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22. Dezember 2025

Victor Grossmans Lebensweg bleibt unnachahmlich

Um antikommunistischer Repression zu entfliehen, desertierte Victor Grossman aus der US-Armee, schwamm über die Donau und ging in die DDR. Dort setzte er sich für ein besseres Verständnis der amerikanischen Kultur ein. Am 17. Dezember ist er verstorben.

Victor Grossman spricht auf einer Veranstaltung des Berliner Jacobin-Lesekreises, 2017.

Victor Grossman spricht auf einer Veranstaltung des Berliner Jacobin-Lesekreises, 2017.

Foto: Micah Andrew Moore

Victor Grossman einen Jahrhundertzeugen zu nennen, ist keine Übertreibung. Der am 11. März 1928 in New York City geborene Journalist verbrachte den größeren Teil seines Lebens zuerst in der DDR, nach 1989 in der Bundesrepublik und blieb doch immer ein Amerikaner, wovon nicht nur die Stimmfärbung seines fließenden Deutsch unüberhörbar Zeugnis ablegte. Seine Lebensgeschichte, von ihm selbst in seiner Autobiografie Crossing the River farbig erzählt, ist der exemplarische Weg eines Kommunisten zwischen den Welten, der doch immer seiner Überzeugung unbeirrbar treu blieb. Das Buch ist auch ein Zeugnis dafür, dass die DDR – ungeachtet aller gravierenden Fehler, der vermeidbaren wie der vielleicht unvermeidbaren – einen legitimen und alternativen Weg zum bisherigen Verlauf deutscher Geschichte suchte.

Stephen Wechsler, denn so hieß er ursprünglich, wuchs in New York als Sohn eines Kunsthändlers und einer Bibliothekarin auf. Deren Eltern waren den antisemitischen Pogromen des zaristischen Russlands noch vor 1900 entkommen. Seine Kindheitserinnerungen verbanden sich mit dem Massenelend der Weltwirtschaftskrise, die die Familie mehrmals zwang, die Wohnung zu wechseln. Die Linksorientierung war dem jungen Wechsler damit sozusagen vorgegeben.

Noch auf der High School schloss er sich 1942 der Young Communist League an. Dies war im New York jener Zeit nicht erstaunlich: Die meisten seiner Mitschüler orientierten sich entweder an der Kommunistischen oder der Sozialistischen Partei der USA. Hinzu kamen einige Trotzkisten. Ein frühes Vorbild war der Kongressabgeordnete Vico Marcantonio, der für die American Labor Party (die nur im Staat New York antrat) mehrmals ins Repräsentantenhaus gewählt wurde.

»Redet mit den Arbeitern so, dass sie euch verstehen. Redet in ihrer Sprache.«

Im Jahr 1945 – am Sieg über Hitler bestand kein Zweifel mehr – schloss sich Stephen Wechsler der Kommunistischen Partei der USA (CPUSA) in der Gewissheit an, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Er wollte auch mithelfen, die krassen sozialen Unterschiede in der amerikanischen Gesellschaft, ihren Rassismus und ihre Bigotterie zugunsten eines besseren Modells aufzuheben. Er sah die Alternative – und damit stand er nicht allein – in der idealisierten Sowjetunion, die er nur aus deren in Amerika verbreiteten Propagandaschriften und aus den nicht weniger grobschlächtigen antikommunistischen Traktaten ihrer Feinde kannte.

Im Jahr seines Parteieintritts nahm er sein Studium der Wirtschaftswissenschaften an der Harvard University auf, das er 1949 mit sehr gutem Erfolg abschloss. Er hätte gern ein Promotionsstudium daran angeschlossen, doch die CPUSA erwartete von ihm den Einsatz im Betrieb, da es zu wenig Industriearbeiter unter den Parteimitgliedern gab. Ein Instrukteur der Partei gab ihm und anderen Genossen den Rat: »Ihr habt viel gelernt und kennt die Theorie. Aber so sollt ihr nicht mit den Arbeitern sprechen. Redet mit den Arbeitern so, dass sie euch verstehen. Redet in ihrer Sprache.« Daran habe er später in der DDR oft denken müssen.

Botschafter des »anderen Amerika«

Nach einer Zeit als ungelernter Industriearbeiter in Buffalo wurde Wechsler 1950 zur Armee einberufen und in Bayern stationiert. Bei einer amtlichen Befragung verschwieg er seine Parteimitgliedschaft, und so wurde er wegen Falschaussage vor ein Militärgericht zitiert. Im hysterisch antikommunistischen Zeitgeist der McCarthy-Ära drohte ihm eine mehrjährige Haft. Um Rat suchend, wandte er sich an das Büro der KPD in Nürnberg, wurde jedoch fortgeschickt, da man ihn für einen Provokateur hielt. So traf er einen schweren Entschluss, autobiografisch erstmals in seinem Buch Der Weg über die Grenze geschildert.

Am 12. August 1952, dem Tag, den er als den entscheidenden seines Lebens bezeichnete, desertierte er. Er schwamm bei Linz über die Donau in die sowjetisch besetzte Zone Österreichs und meldete sich bei einem sowjetischen Militärposten. Nach zwei Wochen Verhör wurde er über die Tschechoslowakei in die DDR, zunächst nach Potsdam, verbracht. Nach zwei weiteren Monaten in sowjetischem Gewahrsam kam er in ein offenes Lager in Bautzen, in eine Sammelstelle für westliche Deserteure vorwiegend aus der Bundesrepublik, doch auch aus Frankreich und dem angelsächsischen Raum. Fortan nannte er sich Victor Grossman, um seine Verwandten in den USA zu schützen. Bis 1954 arbeitete als Transportarbeiter im VEB Waggonbau Bautzen und erlernte in einem Sonderkurs nicht nur die deutsche Sprache, sondern auch den Beruf des Drehers. Er wurde als Kulturleiter eines ad hoc gegründeten Klubs eingesetzt.

Von 1954 bis 1958 studierte er Journalistik an der Karl-Marx-Universität Leipzig. Als CPUSA-Mitglied war er Gast in der SED-Parteigruppe. Dort fand er auch seine Lebenspartnerin. Seit 1955 und bis zu ihrem Tod war Victor Grossman mit der Bibliothekarin Renate Kschiner verheiratet. Aus der Ehe gingen zwei Söhne, Thomas und Timothy, hervor. Er war und blieb der DDR wie der SED verbunden, »eckte« aber ein um das andere Mal an, als er verzerrten Meinungen über das Leben im Kapitalismus widersprach.

Nach erfolgreich absolviertem Studium arbeitete er zunächst als Lektor beim Verlag Seven Seas Publishers in Berlin. Der Verlag wurde von Gertrude Gelbin, Stefan Heyms Frau, geleitet und publizierte englischsprachige Bücher von kommunistischen Autoren der USA, aber auch zahlreiche Schriften von Angehörigen der mit der Sowjetunion und der DDR verbundenen Befreiungsbewegungen Asiens und Afrikas. Die Bücher erreichten zwar kaum den westlichen Buchmarkt, jedoch ein wachsendes Publikum im südasiatischen Raum, namentlich in Indien.

»Victor lebte ein exemplarisches Leben.«

Von 1959 bis 1963 arbeitete Victor Grossman beim German Democratic Report, einem englischsprachigen Digest der DDR-Presse, den der englische Journalist John Peet leitete. Daran anschließend war er für zwei Jahre Nordamerika-Redakteur bei Radio Berlin International, dem Auslandsdienst des DDR-Rundfunks. Mehr als nur eine berufliche Aufgabe war für ihn die darauffolgende dreijährige Leitung des Paul-Robeson-Archivs an der Akademie der Künste der DDR. Seit 1968 war er freischaffender Journalist, dessen Kommentare in der Tagespresse, aber auch in der außenpolitischen Zeitschrift Horizont und der kulturpolitischen Monatszeitschrift Das Magazin erschienen, die von der mit ihm eng befreundeten Hilde Eisler geleitet wurde. Die Freundschaft mit ihr und ihrem 1968 verstorbenen Mann Gerhart ging auf deren Exilzeit in den USA zurück.

Wenig bekannt ist Grossmans Einsatz für die fortschrittliche amerikanische Kultur in der DDR. Nach dem 11. ZK-Plenum der SED im Dezember 1965 wurde in Ostberlin fast die gesamte Filmproduktion des Jahres für den Verleih verboten, zusammen mit wichtigen literarischen Texten. Damit ging ein ideologischer Feldzug gegen die »angelsächsische Unkultur« einher, der geradezu chauvinistische Züge aufwies – propagiert oft von Kulturfunktionären der zweiten Reihe, die kein Wort Englisch beherrschten, aber nun alte Vorurteile aus ihren Jahren in der Hitlerjugend hervorholten. Die Bands (nunmehr »Tanzkapellen«), die sich weigerten, englischsprachige Titel aus ihren Programmen zu nehmen, erhielten Aufführungsverbot oder mussten sich auflösen.

In diesen, bis 1971 währenden »schwarzen Jahren« der DDR-Kulturpolitik gelang es Grossman, einige wenige Platten mit Künstlern des »anderen Amerika« – nur unter dieser Bezeichnung gingen sie überhaupt »durch« – in der DDR mit einführenden Texten, den Liner Notes, zu versehen. Darunter waren LPs von Bob Dylan, Pete Seeger und Joan Baez – und dies, obwohl Pete Seeger 1949 die CPUSA nach Stalins Bruch mit Tito verlassen und Joan Baez die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 gebrandmarkt hatte. Victor schrieb die meisten seiner Texte auf Deutsch, und auch dadurch wurde er zum Mittler zwischen den Welten. Sein (für mich) schönstes Buch bleibt Rebel Girls. 34 amerikanische Frauen im Porträt – von Anne Hutchinson, der kämpferischen Theologin des 17. Jahrhunderts, bis Jane Fonda. Er schenkte es mir mit der Widmung: »Pasaremos!« und akzeptierte meine Kritik, als ich ihn auf das Fehlen von Emma Goldman im Buch hinwies.

Sein Posten bleibt vakant

In den Jahren des Niedergangs und des Zerfallsprozesses der DDR blieb Grossman politisch wach. Auch wenn für ihn ein Bruch mit dem DDR-Kommunismus nie infrage kam, wuchsen in ihm die Zweifel. Der Zusammenbruch und die Selbstaufgabe seiner Wahlheimat durch große Teile der Bevölkerung empfand er als persönliche Niederlage, so sehr ihn die neu errungenen Bürgerfreiheiten für seine Landsleute, denn als solche sah er die DDR-Bürger, freuten. Diese Bürgerfreiheiten kamen auch ihm zugute, als er 1994 erstmals seit seiner Flucht wieder in die USA reisen durfte, deren Staatsbürger er immer geblieben war. Nach einer offiziellen Anhörung wurde er dort aus der US-Armee entlassen.

»Seine einzigartige Erfahrung, gewonnen aus verschiedenen Welten, die kritisch zu überprüfen er stets bereit war, sind und bleiben unverwechselbar.«

Seine CPUSA-Mitgliedschaft übertrug er auf die PDS und später auf Die Linke. Er hielt Vorträge in Parteigruppen und verschiedenen antifaschistischen Organisationen, darunter immer wieder im Verein der Kämpfer und Freunde der Spanischen Republik, publizierte in linken Periodika und schrieb einen kostenfreien monatlichen Blog, das Berlin Bulletin, in dem er amerikanischen und deutschen Abonnenten die europäische Politik in leicht fasslicher Form darstellte und analysierte.

Victor lebte ein exemplarisches Leben. Er gehörte zu den mutigen Menschen, die sich am 27. August und am 4. September 1949 in Peekskill im Staate New York dem entmenschten Mob entgegenstellten, der versuchte, Paul Robeson und Pete Seeger zu lynchen. Es erschütterte ihn, als er erfuhr, dass der einstige CPUSA-Generalsekretär Gus Hall große Summen an Parteigeldern für rein private Zwecke verwendet hatte. Victors Lebensentscheidung blieb davon unberührt. Der Kommunismus ist mehr als der Machtmissbrauch durch seine Funktionäre, war sein Standpunkt. Der gemeinsame Kampf von Kommunisten der CPUSA und Trotzkisten in Peekskill bewahrte ihn vor sektiererischen Einengungen der amerikanischen KP. Bei klarem Standpunkt war er in Meinungsverschiedenheiten, die auch ich mit ihm mitunter hatte, der höflichste und toleranteste Diskussionspartner, den man sich vorstellen kann.

Am 17. Dezember 2025 starb Victor Grossman im Alter von 97 Jahren in Berlin. »Ein Posten ist vakant«, um Heinrich Heine zu zitieren: »Der eine fällt, die andern rücken nach.« Doch dieser Posten, den Victor bezogen und gehalten hatte, bleibt vakant. Denn seine einzigartige Erfahrung, gewonnen aus verschiedenen Welten, die kritisch zu überprüfen er stets bereit war, sind und bleiben unverwechselbar, ja unwiederholbar. Seien wir dankbar dafür, was er uns gegeben hat.

Mario Keßler ist Senior Fellow am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam.