17. April 2024
Im Zuge der Auflösung des Palästina-Kongresses durch die Berliner Polizei wurde Yanis Varoufakis ein Betätigungsverbot erteilt. In seinem ersten Interview mit einem deutschen Medium seit dem Eklat erklärt er, warum man ihn zum Schweigen bringen will.
Yanis Varoufakis nimmt an einem Protest gegen die Münchner Sicherheitskonferenz teil, Februar 2024.
Der dreitägige Palästina-Kongress in Berlin am vergangenen Wochenende versprach, ein Zeichen der Solidarität mit den Menschen im Gazastreifen zu setzen. Unter dem Motto »Wir klagen an« wollten palästinensische sowie jüdische, deutsche und weitere internationale Aktivistinnen und Aktivisten zusammenkommen, um über die furchtbare Lage in Gaza zu sprechen und Druck auf die Bundesregierung auszuüben, damit diese sich für einen Waffenstillstand einsetzt. Doch nur zwei Stunden nach Eröffnung am Freitag, dem 12. April, drang die Polizei in das Gebäude ein, schaltete den Strom ab und zwang die Hunderte von Teilnehmenden dazu, die Veranstaltung zu verlassen. Daraufhin wurde sie aufgelöst.
Einer der angekündigten Redner war der ehemalige griechische Finanzminister Yanis Varoufakis. Nicht nur, dass die Polizei seine Rede absagte – er gab darüber hinaus bekannt, dass ein generelles Betätigungsverbot in Deutschland gegen ihn verhängt wurde, er dürfe nicht einmal per Videoübertragung sprechen. Nun berichten Berliner Medien, dass sich dies auf ein Einreiseverbot reduziert habe.
Im Interview mit JACOBIN erklärt Varoufakis, warum der deutsche Staat so entschlossen ist, abweichende Meinungen zu unterdrücken — und warum das nichts mit der Verteidigung von jüdischem Leben zu tun hat.
Du hast in den sozialen Medien bekannt gegeben, dass Deutschland ein Betätigungsverbot gegen Dich verhängt habe. Jetzt behaupten einige Medien, dass Dir lediglich ein Einreiseverbot erteilt wurde. Es ist natürlich so oder so ein Skandal – aber kannst Du uns als Erstes erzählen, was genau passiert ist und wie Du davon erfahren hast?
Nun, das Ganze begann schon vor einiger Zeit, als ein Großteil des politischen Spektrums in Deutschland unsere Konferenz als antisemitisch und Terrorismus-nah verteufelte. Das ist ein ungeheuerlicher Vorwurf, insbesondere gegen unsere Mitorganisatoren, die Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost.
Am Tag des Kongresses umstellten 2.500 Polizisten den Veranstaltungsort und schikanierten die Teilnehmer. Ein junger jüdischer Genosse wurde verhaftet, weil er ein kleines, selbst gebasteltes Transparent mit der Aufschrift »Juden gegen Völkermord« trug. Als er von der Polizei abgeführt wurde, sagte er scherzhaft zu ihnen: »Wäre es in Ordnung gewesen, wenn ›Juden für Völkermord‹ draufgestanden hätte?« Daraufhin wurde er noch brutaler angegangen.
Zwei Stunden nach Beginn des Kongresses, kurz bevor ich mich per Zoom dazuschalten wollte, löste die Polizei die Veranstaltung auf. Also nahm ich meine Rede auf meinem Laptop auf und veröffentlichte sie auf meinem persönlichen Blog. Die Behörden fanden das nicht lustig.
»Deutschland setzt sich nicht etwa für den Schutz jüdischen Lebens ein, sondern für das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen.«
Am folgenden Tag, während einer vom Palästina-Kongress organisierten Demonstration, sprach ein Polizeibeamter einen der Organisatoren und zwei begleitende Anwälte an. Er teilte ihnen im Grunde mit, dass sie besser nicht die Lautsprecher benutzen sollten, um meine Stimme zu übertragen, da die Berliner Polizei ein Betätigungsverbot gegen mich erlassen habe, ein Verbot jeglicher politischer Aktivität, das zuvor nur wenige Male gegen ISIS-Anhänger angewandt worden ist. Einer der Anwälte verlangte eine schriftliche Anordnung, aber die Polizei sagte, sie müsse diese nicht vorlegen.
Unsere Anwälte setzten sich mit der Polizei und dem Innenministerium in Verbindung und verlangten eine Erklärung. Das muss ihnen sehr peinlich gewesen sein – schließlich hatten sie ein Verbot gegen einen Bürger eines EU-Mitgliedstaates ausgesprochen – und nach zwei Tagen peinlicher Stille änderten sie ihre Erzählung von einem Betätigungsverbot zu einem Einreiseverbot. Bis heute wurde keines der beiden Verbote in schriftlicher Form vorgelegt, und die deutschen Behörden haben meine Bitten um eine schriftliche Erklärung abgelehnt.
Hast Du vor, weitere rechtliche Schritte einzuleiten?
Ja, natürlich. Meine Anwälte haben erstens eine schriftliche Bestätigung des Verbots und eine Erklärung gefordert, in der die Gründe für das Verbot erläutert werden. Wenn das Handelsblatt, eine Zeitung mit engen Verbindungen zum Bundesnachrichtendienst, berichtet, dass ihren Quellen zufolge ein solches Verbot existiert, dann muss man das sehr ernst nehmen.
Aber seien wir ehrlich, in Wirklichkeit geht es bei der ganzen Sache darum, ein Klima der Angst zu erzeugen. Das ist der politische Kern: die deutsche Staatsräson. Deutschland setzt sich nicht etwa für den Schutz jüdischen Lebens ein, sondern für das Recht Israels, Kriegsverbrechen zu begehen. Es gibt Menschen in Deutschland, die mir sagen, dass sie sich nicht für die Jüdische Stimme für gerechten Frieden oder gegen mein Verbot engagieren werden, weil sie Angst haben, ihren Job oder irgendeine Förderung zu verlieren und dämonisiert zu werden.
Innenministerin Nancy Faeser begrüßte das Vorgehen der Polizei und verurteilte den Kongress wegen »islamistischer Propaganda«. Kannst Du ein paar Worte dazu sagen, warum der Kongress organisiert wurde und welche Ziele er zu erreichen versuchte?
Das Ziel ist ganz einfach: ein sofortiger Waffenstillstand und ein Friedensprozess, der gleiche politische Rechte für alle Menschen zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer gewährleistet. Diese sehr einfache und humanistische Agenda kann niemals als islamistisch oder antisemitisch bezeichnet werden.
Doch hier gibt es ein Muster: Im November unternahm eine Genossin und Freundin von mir, Iris Hefets, eine israelisch-jüdische Psychoanalytikerin, die in Berlin lebt, einen Ein-Frau-Protest. Sie ging über einen Platz in Berlin und trug ein Plakat mit der Aufschrift »Als Jüdin und Israelin: stoppt den Genozid in Gaza«, und ein weißer deutscher Polizist verhaftete sie wegen Antisemitismus. Es wäre zum Lachen gewesen, wenn es nicht so tragisch wäre.
Ich gebe ein weiteres Beispiel: Tamir Pardo, der 2011 von Benjamin Netanjahu zum Leiter des Mossad ernannt wurde – nicht gerade eine pro-palästinensische Organisation. Vor sechs Monaten gab er dem Guardian ein Interview, in dem er sagte, Israel übe im ganzen Land Apartheid aus. Wäre er zu unserem Kongress gekommen und hätte dasselbe berichtet, was er gegenüber dem Guardian gesagt hat, hätte die Innenministerin auch ihn wahrscheinlich als Islamisten abgetan.
»Rosa Luxemburg muss mit 5.000 Umdrehungen die Minute in ihrem Grab rotieren.«
Ich bin weder Jude noch Palästinenser. Ich habe keine Meinung darüber, auf welche Lösung wir zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer hinarbeiten sollten. Was ich weiß, ist, dass ich als Weltbürger gleiche politische Rechte und universelle Menschenrechte fordere. Wenn die Deutschen dies als Antisemitismus darstellen und als etwas, das der deutschen Staatsräson widerspricht, dann sage ich dazu nur, dass sie einmal ganz lange in den Spiegel schauen sollten. Ich bin der einzige griechische Politiker, dem jemals die Einreise nach Deutschland untersagt wurde. Sie hatten nie ein Problem mit griechischen Neonazis, die zu Besuch kamen.
In Deiner abgesagten Rede erwähntest Du eine Resolution des Bündnisses gegen antisemitischen Terror, die zu Protesten gegen den Palästina-Kongress aufrief. Du äußertest Dich besonders enttäuscht darüber, dass zwei ehemalige Genossinnen und Genossen von Dir aus der Partei Die Linke unterschrieben hatten. War dies Deine erste Erfahrung mit einer solchen Entfremdung zwischen der deutschen und der europäischen Linken?
Das erste Mal geschah es im November, als ich hörte, dass die Linkspartei-nahe Rosa-Luxemburg-Stiftung, die ich immer sehr geschätzt habe, dem Druck des Veranstaltungsorts nachgegeben hatte, Jeremy Corbyn wegen seiner Ansichten zum Krieg in Gaza von einer Konferenz auszuladen. In diesem Moment dachte ich, sie hätten den Verstand verloren. Rosa Luxemburg muss mit 5.000 Umdrehungen die Minute in ihrem Grab rotieren.
Sie beschuldigen mich, den Terrorismus zu verharmlosen. Warum? Weil ich einen Unterschied gezogen habe zwischen Gewalt gegen Zivilisten, die wir zu Recht verurteilen, unabhängig davon, wer sie verübt, und bewaffnetem Widerstand gegen eine Besatzungsarmee. Das zeigt wirklich, wie tief das Debattenniveau gesunken ist, zumal in einer Zeit, in der das gesamte politische Spektrum und die Medien in Europa jeden Tag den bewaffneten ukrainischen Widerstand gegen die russische Besatzung feiern.
Sowohl Dein paneuropäisches Bündnis DiEM25 als auch die politische Partei MERA25, die in einer Reihe von Ländern an den Europawahlen teilnimmt, haben sich in den letzten Monaten stark gegen den Krieg in Gaza engagiert. Warum ist Palästina für Euch im Vorfeld der Europawahlen eine solche Priorität geworden? Ist es den europäischen Wählerinnen und Wählern wichtig?
Lebten wir in den 1930er Jahren, hätten wir als Europäer die Verfolgung der Juden zu unserer obersten Priorität gemacht. Wäre dies die Zeit der Völkermorde in Ruanda oder Bosnien, hätten wir diese zur obersten Priorität gemacht. Das ist unsere Pflicht.
Interessiert das die europäischen Wählerinnen und Wähler? Das ist mir egal. Wir arbeiten nicht auf der zynischen Grundlage von Fokusgruppen, um herauszufinden, welche Art von Erzählung unsere Wählerstimmen maximieren wird. Wir tun, was wir für richtig halten, weil es richtig ist. Diese Art von Politik fehlt in Europa, und das ist die Art von Politik, auf die unsere MERA25-Parteien in ganz Europa drängen.
»Mit welcher moralischen Autorität kann das liberale Establishment jemanden wie Orbán noch ermahnen? Er lacht sich doch ins Fäustchen.«
Unsere Aufgabe ist es, die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dass in unserem Namen und mit unserer Mitschuld ein Völkermord stattfindet. Dies ist nicht nur moralisch verwerflich, sondern es bereitet zudem den Boden dafür, auch uns zu inhaftieren. Denn ein Klima der Angst, wie es die deutschen Behörden jetzt zu erzeugen versuchen, ist genau das, was das korrupte und lebensunfähige sozio-ökonomische europäische Geschäftsmodell benötigt, um sich aufrechtzuerhalten. Ehe man sich versieht, gibt es keine Demokratie mehr.
Wenn in feiner Gesellschaft über die Einschränkung der Pressefreiheit in der EU gesprochen wird, dann geht es meist um Ungarn unter Viktor Orbán oder um Dein eigenes Land unter Kyriakos Mitsotakis. Doch seit Oktober erleben wir in Deutschland neue Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, zumindest wenn es um dieses Thema geht. Siehst Du eine Gefahr, dass Deutschland zu einer Art Vorreiter für einen neuen Autoritarismus in Europa werden könnte?
Das passiert ja bereits. Meine Situation ist einfach nur ein anschauliches Beispiel dafür. Was können diese Leute Orbán noch von Rechtsstaatlichkeit erzählen, davon, dass er die Meinungsfreiheit nicht unterdrücken darf? Mit welcher moralischen Autorität kann das liberale Establishment jemanden wie Orbán noch ermahnen? Er lacht sich doch ins Fäustchen.
Welche Auswirkungen wird dies auf die politische Zukunft Europas haben?
Andersdenkende wurden in den vergangenen Jahren überall im Westen unterdrückt und eingegrenzt. Seien wir ehrlich, das gilt nicht nur für Deutschland. Aber es ist das erste Mal, dass eine angebliche Mitte-Links-Regierung – nicht irgendein Haufen von ultrarechten Verrückten, sondern eine Regierung der Grünen, der SPD und der FDP – es auf sich genommen hat, ein Verbot gegen einen EU-Bürger zu verhängen. Und wofür? Weil er eine rein humanistische Forderung nach gleichen politischen Menschenrechten in dem alten Land Palästina vertritt, in das wir Europäer so viel Bösartigkeit hineingetragen haben.
Eines der Dinge, die sie mir nicht verzeihen werden, ist, dass ich am 8. Oktober, dem Tag unmittelbar nach dem Hamas-Angriff auf Israel, interviewt wurde und tatsächlich auf Sendung davon erfuhr – ich hatte an diesem Morgen die Zeitungen nicht gelesen. Ich wurde um einen Kommentar gebeten und sagte: »Ich werde die Hamas nicht verurteilen, ich werde die Israelis nicht verurteilen, ich werde nicht einmal die israelischen Siedler verurteilen – weil wir Europäer dieses Spiel gespielt haben, jeden zu verurteilen und so zu tun, als stünden wir über dem Gesindel in Palästina und Israel.«
»Als kleiner Junge sah ich in Deutschland einen Leuchtturm der Hoffnung. Willy Brandt verkörperte die Demokratie, er solidarisierte sich mit griechischen Sozialdemokraten, die in den Gefängnissen saßen, darunter auch Mitglieder meiner Familie.«
Ich sagte: »Wenn Sie wollen, dass ich jemanden verurteile, dann verurteilen wir uns doch selbst. Jahrhunderte des europäischen Antisemitismus, ein Pogrom nach dem anderen gegen die Juden, gipfelnd in der einzigartigen Abscheulichkeit des Holocausts. Und was tun wir dann? Wir machen uns mitschuldig an der ethnischen Säuberung gegen die Palästinenser.«
Ich werde mich nicht den europäischen Politikern anschließen, die sich selbst als überlegen darstellen, auf die Menschen in Israel und Palästina herabsehen und sie verurteilen. Wir sollten uns selbst verurteilen, bevor wir jemand anderen verurteilen.
Du bist nun schon seit über zehn Jahren in der deutschen Öffentlichkeit präsent, bist oft im Fernsehen und hast viele Bücher verkauft. Bei der letzten Europawahl bist Du sogar in Deutschland angetreten. Wird Deine Beziehung zu dem Land trotz des Verbots fortbestehen?
Nun, ich kann Dir sagen, dass ich meinen deutschen Verlag verloren habe, der in den letzten zwölf Jahren sechs meiner Bücher veröffentlicht hat. Er besaß die Dreistigkeit, mich vor der Teilnahme an diesem Kongress zu warnen, woraufhin ich meine Beziehungen zu ihm gekappt habe. Aber das ist mir egal. Ich werde die Beziehungen zu meinen Genossinnen und Genossen in Deutschland weiter pflegen, und MERA25 wird bei den Europawahlen in Deutschland im Juni antreten.
Deutschland wird immer in meinem Herzen bleiben, weil ich mich an meine Kindheit erinnere, als ich in einer faschistischen Diktatur aufwuchs. Ich weiß noch, als ich sieben, acht Jahre alt war und wir unter der Tyrannei der Obristen lebten, kauerten meine Eltern mit einem Radio unter einer Decke und hörten Deutsche Welle. Als kleiner Junge sah ich in Deutschland einen Leuchtturm der Hoffnung. Willy Brandt, der damalige Bundeskanzler, verkörperte die Demokratie, er unterstützte und solidarisierte sich mit griechischen Sozialdemokraten, die in den Gefängnissen saßen, darunter auch Mitglieder meiner Familie.
Ich gebe dieses Bild von Deutschland nicht auf, und ich werde nicht zulassen, dass Leute wie Olaf Scholz oder Annalena Baerbock, die dem Ansehen Deutschlands und der deutschen Demokratie enormen Schaden zufügen, mich davon abhalten. Ich werde meinen Genossinnen und Genossen in Deutschland sehr nahe bleiben, und wir werden daran arbeiten, den Geist der Sozialdemokratie in Deutschland wiederzubeleben.