02. Mai 2020
In der Rekonstruktion feudaler Prunkbauten hat eine rechte Globalisierungskritik ihre Architektur gefunden.
Die Baustelle des Berliner Stadtschlosses im März 2020
Die knapp zwanzigtausend Tonnen schwedischen Stahls, die 2006 / 0 7 beim »selektiven Rückbau« des Palastes der Republik freigelegt wurden, fanden dank ungehemmter internationaler Kapitalmärkte schnell neue Abnehmer: »Die letzten Reste des Sozialismus werden nun für technische Innovationen in Wolfsburg verarbeitet beziehungsweise im Wüstensand des kapitalistischen Dubai verbaut.« Der süffisante Kommentar einer FDP-Politikerin spielte darauf an, dass der Stahl des ehemaligen DDR-Regierungssitzes einerseits bei VW zu Bauteilen des Golf IV eingeschmolzen und andererseits in den Bau des Burj Khalifa – des höchsten Gebäudes der Welt – integriert wurde.
Das damalige »Bündnis der Mitte« aus CDU, SPD und FDP ließ verlauten, dass der »selektive Rückbau« von DDR-Ikonen notwendig sei, um neue Räume zu erschließen, in denen sich das endlich geeinte Deutschland eine neue politische Identität geben könnte.
Für das Grundstück des abgerissenen Palastes der Republik bedeutete das die Rekonstruktion des alten Stadtschlosses mit seiner protestantisch-barocken Fassade. Diese hatte Andreas Schlüter seinerzeit entworfen, um dem Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation einen triumphalen Start ins 18. Jahrhundert zu bescheren. Wie Recherchen der Architekturtheoretikerin Anna Yeboah für die Zeitschrift ARCH+ jüngst zutage förderten, wurde der ursprüngliche Bau der Fassade auch aus den enormen Gewinnmargen der BrandenburgischAfrikanischen Compagnie bestritten – einem Unternehmen, das mit Kolonialwaren und versklavten Menschen handelte. Außerdem wurde dem Schloss auch die nachträglich von Karl Friedrich Schinkel hinzugefügte Kuppel wieder aufgesetzt, die das Berlin von 1853 als Aussichtsplattform der Welt installieren sollte.
»Deutschland ist zu einem Vorreiter staatlich subventionierter Rekonstruktion geworden.«
Die Absurdität dieses Identitäts-Recyclings, in dem das neue deutsche Nationalnarrativ ausgerechnet aus der Wiederverwertung preußischer Geschichte bestritten werden soll, ist häufig angemerkt worden. Doch was dabei übersehen wird, ist die Funktion dieses Recyclings in der Gegenwart: Rekonstruktives Bauen ist das Medium einer rechten Globalisierungskritik.
Deutschland ist zu einem Vorreiter staatlich subventionierter Rekonstruktion geworden: Von der Frankfurter Altstadt und dem Berliner Stadtschloss, über die benachbarte Schinkelsche Bauakademie und die Garnisonskirche in Potsdam bis hin zum Dresdner Neumarkt und dem Braunschweiger Schloss wird mit dem Neoklassizismus eine positiv identitätsstiftende Version deutscher Geschichte wieder aufgebaut. Dieser auch politisch restaurative Trend beschränkt sich jedoch nicht auf Deutschland. Zuletzt forderte Donald Trump, die Fassaden US-amerikanischer Regierungsgebäude neoklassizistisch zu sanieren. Doch wofür genau steht die rekonstruktive Architektur? Welche Perspektiven bietet sie an? Und wie kann es sein, dass sie auf eine so breite politische Zustimmung bauen kann?
Zunächst müssen wir verstehen, dass Architektur nicht zuerst autonom ist, um dann im Nachhinein politisch vereinnahmt zu werden. Schon das Bauen selbst ist ein politischer Prozess. Dies wird deutlich, wenn man den jüngsten Trend zur Rekonstruktion mit einer vorhergehenden architektonischen Welle vergleicht: der postmodernen Architektur der 1980er Jahre. Unter anderem Jürgen Habermas, Jean-François Lyotard und Fredric Jameson stellten damals heraus, wie postmodernes Bauen die neuen Allianzen des Spätkapitalismus widerspiegelte und zum Teil sogar erst organisierte.
Einen der Höhepunkte dieser Architektur stellt das von Philip Johnson und John Burgee entworfene und 1984 fertiggestellte PPG Industries Plaza and Tower in Pittsburgh dar. Das Gebäude ist dem ikonischen Victoria Tower am Westminster Palace in London nachempfunden, der seinerzeit als ein feuerfester Behälter für das Parlamentsarchiv errichtet wurde. Doch während das neugotische Original aus Stein gearbeitet ist, glänzt die postmoderne Neuauflage mit einer Fassade aus verspiegeltem Glas. Anstatt aber im Sinne von Offenheit und Transparenz die soziale Umwelt der umliegenden Stadt sichtbar zu machen, hat die Verglasung in diesem Fall den Effekt, dass sich das Gebäude endlos in sich selbst spiegelt.
»Zunächst müssen wir verstehen, dass Architektur nicht zuerst autonom ist, um dann im Nachhinein politisch vereinnahmt zu werden. Schon das Bauen selbst ist ein politischer Prozess.«
Der hierbei angewandte architektonische Trick war wiederum von Karl Friedrich Schinkel inspiriert. In Pittsburgh wie auch bei Schinkels Altem Museum in Berlin führte der massive Einsatz von Ecken in der Fassade dazu, dass sich das Gebäude von seiner Umwelt ab- und sich selbst zuwendet. So wird Ort- und Orientierungslosigkeit hergestellt; »ein Zeit-Raum, der weder Innen noch Außen, weder hier noch dort, weder dies noch das, weder jetzt noch dann ist«, wie der Architekturhistoriker Reinhold Martin schreibt.
Diese Auflösung von Innen und Außen, Selbst und Anderem, Hier und Dort verbildlicht jene globalen Flüsse von Waren und Kapital, die aus dem Inneren des PPG Plaza organisiert werden sollten und sich seit den 1970er Jahren zunehmend nationaler Kontrolle entzogen. Die Halluzination des bis in die Unendlichkeit verspiegelten Innens machte jeden Gedanken an ein Außen obsolet, auch im Sinne des politischen Widerstands gegen den Status quo. So wurde an einer »Ökonomie mit Spiegeln« konspiriert, wie der marxistische Geograph David Harvey die Koalition aus Architektur und Finanzkapital auf den Punkt bringt. Nicht das Innen der Globalisierungsmaschinerie wird in postmoderner Architektur verschwiegen, sondern die Möglichkeit eines Außen, also einer politischen Alternative.
Im rekonstruktiven Bauen und seiner neuen »Phänomenologie des Kapitals« (wiederum Reinhold Martin) lässt sich nun auch ein neues ideologisches Kräfteverhältnis feststellen. Anstatt wie beim PPG Plaza das Außen des Stadtraums zu tilgen, um im Anblick der sich selbst zugewandten Spiegelfassade die Unendlichkeit einer globalisierten Finanzwirtschaft zu halluzinieren, wird durch die Rekonstruktion der protestantischen Barockfassade der von Schinkel konzipierte Berliner Stadtraum des 19. Jahrhunderts nachgebildet: »Das Schloss wird das vertraute Bild Berlins wiederherstellen, die historische Mitte vervollständigen, das Stadtbild heilen« und damit »Spree-Athen« wieder auferstehen lassen – liest man auf der Website des Fördervereins Berliner Schloss.
»Die Halluzination des bis in die Unendlichkeit verspiegelten Innens machte jeden Gedanken an ein Außen obsolet, auch im Sinne des politischen Widerstands gegen den Status quo.«
Diese Rekonstruktion einer homogenen Identität der deutschen »Hellenen des Nordens« steht im krassen Widerspruch zum Innenraum des Humboldt Forums. Hier wird in neutral-modularer Museumsarchitektur »die ganze Welt« in Gestalt außereuropäischer Objekte aus kolonialer Vorzeit präsentiert. Dabei nimmt die Kuppel vorweg, in welcher Weise auf diese Welt zugegriffen wird: Der kosmologischen Tradition der Renaissance entsprungen, strebt die Kuppel nach der Perspektive, aus der Gott auf seine Welt hinab blickt. Damit bezieht sie jenen »einheitlichen und homogenen Blickpunkt«, den der Kulturtheoretiker Stuart Hall auch an der Sichtweise des Kolonialismus aufwies. Der Kontrast zur postmodernen Halluzination könnte kaum stärker sein. Innen die Welt als navigierbares Panorama, außen die Fassade einer homogenen Identität: Dass mit dieser radikalen Unterscheidung von Außen und Innen Nostalgie für Vergangenes an die Stelle der Bejahung des Status quo tritt, lässt erahnen, dass sich auch die politischen Allianzen verschoben haben. Vorbei die politische Rhetorik einer Globalisierung, die an keiner Grenze halt macht. Vorbei der Glaube, dass die Differenz zum Außen durch radikale Inklusion getilgt werden kann. Synchron zur Legitimationskrise globaler Institutionen beerdigt die Assemblage aus Stadtschloss und Humboldt Forum auch eine bestimmte Erzählung von der Globalisierung.
Zugleich soll die ungeliebte Realität des Multikulturalismus durch die Fiktion einer ungebrochenen nationalstaatlichen Identität »geheilt« werden. Dass zwischen 1955 und 1973 knapp vierzehn Millionen »Gastarbeiter« nach Deutschland geholt wurden, um die boomende Nachkriegswirtschaft mit günstiger Arbeitskraft zu versorgen und die Rentenversicherung der Deutschen zu »subventionieren«, wird durch die Einfühlung in längst vergangene Zeiten übergangen. Das rekonstruktive Bauen ist Ausdruck einer rechten Antwort auf die Krise der neoliberalen Globalisierung.
»Innen die Welt als navigierbares Panorama, außen die Fassade einer homogenen Identität.«
Ein plausibles Narrativ für diese Verschiebung in der Verwendung von Stahl, Glas und Beton bieten die Wirtschaftshistoriker Quinn Slobodian und Dieter Plehwe an. In ihrem jüngst erschienenen Essay Neoliberals against Europe beschreiben sie, wie sich im Laufe der 1990er Jahre »ein neuer Hybrid aus libertärer Ideologie und migrationsfeindlicher Xenophobie« herausbildete. Genährt in den Brutkästen neoliberaler Think Tanks verfestigte sich diese Koalition durch die geteilte Skepsis gegenüber der EU, die in ihren Augen sowohl Umverteilung organisierte als auch die Freiheit des Wettbewerbs bedrohte. Aus dieser Frontstellung ergab sich die scheinbar unwahrscheinliche Koalition eines neoliberalen Nationalismus, dem es gelang, sich als Globalisierungskritik zu maskieren. Wie etwa an der AfD zu sehen ist, rückt dabei Xenophobie – also die ideologische Essenzialisierung ökonomischer und ethnisierter Ungleichheit – ins Zentrum.
»Das rekonstruktive Bauen ist Ausdruck einer rechten Antwort auf die Krise der neoliberalen Globalisierung.«
Das Stadtschloss ist das wahrscheinlich prominenteste Monument dieser politischen Verschiebung. Anders als beim PPG Plaza werden Privatisierung, Entpolitisierung der Märkte und globale Kapitalflüsse nicht mehr offen bejaht. Stattdessen soll der nostalgische Rückgriff auf die Hülsen ehemaliger Nationalstaatlichkeit die soziale Unsicherheit kompensieren, die im Zuge des »selektiven Rückbaus« gesellschaftlicher Solidarität entstanden ist. Dass die dahinter liegenden Infrastrukturen dabei unberührt bleiben, ist der neuralgische Punkt, an dem linke Kritik ansetzen muss.