28. Mai 2020
Angesichts von »Fake News« und Verschwörungsdemos trauern Liberale einer rationalen Öffentlichkeit nach. Doch Vertrauen in Wissenschaft und Vernunft gedeiht nur in einer solidarischen Gesellschaft.
Teilnehmer bei einer »Hygiene-Demonstration« in Berlin, Mai 2020.
Die liberale Beschwerdeliste über die uneinsichtigen Subjekte des 21. Jahrhunderts ist lang. Statt brav Zeit und Süddeutsche zu lesen, gucken sich die Leute krude Verschwörungsvideos auf Youtube an, anstelle »vernünftiger« Optionen wählen sie »populistische« Parteien. Sie vertrauen auf homöopathische Globuli, »Alternativmedizin« und Quacksalberei statt auf den Rat ihrer Ärztinnen und verweigern Impfungen mit Verweis auf Autismus oder Bill Gates.
Sie himmeln Putin an, empören sich nicht genug über Trump, haben Angst vor »Ausländern« und dem »großen Austausch«, leugnen den Klimawandel oder zumindest seine menschengemachten Ursachen und glauben im Gegenzug, die Bundesrepublik habe die Rechtsform einer GmbH.
Viele sind von der Existenz von Ufos überzeugt, die wahlweise von Außerirdischen oder einer weiterhin unbesiegten Reichsluftwaffe mit Stützpunkten in der Antarktis gesteuert werden. Und zu allem Überfluss lesen sie auch noch die Horoskope in Promi-Magazinen.
Aus so krummem Holz – so die resignierte Feststellung liberaler Rationalistinnen – kann nichts Gerades gezimmert werden. »Die Leute« sind einfach zu dumm, um etwa in dieser Krise dem Rat von Expertinnen und Experten zu folgen und gefährden damit die Gesundheit von sich und anderen. Ohne Maske, dafür mit Aluhut auf der Corona-Demo, Seite an Seite mit Reichsbürgerinnen, Esoterikern, Antisemitinnen und anderen Rassisten, treten die Corona-Wutbürger die Errungenschaften von Wissenschaft und Aufklärung mit Füßen.
Linke dürfen diesem liberalen Überheblichkeitsdiskurses nicht auf den Leim gehen. Sicher: Die Anhängerinnen und Anhänger von Corona-Verschwörungstheorien sind teils merkwürdige Gestalten und wir sollten uns bei ihren Demonstrationen unter keinen Umständen blicken lassen. Ganz abgesehen von den Verbindungen nachts rechts außen würde ihr Ansinnen, die Hygieneauflagen auf Basis nicht-wissenschaftlicher Kriterien zurückzunehmen, tausende Menschen in Risikogruppen und medizinischen Berufen das Leben kosten. Es ist fundamental unsolidarisch.
Dennoch müssen wir uns hüten, Menschen dafür zu verurteilen, »das Falsche« zu glauben und sie für ihre Verstöße gegen den ordnungsgemäßen öffentlichen Vernunftgebrauch an den Pranger zu stellen. Wir sollten stattdessen fragen, wie der Nährboden für das weitverbreitete Unbehagen an der Aufklärung entstehen konnte: Welche Funktion nehmen die Glaubenssysteme der Gegenaufklärung in unserer Gesellschaft ein? Und welche strukturellen Eigenschaften müsste eine öffentliche Rationalität aufweisen, um das Vertrauen der breiten Bevölkerung zurückgewinnen zu können?
Eine zentrale Schwäche des politischen liberalen Rationalismus ist, dass er in Klassenfragen blind ist. Oft mündet er im kaum verhohlenen Klassenhass einer liberalen, gebildeten Mittelschicht auf »die Bildungsfernen«. Ungeachtet der realen Klassenzusammensetzung der verschwörungstheoretischen, vor allem aber der esoterischen Bewegung – die eine heterogene Klassenstruktur aufweist und sich zu großen Teilen auch aus der Mittelschicht speist – stellt der dumme, ungeduschte Aluhut in der öffentlichen Vorstellung eine Figur der unteren Klasse dar.
Seine Vorführung ist kein soziopolitisch neutraler Dienst an der Aufklärung. Alle Beteiligten verstehen, dass es auch um klassenpolitische Deutungshoheit geht. Akademisch gebildete Schichten mit sicherem Einkommen erheben einen Hoheitsanspruch auf die Wahrheit und sind schockiert, wenn das bei anderen sozialen Gruppen auf wenig Begeisterung stößt. Dass dies in einer zunehmend in Schichten und Klassen zerfallenden Gesellschaft wie der unseren kein politisch neutraler Akt ist, sollte niemanden überraschen.
Entlarvend ist auch, dass sich ein solcher Diskurs herzlich wenig für die gesellschaftliche Infrastruktur interessiert, die der arbeitenden Klasse das gepriesene kritische Denken tatsächlich erleichtern würde. Es ist typisch für die Doppelzüngigkeit des Bildungsbürgertums, sich einerseits über die Bildungsferne anderer Schichten zu beschweren, andererseits aber ein Schulsystem zu verteidigen, das diese Bildungsferne immer wieder herstellt.
Die aus Verschwörungsglauben und Esoterik bestehende Gegenöffentlichkeit bildet ein politisches Überdruckventil. Durch ihn entladen sich die Konflikte einer zunehmend auseinander driftenden Gesellschaft, in der politisches Klassenbewusstsein wenig ausgeprägt ist und Klassenkämpfe ein Tabuthema sind.
Unser Leben wird nicht von dunklen Mächten und Geheimgesellschaften bestimmt – wohl aber von Algorithmen und komplexen Finanzinstrumenten, die in der Praxis genauso undurchsichtig sind und sich der demokratischen Kontrolle ebenso effektiv entziehen. Zurecht wird darauf hingewiesen, dass es für Scharlatanerie auch konkrete materielle Anreize gibt: Skandalisierende »Fake News« generieren Klicks und Werbeeinnahmen im Netz und private »Alternativmedizin« jenseits der gesetzlichen Krankenkassen ist in vielerlei Hinsicht lukrativer als wissenschaftlich fundierte Behandlungsmethoden. Gerade die Esoterik bietet einigen Menschen eine ökonomische Perspektive, für die der reguläre Arbeitsmarkt wenig attraktive Optionen bietet.
Wer die Wahl hat, für einen miserablen Stundenlohn als Reinigungs- oder Bürokraft zu schuften oder sich stattdessen als Geistheilerin zu betätigen, wählt im Zweifel vielleicht die materiell lukrativere Option. Statt diese Menschen moralisierend als Betrügerinnen und Betrüger abzustempeln, ist es unsere Aufgabe, ehrlicher Arbeit wieder die Vergütung zu erkämpfen, die ihr zusteht. Liberale »Skeptikerinnen« haben dazu wenig zu sagen.
Es ist ohne Frage bedauernswert, wenn Menschen den Rat von Expertinnen und Experten zur Bekämpfung des Coronavirus oder des Klimawandels ausschlagen. Diese Probleme können nur auf Basis solider empirischer Wissenschaft gelöst werden. Gleichzeitig darf die Frage, welche politische Valenz das Expertentum in unserer Gesellschaft einnimmt, nicht ignoriert werden. Auch Sozialabbau und Neoliberalismus wurden der Öffentlichkeit als Empfehlung »neutraler« ökonomischer »Experten« verkauft.
Bedauerlicherweise gibt es keine eindeutige Unterscheidung zwischen wahrhaft neutraler Wissenschaft und politisch motiviertem Lobbyismus. Zwischen Wissenschaft und Politik erstreckt sich ein für die Öffentlichkeit nur schwer durchschaubares Geflecht aus Stiftungen, Think Tanks und Beratungsfirmen, die sich alle eines mehr oder weniger wissenschaftlichen Diskurses bedienen.
Nicht nur in der Politik, auch im Alltagsleben wird der im Verschwörungsdenken gern gestellten Frage des Cui bono (also »Wer hat den Nutzen?«) durch den neoliberalen Kapitalismus immer neues Material geliefert. Ob es uns gefällt oder nicht: Wir leben in einer Welt, in der uns permanent irgendjemand irgendetwas verkaufen will. Tatsächlich werden wir durch Werbung und Medien andauernd »manipuliert« – nur eben nicht auf Basis eines koordinierten Masterplans, wie es Verschwörungstheorien behaupten, sondern aus ganz banalen kommerziellen Motiven.
All dies untergräbt gesellschaftliches Vertrauen – auch in den Reihen der Expertinnen und Experten selbst. Sind es nicht die gleichen medizinisch ausgebildeten Hausärztinnen und Hausärzte, die den Leuten wirkungslose »alternativmedizinische« Quacksalberei in Form privater »Zusatzleistungen« anbieten? Wollen wir ernsthaft von Menschen ohne medizinischer Vorbildung verlangen, sich in dem Dickicht aus legitimen und illegitimen Therapien zurechtzufinden, das ein Gesundheitssystem mit eingebauten Marktmechanismen und Profitmotiven mit sich bringt?
Angesichts dieser Tatsachen ist es ein natürlicher und begrüßenswerter Impuls, dass Menschen den absoluten Neutralitätsanspruch »der Experten« hinterfragen. Wessen Expertinnen und Experten gerade zu uns sprechen, ist in diesem gesellschaftlichen Umfeld eine legitime Überlegung. Hoffnung auf eine Kultur der öffentlichen Vernunft kann sich nur eine Gesellschaft machen, die mit Überzeugung und auf eine alle einbeziehende Art und Weise von unseren Expertinnen und Experten sprechen kann.
Die Linke sollte sich stets klar und unmissverständlich zur wissenschaftlichen Rationalität bekennen. Um Probleme wie den Klimawandel, antibiotikaresistente Keime und globale Pandemien wirkungsvoll bekämpfen zu können, benötigen wir den Rat einer unabhängigen Naturwissenschaft mehr denn je. Es mag altbacken klingen, aber nur eine Kultur der Solidarität, in der die Wissenschaften klar und glaubhaft dem Gemeinwohl dienen, kann das Vertrauen der Allgemeinheit in die Meinung von Expertinnen und Experten wiederherstellen.
Nur ein Gemeinwesen, das sich an solidarischen Werten orientiert und eine öffentlich geförderte, unabhängige und methodologisch diverse Wissenschaftslandschaft unterhält, kann die Vertrauensbasis für eine Kultur der öffentlichen Rationalität schaffen. Die Wissenschaft muss hierzu dringend von dem neoliberalen Modell kurzfristiger Drittmittelfinanzierung und systematisch befristeter Arbeitsverhältnisse befreit werden, das das »Vermarkten« relativ banaler wissenschaftlicher Erkenntnissen fördert und riskante, langfristig angelegte Grundlagenforschung fast unmöglich macht.
Es ist keinesfalls ein historischer Zufall, dass Esoterik, religiöser Fundamentalismus und Verschwörungstheorien in den 70er und 80er Jahren zeitgleich mit dem Neoliberalismus in westlichen Gesellschaften aufblühten. Der Höhepunkt der öffentlichen Rationalität (und des Respekts für die Naturwissenschaften), dem viele Liberale mehr oder weniger offen nachtrauern, war die keynesianisch-sozialdemokratische Hochmoderne der 1950er und 60er Jahre.
In einer Welt, in der alle ökonomisch auf sich gestellt sind, wird es den Menschen hingegen zunehmend fremd, in Fragen des gesicherten Wissens auf das Fachpersonal ihrer Gesellschaft zu vertrauen. Wer daran gewöhnt ist, stets eigenbrötlerisch an seiner Selbstverwirklichung zu arbeiten, wird irgendwann auch die Konstruktion der Wahrheit gänzlich für sich selbst beanspruchen.
Öffentliche Rationalität als universeller aufklärerischer Wert wird oft mit liberalem Individualismus gleichgesetzt. Was ihren historischen Ursprung angeht, so ist dies sicher richtig. In der Praxis setzt die öffentliche Rationalität jedoch eine Kultur der öffentlichen Solidarität voraus. Nur so wird sie zur wahrhaft universellen Errungenschaft.
Liberale Rationalistinnen haben absolut Recht, wenn sie die Gegenaufklärung als existenzielle Bedrohung für unsere Zivilisation beschreiben. Wenn wir uns von Wissenschaft, Vernunft und Empirie abwenden, droht uns der technologische und zivilisatorische Abstieg in eine sehr viel dümmere, ärmere und brutalere Welt. Doch die Werte der Aufklärung bedürfen einer materiellen Vertrauensbasis und eines intakten Gemeinwohlgedankens.
Die Wiederherstellung dieser Vertrauensbasis ist für den Fortbestand unserer Zivilisation alternativlos – und sie fällt der politischen Linken zu. Vielleicht gelingt es uns ja auch, in diesem Zuge einige Liberale von den Vorzügen eines solidarischen Gesellschaftssystems zu überzeugen.
Über den Autor
Alexander Brentler ist Informatiker und Übersetzer.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.