29. März 2022
Wenn arbeitende Menschen ihre Ausbeutung hinnehmen, liegt das nicht daran, dass sie sich über ihre Interessen im Unklaren sind. Ein neues Buch zeigt stattdessen, wie die wirtschaftliche Struktur des Kapitalismus Arbeiterinnen und Arbeiter dazu bringt, sich mit ihrer Situation abzufinden – und wie wir diese Resignation überwinden können.
Die grundlegende Dynamik des Klassenkonflikts ist universell und keine Frage der kulturellen Interpretation, argumentiert Chibber.
In den letzten fünfzig Jahren erlebte die kapitalistische Welt die Gleichzeitigkeit von neoliberaler Verelendung und einer politisch stillgelegten Arbeiterklasse. Zunehmende Ausbeutung und die Zerstörung des sozialen Sicherheitsnetzes haben nicht die Art von offensiven Klassenkämpfen hervorgebracht, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben.
Viele Theoretikerinnen und Theoretiker sehen die Ursache dafür in der Kultur. Ausbeutung, so argumentieren sie, führe nur dann zu Klassenkämpfen, wenn sich die Arbeitenden in einem kulturellen Umfeld bewegen, das sie in diese Richtung lenkt. Ebenso sei es möglich, dass Arbeiterinnen und Arbeiter die kapitalistische Kultur verinnerlichen, was dazu führe, dass sie ihre eigene Ausbeutung akzeptieren.
Das neue Buch von Vivek Chibber, The Class Matrix, untersucht diese kulturelle Denkrichtung und erklärt sie letztlich für unzureichend. Chibber erkennt zwar an, dass die Theoretikerinnen und Theoretiker des Cultural turn – also der Hinwendung zum Kulturellen – einen wichtigen Beitrag geleistet haben und er gesteht zu, dass das marxistische Denken einer Revision bedarf. Dennoch stellt er sich gegen die Vorstellung, arbeitende Menschen würden sich bloß deshalb nicht wehren, weil sie nicht auf die richtigen Gedanken kommen.
Dein Buch ist Erik Olin Wright gewidmet. Wie hat Eriks Arbeit Dein Denken geprägt, und in welcher Beziehung steht es zu The Class Matrix?
In The Class Matrix versuche ich zu klären, was eine materialistische Klassentheorie ausmacht. Zur Entwicklung dieser Denkrichtung hat in der Nachkriegszeit kein Theoretiker mehr beigetragen als Erik Wright. Seine Arbeit basiert auf der Marxschen Theorie. Diese verstand er im Kern als eine Theorie der Klassenverhältnisse, die analysiert wie letztere sowohl die Form als auch den Inhalt von politischem Handeln im Kapitalismus enorm einschränken.
Das liegt daran, dass die Klassenstruktur dazu führt, dass sich die politischen Interessen der Akteure aus ihrer ökonomischen Situation ableiten. Der Materialismus, wie er von Wright entwickelt wurde, besagt im Grunde, dass die Menschen in ihrem gesellschaftlichen und ökonomischen Handeln weitgehend ihre materiellen Interessen verfolgen. Der Materialismus ist also um den Begriff der Interessen herum aufgebaut.
Das ist im Prinzip der Kern von Erik Wrights Theorie. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Denken im Zuge des Cultural turn heftig kritisiert: Politik und gesellschaftliche Umbrüche würden nicht etwa durch die materiellen Interessen der Akteure bestimmt, sondern durch deren Kultur und Ideologie.
Damit wurden die Grundlagen der Klassentheorie in Frage gestellt. In meinem Buch baue ich auf der Arbeit von Erik Wright auf, der meiner Meinung nach selbst einen recht konventionellen Marxismus vertritt. Das Geniale an Eriks Arbeit ist, dass seine Analyse zwar in der Sprache der heutigen Sozialwissenschaften verfasst ist, gleichzeitig aber – in bewundernswerter Klarheit – sehr orthodox ist und auf der klassischen marxistischen Ökonomie basiert.
Ich versuche also, auf dieser Theorie aufzubauen und zu zeigen, dass sie auf die meisten Kritiken der kulturellen Wende eine Antwort kennt. Ich würde sogar sagen, sie kann Phänomene des heutigen Kapitalismus erklären, die die Kulturtheorie nicht erklären kann.
Du sagst, das ganze Buch ist eine Antwort auf den Cultural turn in den Geisteswissenschaften. Wodurch zeichnete sich diese kulturelle Wende aus und welchen Einfluss übte sie auf die Gesellschaftstheorie?
Die Ursprünge des Cultural turn reichen bis in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Ihren Höhepunkt erreichte sie zwar erst in den 1980ern, aber ihre Grundlagen lassen sich bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen. Im Mittelpunkt stand damals die Frage nach der Arbeiterklasse im fortgeschrittenen Kapitalismus und ihrem Verhältnis zu diesem System. Der klassische Marxismus hatte vorausgesagt, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter aufgrund des enormen Interessenkonflikts, der durch ihre Ausbeutung entsteht, früher oder später unter dem Banner des Sozialismus zusammenschließen und das System stürzen würden.
Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University. Sein Buch Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals ist 2019 im Dietz Verlag erschienen. Im selben Jahr haben wir im Brumaire Verlag sein dreiteiliges ABC des Kapitalismus veröffentlicht.