03. Dezember 2024
In kaum einem anderen Land wird Arbeitseinkommen so hoch und Vermögen so niedrig besteuert wie in Deutschland. Wie ungerecht das Steuersystem tatsächlich ist und wie man es reformieren könnte, erklärt Julia Jirmann im Gespräch mit JACOBIN.
Wer viel hat, wird im deutschen Steuersystem klar bevorzugt (Symbolbild).
Nach Jahrzehnten der Sparpolitik und angesichts multipler Krisen rückt die Frage der Staatsfinanzen in den Vordergrund. Es gibt vereinzelte Reformbestrebungen: Die Staaten der G20 wollen bei der Besteuerung von Superreichen zusammenarbeiten und auch die SPD schreibt sich die Reichensteuer erneut ins Wahlprogramm. Wie genau das Steuersystem funktioniert, ist jedoch eine recht komplexe Angelegenheit. Julia Jirmann vom Netzwerk Steuergerechtigkeit bringt mit ihrem neuen Buch Blackbox Steuerpolitik Licht ins Dunkel. Caroline Rübe hat für JACOBIN mit Julia Jirmann über die Mythen des deutschen Steuersystems gesprochen und darüber, wie man es reformieren könnte.
Warum handelt es sich Deiner Meinung nach bei Steuerpolitik um eine Blackbox?
Die meisten Menschen wissen, dass sie an der Kasse Mehrwertsteuer zahlen und auf ihr Gehalt Einkommensteuer und Sozialbeiträge. Doch nur wenige haben einen Überblick darüber, wie viel sie von ihrem Einkommen insgesamt abführen und wie sie damit im Vergleich zu anderen dastehen. Das gilt auch für die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Wir wissen aus Studien, dass die meisten Menschen die Ungleichheit unterschätzen, sowohl bei den Einkommen als auch bei dem Vermögen – sie rechnen sich selbst viel mehr der Mitte zu, als sie es tatsächlich sind. Zugleich wünscht sich die Mehrheit der Deutschen weniger Ungleichheit und befürwortet eine Vermögensteuer, lässt sich aber dabei von Drohungen wie Arbeitsplatzverlust und Kapitalflucht durch die Steuer verunsichern.
Hinzu kommt, dass sich der überwiegende Teil der Bevölkerung nicht sonderlich für Steuerpolitik interessiert. Statt Wissen herrschen Mythen vor. Das Steuersystem und der Staatshaushalt sind für viele eine undurchsichtige »Blackbox«. Das ist ein guter Nährboden für die Lobbyarbeit von Großkonzernen und Vermögenden, die ihre Interessen auch gegen die der Allgemeinheit durchsetzen. Das mangelnde Wissen innerhalb der Bevölkerung führt dann wiederum dazu, dass Steuergesetze öffentlich wenig Potenzial zur Skandalisierung haben und Parteien, die sich von Lobbyisten einspannen lassen, auf wenig Gegenwehr seitens der Wählerinnen und Wähler stoßen.
In der Theorie sollen Steuern umverteilen, sodass Reiche verhältnismäßig am meisten zahlen und Ärmere weniger. Wie sieht das in der Wirklichkeit aus?
Wenn um Steuergerechtigkeit diskutiert wird, steht das Einkommensteuersystem, in der Regel im Zentrum der Debatte, und das ist ja auch aus gutem Grund so. Für die meisten Menschen in Deutschland entscheidet das Einkommen, was sie sich leisten können, und es ist auch entscheidend, was sie darauf für Steuern zahlen. Nach der Mehrwertsteuer ist das die Steuer mit den höchsten Einnahmen. Die Einkommenssteuer funktioniert nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Für die allermeisten Menschen, die für ihr Einkommen arbeiten, ist sie progressiv. Das heißt, je höher das Einkommen, desto höher der Steuersatz.
»Es gibt ausländische Digitalkonzerne, die zwar in Deutschland Gewinne erwirtschaften, aber darauf weniger als 5 Prozent Steuern zahlen.«
Aber an der Spitze, also bei den aller allerhöchsten Einkommen, bei den Superreichen, setzt sich das Einkommen zum großen Teil aus Vermögens- statt aus Arbeitseinkommen zusammen, und da funktioniert das Steuersystem nicht mehr so progressiv. Konkret heißt das, dass das Einkommen der arbeitenden Mitte mit bis zu 50 Prozent besteuert wird. Milliardäre und Superreiche hingegen zahlen häufig nur zwischen 25 und 30 Prozent, und das inklusive ihrer Unternehmenssteuern. Somit zahlen sie kaum mehr als die Hälfte des Reichensteuersatzes.
War das schon immer so?
Wir haben das Steuersystem in den letzten dreißig Jahren so umgebaut, dass angehäuftes Vermögen niedriger besteuert wird als Vermögen, das durch Arbeit aufgebaut wird. In den 1990er Jahren mussten die Superreichen noch doppelt so hohe Steuern auf ihre Gewinne zahlen. Verschiedene Steuerreformen haben dazu beigetragen, dass das heute nicht mehr so ist. So haben etwa die Abschaffung der Vermögensteuer oder die Unternehmenssteuerreform dazu geführt, dass angesparte Gewinne, die nicht ausgeschüttet werden, sehr niedrig besteuert werden.
Dann gibt es noch ein paar andere Extremfälle. Es gibt für Immobilien-Milliardäre weitere zusätzliche Steuerprivilegien, die dazu führen, dass sie von ihren Miet- und Verkaufsgewinnen weniger als 20 Prozent abgeben müssen – und das, ohne neue Wohnungen zu bauen. Dann gibt es ausländische Digitalkonzerne, die zwar hier in Deutschland Gewinne erwirtschaften, aber darauf weniger als 5 Prozent Steuern zahlen. Unser Einkommensteuersystem ist also weniger progressiv, als die meisten denken. Hinzukommt, dass die Beiträge für die Sozialversicherung gedeckelt sind und deshalb bei Besserverdienenden kaum ins Gewicht fallen und bei Superreichen überhaupt nicht mehr. Berücksichtigt man zusätzlich noch Steuern wie die Mehrwertsteuer und andere Verbrauchsteuern, fällt die umverteilende Wirkung des Steuersystems noch schwächer aus. Diese Steuern sind regressiv und belasten Menschen mit niedrigeren Einkommen stärker, da sie einen größeren Anteil ihres Einkommens für Konsum aufwenden müssen. Anders als die Steuern auf Vermögen wurde die Mehrwertsteuer seit 1998 von 15 auf 19 Prozent erhöht.
Wie kam es dazu? Wie konnten Steuern auf Vermögen so gesenkt werden?
Diese Entwicklung ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern fand in vielen Ländern statt. Eine zentrale Erzählung lautete: »Wenn wir den Vermögenden und Unternehmen mehr Geld lassen, etwa durch niedrige Steuern, profitieren alle davon.« Deutschland hat zentrale Steuerreformen sogar erst später als andere Länder umgesetzt, nämlich Ende der 1990er Jahre nach der Wiedervereinigung. Mittlerweile fallen in Deutschland auf durchschnittliche Arbeitseinkommen besonders hohe Steuern und Abgaben an, während Vermögen im internationalen Vergleich sehr niedrig besteuert werden. Jetzt, dreißig Jahre später, ist Zeit für eine Bilanz: Was haben diese Maßnahmen gebracht? Wurden die erhofften Investitionen getätigt? Sind die Gewinne in breiten Teilen der Bevölkerung angekommen oder nur dort, wo steuerliche Entlastungen stattfanden?
In Deinem Buch schreibst Du nicht nur über die Ungleichheit zwischen Arm und Reich, sondern auch zwischen den Geschlechtern. Und Du führst aus, wieso in heterosexuellen Beziehungen oft Frauen von diesem Steuersystem benachteiligt werden. Warum ist das so?
Wer in Deutschland heiratet, kann dadurch Steuern sparen – zumindest, wenn der Partner oder die Partnerin weniger verdient. Das liegt am sogenannten Ehegattensplitting, das besagt, dass Verheiratete ihr Einkommen gemeinsam versteuern dürfen. Aufgrund des progressiven Steuertarifs wird das Einkommen des besserverdienenden Partners in der Ehe niedriger besteuert, als es ohne diese Regelung der Fall wäre. Diese Steuerersparnis mag für die Paare selbst vorteilhaft sein, aber aus gesellschaftlicher Perspektive setzt das Splitting problematische Anreize. Wenn die Person, die weniger verdient – in der Regel die Frau – ihr Einkommen steigert, sinkt der Steuervorteil des Splittings. Ihr Einkommen wird höher besteuert, als es ohne Heirat der Fall wäre. Das hindert Frauen daran, mehr bezahlte Arbeit aufzunehmen oder weniger Care-Arbeit zu leisten.
»In Zeiten von Arbeitskräftemangel wird der steuerliche Anreiz, Frauen aus dem Arbeitsmarkt fernzuhalten, auch von Organisationen wie der OECD und dem IWF kritisiert.«
Dabei arbeiten in Deutschland besonders viele Frauen in Teilzeit, was Folgen hat: Sie zahlen weniger in die Sozialversicherung ein, sparen weniger und sind im Alter häufiger von Armut betroffen. Kaum ein anderes Land fördert in diesem Ausmaß die Hausfrauenehe. In Zeiten von Arbeitskräftemangel wird der steuerliche Anreiz, Frauen aus dem Arbeitsmarkt fernzuhalten, auch von Organisationen wie der OECD und dem IWF kritisiert.
Was muss passieren?
Das Ehegattensplitting sollte abgeschafft werden. Durch das Zusammenleben ergeben sich bereits finanzielle Vorteile, eine zusätzliche steuerliche Entlastung der Ehe ist nicht notwendig. Ein echter Kostenfaktor sind Kinder. Das Splitting gilt jedoch unabhängig davon, ob Kinder in der Ehe sind. Mehr als 12 Milliarden Euro könnte die Abschaffung des Splittings bringen – Geld, das wir für den Ausbau der Kinderbetreuung gut gebrauchen können. Um Menschen, die lang verheiratet sind und auf das Splitting vertraut haben, nicht abrupt höher zu belasten, könnte der Splittingvorteil schrittweise abgebaut werden.
Wenn über geschlechtergerechte Steuerpolitik gesprochen wird, steht oft das Ehegattensplitting im Fokus. Doch geschlechtergerechte Steuerpolitik muss darüber hinaus gehen. Frauen bekommen im Durchschnitt weniger Einkommen und haben deutlich weniger Vermögen als Männer. Ein Steuersystem, das Vermögenseinkommen bevorzugt, ist daher nicht geschlechtsneutral. Weil Zweitverdienende in der Ehe in aller Regel Frauen sind, führt das dazu, dass wir Frauen im niedrigen Einkommensbereich halten.
Wir haben in unserem bisherigen Gespräch Klassenfragen und Geschlechterfragen verhandelt, alles relativ progressive Themen. Gleichzeitig sind Steuern auch in linken Kreisen eine Blackbox. Was ist Deiner Erfahrung nach der größte Steuermythos, der Dir dort begegnet?
Viele Menschen glauben, dass wir Superreiche nicht besteuern können, weil sie dann das Land verlassen. Tatsächlich sind wir aber nicht erpressbar, wir haben seit 1972 eine gut funktionierende Wegzugsteuer. Vermögen, das in Deutschland erwirtschaftet wurde und dabei von der Infrastruktur, den gut ausgebildeten Mitarbeitenden und der Rechtssicherheit profitiert haben, kann nicht einfach steuerfrei mitgenommen werden.
»Superreiche müssen auf ihre Multimillionen- und Milliardeneinkommen mindestens den Reichensteuersatz zahlen und nicht weniger zum Gemeinwesen beitragen als die Mittelschicht.«
Wenn also ein Milliardär, der ein deutsches Unternehmen besitzt, das Land verlässt, und dem Land dadurch Steuereinnahmen entgehen würden, wird das Vermögen beim Wegzug so behandelt, als hätte er es verkauft. Entsprechend wird es dann auch besteuert. Das können viele Milliarden Euro sein. Steuerflucht ist also eher ein Mythos.
Wenn es um linke wirtschaftspolitische Forderungen geht, wird das Thema Steuern eher vernachlässigt. Stattdessen werden Forderungen nach Vergesellschaftung laut. Deutsche Wohnen Enteignen stand da am Anfang, es gibt aber alle möglichen Initiativen, die sich davon inspirieren ließen. Was hältst Du von dem Take: »Wir wollen nicht die Steuern erhöhen, wir wollen die ganze Bäckerei!«
Steuerreformen können die Wirtschaftsstruktur nur korrigieren, nicht transformieren. Mit Steuern kann man dafür sorgen, dass Milliardenvermögen langsamer wachsen und nicht über viele Generationen weitergegeben werden können. Aber würde man beispielsweise Milliardäre abschaffen wollen, wären Steuern nicht das richtige Mittel. Aber die Deutschen waren bisher nicht besonders gut in Revolutionen. Deswegen ist es vielleicht der bessere Weg, mit kleinen Schritten anzufangen, andere Eigentumsformen wie Verantwortungseigentum oder Genossenschaften zu stärken und steuerliche Anreize in diese Richtung zu setzen. Auf jeden Fall muss Steuerpolitik kein Verliererthema sein. Die SPD hat einen Steuer-Wahlkampf gemacht, und letztlich die Wahl gewonnen.
Apropos, bald ist ja wieder Bundestagswahl. Welche progressiven Steuerforderungen sollten jetzt gesetzt werden? Und von wem? Wie Du gerade schon meintest, schreibt sich die SPD das gerne ins Wahlprogramm, letzten Endes setzt sie es dann aber nicht um.
Wichtig wäre vor allem dafür zu sorgen, dass Superreiche wieder einen angemessenen Beitrag zur Gemeinschaftskasse leisten und von ihren Vermögenseinkommen nicht weniger abgeben müssen als die arbeitende Mitte.
Mein Rat wäre mit der Reform der Erbschaftsteuer zu beginnen. Aktuell ist die Steuer weder effizient noch gerecht. Durch umfangreiche Ausnahmen für große Vermögen erzielt die Steuer wenig Einnahmen und besteuert ausgerechnet superreiche Unternehmenserben besonders niedrig und teilweise gar nicht. Diese Privilegien müssen beseitigt werden, damit die umverteilende Wirkung der Erbschaft nicht völlig verschenkt wird. Statt Steuerbefreiungen sollten die Großerben Finanzierungshilfen erhalten – etwa dass die Steuer über viele Jahre aus den Gewinnen abgezahlt werden kann. Ein weiterer zentraler Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit ist eine Vermögenssteuer für sehr große Vermögen jenseits von 50 oder 100 Millionen Euro. Deutschland sollte sich dahingehend auch aktiv an den internationalen Bestrebungen für eine global koordinierte Vermögenssteuer im Rahmen der G20 beteiligen.
Wie können wir dafür sorgen, dass diese Vorhaben tatsächlich umgesetzt werden?
Es müssen politische Mehrheiten dafür gewonnen werden, dass Superreiche auf ihre Multimillionen- und Milliardeneinkommen mindestens den Reichensteuersatz zahlen und nicht weniger zum Gemeinwesen beitragen als die Mittelschicht. Dafür müssen wir über Steuerpolitik und die Verteilung des Wohlstands sprechen, anstatt dieses Thema den Lobbyorganisationen von Vermögenden und Konzernen zu überlassen. Mein Beitrag besteht darin, die Gerechtigkeitslücken im Steuersystem sichtbar zu machen und Ansätze für eine fairere Gestaltung zu entwickeln.
Julia Jirmann ist Referentin für Steuerrecht beim Netzwerk Steuergerechtigkeit.