, er erhalte SMS von »führenden Demokraten in den ganzen Vereinigten Staaten«, die sich Sorgen machten, man werde die Wahl wegen des amtierenden Präsidenten verlieren.
»Bidens Probleme wären vielleicht früher aufgedeckt und ein fähiger Nachfolger gefunden worden, wenn der Präsident zumindest gezwungen gewesen wäre, sich in Vorwahlen einem oder mehreren Herausforderern zu stellen.«
Schlimmer noch: Aus denselben Kreisen wird jetzt offen darüber gesprochen, Biden als Kandidaten auszutauschen – vier Monate nachdem die Idee bereits kurzzeitig aufkam, aber schnell wieder verworfen wurde.
Moderatorinnen und Kommentatoren von MSNBC diskutierten offen die Möglichkeit, Biden zu ersetzen. Nicole Wallace verriet, »in Bidens Umfeld« und innerhalb der Demokratischen Partei werde darüber gesprochen, »ob er morgen früh noch im Rennen sein darf«. Van Jones, der unter Obama mit Biden zusammengearbeitet hatte, sagte auf CNN: »Wir sind noch ein gutes Stück von unserem Parteitag entfernt und es ist noch genug Zeit für diese Partei, einen Weg nach vorne zu finden, sofern [Biden] uns das ermöglicht.« Die Ex-Senatorin Claire McCaskill, eine der wohl loyalsten Pro-Biden-Politikerinnen, erklärte, dass Biden bei der »einen Sache«, die er zu erledigen hatte, »versagt« habe. Sie höre von »vielen Leuten«, einschließlich Personen in »hohen Ämtern«, dass es »viel mehr als nur Kopfschütteln« gegeben habe. Abschließend legte sie nahe, Bidens engste aktuelle sowie frühere Berater sollten sich zusammensetzen, um »mit dem Präsidenten über seine Fähigkeit, Stärke auszustrahlen, zu sprechen«.
»Dieser Mann, der neben Trump auf der Bühne stand, kann nicht gewinnen. Bisher hat die Angst vor Trump jegliche Kritik an Biden im Keim erstickt. Doch jetzt dürfte dieselbe Angst die Rufe nach seinem Rücktritt befeuern«, prognostizierte ein altgedienter demokratischer Stratege und Biden-Unterstützer gegenüber Peter Baker von der New York Times, der seinerseits zuvor von panischen Diskussionen unter demokratischen Funktionären berichtet hatte, die offenbar zum Ziel hatten, Biden zum Rücktritt von seiner erneuten Kandidatur zu bewegen. Auch Politico berichtet, die Demokraten würden mit Bitten von Geldgebern und anderen Personen überschwemmt, man müsse den Präsidenten zum Rücktritt bewegen (Demnach sagte ein Unterstützer: »Unsere einzige Hoffnung ist, dass er aufgibt, wir einen schnell vermittelten Parteitag abhalten – oder er stirbt.«).
Am Ende des Donnerstagabends gab es auf der Meinungsseite der New York Times bereits drei separate Meinungsbeiträge von prominenten liberalen Kolumnisten, die Biden zum Rücktritt aufforderten. Darunter waren der »Liberal Darling« Nicholas Kristof sowie Tom Friedman, einer von Bidens Lieblingskolumnisten, der ihn persönlich seit Jahrzehnten kennt. Am Freitag kam dann noch ein vierter Artikel hinzu; ein weiterer sollte noch folgen. Gleiche Aufrufe erschienen in The Atlantic und von Edward Luce von der Financial Times, der schon zuvor die Demokraten aufgefordert hatte, »ihre selbst auferlegte Zensur gegen Biden zu beenden und die Sache endlich in Ordnung zu bringen«.
Am schwerwiegendsten für Biden ist wohl, dass er offenbar auch »Morning Joe« als Unterstützer verloren hat: Joe Scarborough – dessen Sendung stets eine reiche Quelle des Lobes für den Präsidenten war (und die Biden sich angeblich regelmäßig ansieht) und der noch vor drei Monaten seinem Publikum versicherte, er wisse aus erster Hand, dass »diese Version von Biden [...] der beste Biden aller Zeiten ist« – schloss sich den Forderungen nach einem Rückzieher des Präsidenten an: »Wenn er CEO wäre und eine solche Leistung abliefern würde, würde ihn dann irgendeine Firma in Amerika als CEO halten?«
Um es klar zu sagen: Die Demokraten und die Meinungsmacher haben nicht wegen einer einzigen schlechten Leistung im TV-Duell mit dem Präsidenten gebrochen. Sie debattieren schon seit Jahren das, was wir am Donnerstagabend beobachten konnten, und machten sich stets Sorgen – nur haben sie das bisher hinter verschlossenen Türen getan, ohne dem Rest der amerikanischen Bevölkerung zu sagen, was sie beobachten und wissen. Wenn Bidens Probleme dann öffentlich angesprochen wurden, hatten sie schnell die Reihen geschlossen und abgewiegelt. Seit vergangen er Woche ist es für sie aber unmöglich, sich weiterhin zu verstellen und die Realität zu leugnen.
Die Partei befindet sich nun in einem Dilemma: Soll sie einen sturen Biden dazu drängen, seinen Wahlkampf zu beenden, oder soll sie mit einem unpopulären Kandidaten weitermachen, der die Wählerinnen und Wähler mit seinen öffentlichen Auftritten verschreckt und der unbedingt von ungescripteten TV-Auftritten ferngehalten werden muss? Dieses Dilemma war natürlich vermeidbar und ist von der Demokratischen Partei selbst verschuldet. Bidens Probleme wären vielleicht schon früher aufgedeckt und ein fähiger Nachfolger per demokratischem Prozess gefunden worden, wenn der Präsident zumindest gezwungen gewesen wäre, sich in Vorwahlen einem oder mehreren Herausforderern zu stellen.
Stattdessen beschloss die Partei, die interne Demokratie zu unterdrücken, um den schlingernden Präsidenten zu schützen. Sie schloss jegliche Debatten von vornherein aus und erklärte Biden sogar zum Sieger einiger Vorwahlen, in denen es überhaupt nicht zu Abstimmungen kam. Zeitgleich haben die Medien – von den Parteiorganen bis hin zu nüchternen, seriösen Institutionen des Medienestablishments – ihren Teil dazu beigetragen, das zu leugnen und zu verheimlichen, was in elitären Kreisen schon seit Monaten und Jahren ein offenes Geheimnis ist.
Biden mag dem wachsenden Druck innerhalb der Partei und des liberalen Establishments im Moment noch widerstehen. Ihn davon zu überzeugen, den Weg für jemand anderen freizumachen, wäre aber ein Gewinn für alle Beteiligten, inklusive Biden selbst. Wenn er die Kandidatur zurückzieht, kann dieser Präsident – der ernsthaft Gefahr läuft, eine seiner größten Errungenschaften zunichte zu machen und einen radikalisierten, rachsüchtigen Trump zurück an die Macht zu bringen – sein angeschlagenes politisches Erbe retten. Für die Partei ist es indes eine Chance, im November doch noch zu siegen und einen Neustart zu wagen.
Lediglich Biden zu ersetzen, wird aber wahrscheinlich nicht ausreichen. Die Demokraten müssten einen solchen Kandidatenwechsel mit einer drastischen Kurskorrektur verbinden. Sie müssten Bidens bedingungslose Unterstützung für Israels Feldzug im Gazastreifen thematisieren, der die Partei spaltet, und der nahezu täglich droht, sich in einen katastrophalen regionalen Krieg auszuweiten. Außerdem sollte die Biden-Taktik aufgegeben werden, mit nichts weiterem außer Angstmacherei vor Trump Wahlkampf zu machen, und stattdessen einige Themen von Bidens Wahlkampf aus dem Jahr 2020 übernommen werden, der den Wählerinnen und Wählern tatsächlich konkrete, mutige Ideen aufzeigte, wie das Leben der Menschen in den USA verbessert werden könnte.
Die vier Monate, die bis zur Wahl verbleiben, sind länger als der gesamte Wahlkampf in vielen anderen Ländern. Es ist also mehr als genug Zeit, um das oben Beschriebene umzusetzen. Im Gegenzug macht ein Aufschub die Dinge nicht einfacher – und ein noch späterer Rückzieher nach all dem bereits Geschehenen wird das ohnehin schon wackelige Vertrauen der Öffentlichkeit in die Presse, die Institutionen und die Demokratische Partei nur noch weiter beschädigen.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.