29. März 2022
Wenn arbeitende Menschen ihre Ausbeutung hinnehmen, liegt das nicht daran, dass sie sich über ihre Interessen im Unklaren sind. Ein neues Buch zeigt stattdessen, wie die wirtschaftliche Struktur des Kapitalismus Arbeiterinnen und Arbeiter dazu bringt, sich mit ihrer Situation abzufinden – und wie wir diese Resignation überwinden können.
Die grundlegende Dynamik des Klassenkonflikts ist universell und keine Frage der kulturellen Interpretation, argumentiert Chibber.
In den letzten fünfzig Jahren erlebte die kapitalistische Welt die Gleichzeitigkeit von neoliberaler Verelendung und einer politisch stillgelegten Arbeiterklasse. Zunehmende Ausbeutung und die Zerstörung des sozialen Sicherheitsnetzes haben nicht die Art von offensiven Klassenkämpfen hervorgebracht, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts geprägt haben.
Viele Theoretikerinnen und Theoretiker sehen die Ursache dafür in der Kultur. Ausbeutung, so argumentieren sie, führe nur dann zu Klassenkämpfen, wenn sich die Arbeitenden in einem kulturellen Umfeld bewegen, das sie in diese Richtung lenkt. Ebenso sei es möglich, dass Arbeiterinnen und Arbeiter die kapitalistische Kultur verinnerlichen, was dazu führe, dass sie ihre eigene Ausbeutung akzeptieren.
Das neue Buch von Vivek Chibber, The Class Matrix, untersucht diese kulturelle Denkrichtung und erklärt sie letztlich für unzureichend. Chibber erkennt zwar an, dass die Theoretikerinnen und Theoretiker des Cultural turn – also der Hinwendung zum Kulturellen – einen wichtigen Beitrag geleistet haben und er gesteht zu, dass das marxistische Denken einer Revision bedarf. Dennoch stellt er sich gegen die Vorstellung, arbeitende Menschen würden sich bloß deshalb nicht wehren, weil sie nicht auf die richtigen Gedanken kommen.
Dein Buch ist Erik Olin Wright gewidmet. Wie hat Eriks Arbeit Dein Denken geprägt, und in welcher Beziehung steht es zu The Class Matrix?
In The Class Matrix versuche ich zu klären, was eine materialistische Klassentheorie ausmacht. Zur Entwicklung dieser Denkrichtung hat in der Nachkriegszeit kein Theoretiker mehr beigetragen als Erik Wright. Seine Arbeit basiert auf der Marxschen Theorie. Diese verstand er im Kern als eine Theorie der Klassenverhältnisse, die analysiert wie letztere sowohl die Form als auch den Inhalt von politischem Handeln im Kapitalismus enorm einschränken.
Das liegt daran, dass die Klassenstruktur dazu führt, dass sich die politischen Interessen der Akteure aus ihrer ökonomischen Situation ableiten. Der Materialismus, wie er von Wright entwickelt wurde, besagt im Grunde, dass die Menschen in ihrem gesellschaftlichen und ökonomischen Handeln weitgehend ihre materiellen Interessen verfolgen. Der Materialismus ist also um den Begriff der Interessen herum aufgebaut.
Das ist im Prinzip der Kern von Erik Wrights Theorie. In den letzten Jahrzehnten wurde diese Denken im Zuge des Cultural turn heftig kritisiert: Politik und gesellschaftliche Umbrüche würden nicht etwa durch die materiellen Interessen der Akteure bestimmt, sondern durch deren Kultur und Ideologie.
Damit wurden die Grundlagen der Klassentheorie in Frage gestellt. In meinem Buch baue ich auf der Arbeit von Erik Wright auf, der meiner Meinung nach selbst einen recht konventionellen Marxismus vertritt. Das Geniale an Eriks Arbeit ist, dass seine Analyse zwar in der Sprache der heutigen Sozialwissenschaften verfasst ist, gleichzeitig aber – in bewundernswerter Klarheit – sehr orthodox ist und auf der klassischen marxistischen Ökonomie basiert.
Ich versuche also, auf dieser Theorie aufzubauen und zu zeigen, dass sie auf die meisten Kritiken der kulturellen Wende eine Antwort kennt. Ich würde sogar sagen, sie kann Phänomene des heutigen Kapitalismus erklären, die die Kulturtheorie nicht erklären kann.
Du sagst, das ganze Buch ist eine Antwort auf den Cultural turn in den Geisteswissenschaften. Wodurch zeichnete sich diese kulturelle Wende aus und welchen Einfluss übte sie auf die Gesellschaftstheorie?
Die Ursprünge des Cultural turn reichen bis in die ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg zurück. Ihren Höhepunkt erreichte sie zwar erst in den 1980ern, aber ihre Grundlagen lassen sich bis in die 1950er Jahre zurückverfolgen. Im Mittelpunkt stand damals die Frage nach der Arbeiterklasse im fortgeschrittenen Kapitalismus und ihrem Verhältnis zu diesem System. Der klassische Marxismus hatte vorausgesagt, dass sich die Arbeiterinnen und Arbeiter aufgrund des enormen Interessenkonflikts, der durch ihre Ausbeutung entsteht, früher oder später unter dem Banner des Sozialismus zusammenschließen und das System stürzen würden.
Dies schien sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts auch zu bewahrheiten. Doch 1950 war klar, dass dies in den Ländern, in denen es noch keine sozialistischen Revolutionen gegeben hatte, nicht geschah. Warum also? Das war die Frage, die sich Marxisten der frühen Nachkriegszeit wie Stuart Hall, Raymond Williams und E.P. Thompson stellten.
Sie wollten wissen, warum die westliche Arbeiterklasse das System nicht stürzte, wie es der frühe Marxismus prognostiziert hatte? Für die meisten, wenn auch nicht alle, dieser Theoretiker der Nachkriegszeit, lag die auf diese Antwort in der Kultur. Die Arbeiterklasse, so glaubten sie, sei durch die verschiedenen Institutionen der Kulturindustrie zum Kapitalismus verführt worden.
»Die kapitalistische Klasse muss sich in der Regel nicht einmal selbst organisieren. Sie ist aufgrund der Klassenstruktur bevorteilt, denn die Arbeitenden sind stärker auf sie angewiesen als umgekehrt.«
Darin erkannte man also des Rätsels Lösung. Der Marxismus habe die Rolle der Kultur und den Stellenwert kultureller Institutionen bei der Reproduktion des Kapitalismus unterschätzt. Um zu verstehen, wie und warum kollektives Handeln der arbeitenden Klasse blockiert wurde, müsse man verstehen, wie diese kulturellen Institutionen das Gesellschaftsbild der Arbeiterinnen und Arbeiter vermittelten.
Das ist in vielerlei Hinsicht durchaus vernünftig; für diese Generation von Marxisten bestand die Herausforderung darin, zu erkennen, wie die Kulturindustrie funktioniert und wie sie soziale und politische Auseinandersetzungen beeinflusst. Das galt sowohl für die Frankfurter Schule als auch für die frühe Neue Linke. Auch E.P. Thompsons großartiges Werk Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse untersucht, wie die Kirche und andere religiöse und kulturelle Institutionen auf die Klassenbildung einwirken.
In dieser Hinsicht war die Hinwendung zur Kultur ein sehr wichtiger Schritt innerhalb der marxistischen Tradition. Sie versuchten zu erklären, was von der marxistischen Theorie ihrer Meinung nach als undurchdringbar behandelt wurde. Mit den 1980er Jahren wurden die Einwände der kulturellen Wende jedoch aggressiver.
Inwiefern aggressiver?
In den ersten Jahren des Cultural turn ging es darum, die Kausalkette zwischen Klassenstruktur und politischem Handeln nachzuvollziehen. Man glaubte, dass die Kultur den Menschen entweder hilft oder sie daran hindert, ihre Position im System zu verstehen. Man ging jedoch weiterhin davon aus, dass die Grundregeln dieses Systems – also dessen grundlegende Zwänge – von der Klassenstruktur determiniert wurden. Doch man wollte herausfinden, wie die kulturellen Institutionen ihren Einfluss auf das Bewusstsein der gesellschaftlichen Akteure ausübten.
In den 1980er Jahren wurden dann weitaus steilere These formuliert: Wenn Interessen erst interpretiert werden müssten, um wirksam und motivierend zu werden, dann müsse folgliche der Akt der Interpretation eine zentrale Rolle spielen. Und wenn das der Fall sei, dann könne man letztlich nie voraussagen , wie die Klassenstruktur in das Bewusstsein der Menschen eindringe – genau das ist das schlagende kulturelle Argument. Das liege vor allen Dingen daran, dass kulturelle Normen, Ideologien usw. sehr ortsgebunden und höchst unterschiedlich sind. Der kulturelle Filter in, sagen wir, Indien, unterscheidet sich sehr von dem in Birmingham. Und wenn das so ist, dann werde dieselbe Klassenstruktur auch auf sehr unterschiedliche Weise interpretiert, was zu sehr unterschiedlichen Handlungen zur Folge habe, auch wenn beide Regionen kapitalistisch sind.
Der Interpretationsprozess ist also hier das Schlüsselelement. Da dieser sehr unterschiedliche ausfallen wird, kann man am Ende kaum vorhersehen, welche Handlungen die Klassenstruktur hervorbringt. Das Verhältnis zwischen den Klassen wird dadurch zum Gefangenen lokaler Gepflogenheiten, Normen und Eigenheiten. Mit dem Cultural turn wurde also die Vorstellung in Frage gestellt, dass die Klassenstruktur überall eine ähnliche Wirkungen entfaltet und ähnlichen Zwängen unterliegt.
Dies führt uns zur Schlussfolgerung dieser Argumentation: Wenn die Wirksamkeit der Klassenstruktur davon abhängt, wie sie Ort interpretiert wird, dann wird letztlich alles zu einer Frage der Interpretation. Soziale Realität ist demnach hochgradig variabel und kulturell konstruiert – nicht nur kulturell vermittelt. Anstatt die Kategorie der Klasse als kulturell interpretierbar zu betrachten, wird Klasse als ein Produkt der Kultur begriffen.
Das hat dem Sozialkonstruktivismus den Weg geebnet, der in den 1990ern aufkam. Im 19. Jahrhundert hätten wir das noch »Idealismus« genannt – eine Denkschule die Ideologien und Kultur als primären Antrieb politischer Auseinandersetzungen erachtet, anstatt diese den materiellen Zwängen unterzuordnen, denen die Menschen ausgesetzt sein.
In Deinem Buch sagst Du dennoch, dass der Cultural turn einige richtige Fragen gestellt hat. Welche wären das?
Der Grund, warum sich die Arbeiterklasse nicht spontan oder routinemäßig auflehnt und das System stürzt, liegt nicht darin, dass sie ideologisch verblendet ist , von der Kulturindustrie getäuscht wird oder das falsche Bewusstsein hat. Der Grund dafür, dass sie dies nicht tut, liegt in den materiellen Zwängen, die die Klassenstruktur dem kollektiven Handeln auferlegt – darum geht es im Kern auch in meinem Buch.
Die kapitalistische Klassenstruktur zeichnet sich dadurch aus, dass sie die kapitalistische und die arbeitende Klasse auf sehr ungleiche Weise miteinander verbindet. Die Arbeiterinnen und Arbeiter müssen sich nicht nur politisch als Akteurin zusammenschließen, sondern sie verfügen auch über viel geringere Ressourcen als Kapitalistinnen und Kapitalisten. Wenn die arbeitenden Klassen den Widerstand der kapitalistischen Klasse brechen will, muss sich dafür sehr reale Risiken und Kosten in Kauf nehmen.
»Die Interessen schränken die Bandbreite der Identitäten, die sie annehmen können, zwar ein, dennoch ist ein gewisses Maß an kultureller Arbeit notwendig, damit sich eine solche Identität formiert.«
Die kapitalistische Klasse muss sich in der Regel nicht einmal selbst organisieren. Sie ist aufgrund der Klassenstruktur bevorteilt, denn die Arbeitenden sind stärker auf sie angewiesen als umgekehrt. Die Kapitalistinnen und Kapitalisten können sich buchstäblich zurücklehnen. Sie müssen nur darauf warten, dass die Arbeitenden auf der Suche nach einer Anstellung zu ihnen kommen. Solange die Arbeitenden jeden Tag zur Arbeit erscheinen, bleibt die Unterordnung der arbeitenden Klasse durch die kapitalistische Klasse intakt.
Wenn sich die Arbeiterinnen und Arbeiter in einer solchen Situation zusammenschließen, müssen sie in der Lage sein, ein bestimmtes Maß an Risiken und Kosten zu tragen. An diesem Punkt ist die Kultur eine Schlüsselkomponente. Eine der zentralen Methoden, die die Arbeiterbewegung gefunden hat, um Menschen zusammenzuschließen, ist das Stiften einer kollektiven Identität und eines Gefühls der Gegenseitigkeit. Anstatt lediglich durch materielle Interessen motiviert zu sein, erzeugt eine kollektive Identität auch ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber anderen Arbeiterinnen und Arbeitern.
Dieses Gefühl der Verpflichtung ist das, was wir Solidarität nennen. Und sie hat eine nicht zu leugnende kulturelle Komponente, eine Komponente der Identitätsbildung. Der springende Punkt dabei ist natürlich, dass sich diese Identität um ihre Interessen herum bildet. Die Interessen schränken die Bandbreite der Identitäten, die sie annehmen können, zwar ein, dennoch ist ein gewisses Maß an kultureller Arbeit notwendig, damit sich eine solche Identität formiert.
Der Cultural turn hat dazu beigetragen, die zentrale Rolle der Kultur anzuerkennen und zu verstehen. Das Problem bestand jedoch darin, dass man ihre Bedeutung letztlich überhöht hat.
Mein Buch plädiert zwar eindeutig dafür, materielle Zwänge oder das, was Marx den »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse« nannte, wieder in den Mittelpunkt der Klassentheorie zu stellen, jedoch fordere ich keineswegs, die Kultur aus dieser Theorie zu verbannen.
Lass uns an dieser Stelle über eines der provokantesten und unerwartetsten Argumente deines Buches sprechen: Du bekräftigst, dass sich die Theoretiker des Cultural Turn und die Denkerinnen des klassischen Marxismus darin einig waren, welche Rolle der Klassenstruktur bei der Herstellung sozialer Stabilität zukommt. Kannst Du das näher ausführen?
Die Neue Linke dachte, dass sie eine theoretische Revolution ausfechtet. Sie glaubte, einer Theorie, die die Kultur bis dahin ignoriert hatte, eine kulturelle Komponente hinzufügen. Damit glaubte man, die Antwort auf eine Frage liefern zu können, die von der Theorie bislang nicht beantworten konnte, nämlich: Warum organisiert sich die Arbeiterklasse nicht kollektiv und fordert ihre Vorgesetzten heraus?
Die Frage war in gewisser Weise neu, weil sie in dieser Deutlichkeit noch nie gestellt worden war. Aber die Neue Linke teilte eine zentrale Annahme mit den Theorien des klassischen Marxismus: Auch sie ging davon aus, dass die Funktion der Klassenstruktur darin besteht, Chefs und Arbeitende gegeneinander auszuspielen. Damit waren auch sie der Ansicht, dass das Verhältnis zwischen Klassen eine Quelle des Konflikts ist. Darum ging es. Wenn das System nicht von diesem Konflikt überrollt wird, dann müsse das an Mechanismen und Institutionen liegen, die außerhalb der Klassenstruktur liegen.
Die Klassenstruktur wird von Marx über Lenin und Luxemburg bis hin zu Theoretikerinnen und Theoretikern der Nachkriegszeit als Quelle der Instabilität des Kapitalismus verstanden. Die kulturellen Institutionen, der »Überbau«, werden dagegen als die Quelle der Stabilität angesehen. Die Stabilität kommt von außerhalb der materiellen Basis – das was ich Struktur nenne – und die Instabilität kommt aus ihrem Inneren.
Mein Argument ist, dass diese Denkerinnen und Denker ihre eigene Theorie nicht ganz verstanden haben. Wenn man sich intensiv mit der Klassentheorie von Marx auseinandersetzt, wird sehr klar deutlich, dass die Klassenstruktur nicht nur eine Quelle der Instabilität ist. Natürlich führt sie zu Konflikten, aber sie schafft auch die Basis für die Stabilisierung des Systems. Die Struktur zwingt die Klassen in einen immerwährenden Konflikt, wie Erik Wright so gut darlegt. Aber dieser Konflikt ist asymmetrisch: Die eine Seite ist ständig im Vorteil, die andere im Nachteil.
»Meiner Meinung nach ist es kaum möglich, die Gefängnishefte zu lesen, ohne zu dieser eher materialistischen Interpretation zu gelangen. Die interessante Frage ist, wie es dazu kam, dass sich die kulturalistische Interpretation so stark verbreitet.«
Die Bevorteilung ist in dieser Struktur angelegt und keine zufällige Auswirkungen kultureller Institutionen oder Ideologien. Wenn man diese Tatsache anerkennt, dann lautet die Antwort auf die Frage, die die Neue Linke gestellt hat, ganz anders: Weder Ideologie noch Kultur sind die Ursache, weshalb sich die arbeitenden Klasse nicht auflehnt. . Das ist vielmehr darin begründet, dass die Klassenstruktur ihre eigene Stabilität garantiert.
In diesem Punkt unterscheidet sich die Klassentheorie in ihrer jetzigen Form von der Neuen Linken. Ich würde sie aber nicht als eine Abkehr vom klassischen Marxismus bezeichnen. Ich denke eher, sie entwickelt dessen Implikationen weiter, und man kann sagen, dass Marx und die frühen Marxistinnen und Marxisten die Implikationen ihrer eigenen Theorie nicht ausreichend gewürdigt haben.
In einem Kapitel setzt Du Dich ausführlich mit Antonio Gramscis einflussreichem Konzept der Hegemonie auseinander. Dieses wird häufig herangezogen, um die soziale Stabilität des Kapitalismus zu erklären. Wie bewertest Du dieses Konzept?
Gramsci gilt weithin als einer der brillantesten Marxisten seiner Zeit und dieser Einschätzung stimme ich zu. Die Gefängnishefte sind eine unglaubliche Quelle neuer Einsichten und Ideen über den Kapitalismus, deren Gültigkeit Gramscis Zeit überdauert hat.
Ich glaube aber auch, dass er häufig missverstanden wurde. Das gängigste Verständnis von Gramsci ist heute, dass er eine Art Vordenker des Cultural turn war. Die Gefängnishefte, so wie wir sie kennen, beschäftigen sich – zumindest in englischer Sprache – vor allem damit, wie sich Produktionsbedingungen selbst stabilisieren und warum sie das tun .
Die Antwort von Gramsci lautet, dass der Überbau, also die Zivilgesellschaft, die Stabilität sicherstellt. Damit scheint er Argumente vorwegzunehmen, die die Neue Linke in der Nachkriegszeit formulierte. Es ist nicht verwunderlich, dass die Neue Linke Gramsci angesichts seines angeblichen Augenmerks auf den Überbau als Marxist des Cultural turn angepries.
Ich vertrete dagegen eine Position, die bis heute in der Minderheit ist. Sie wurde zwar in den 1980er und 90er Jahren zwar auch präsenter, hat sich aber nie so verfangen, wie die kulturalistische Interpretation von Gramsci. Ich bin der Auffassung, dass Gramsci in Wirklichkeit genauso ein Materialist war wie Lenin, Marx oder Luxemburg. Die Neue Linke hatte also recht damit, dass Gramsci eine Theorie darüber hatte, wie sich der Kapitalismus selbst stabilisiert – die Hegemonietheorie. Diese Theorie besagt, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter durch ihre Akzeptanz des Systems in das System absorbiert werden.
Die Neue Linke interpretierte Gramsci jedoch so, dass diese Zustimmung wesentlich durch Intellektuelle und kulturelle Institutionen erfolgt. Wenn man die Gefängnishefte liest, zeigt sich jedoch, dass Gramsci das gar nicht geglaubt hat. Seine Theorie – wie auch die Theorien aller anderen klassischen Marxistinnen und Marxisten seiner Generation und davor – besagt, dass diese Zustimmung eine Konsequenz dessen ist, wie die herrschende Klasse die materiellen Interessen der untergeordneten Klassen verwaltet. Diese Zustimmung ist also eben nicht das Ergebnis ideologischer Indoktrination.
Die herrschende Klasse kontrolliert die Entwicklung der Produktivkräfte und im Zuge dessen steigt der materielle Wohlstand der Arbeitenden. Diese akzeptieren das System, weil sie sehen, dass sie selbst davon profitieren.
Dies widerspricht der kulturalistischen Interpretation von Gramsci. Meiner Meinung nach ist es kaum möglich, die Gefängnishefte zu lesen, ohne zu dieser eher materialistischen Interpretation zu gelangen. Die interessante Frage ist, wie es dazu kam, dass sich die kulturalistische Interpretation so stark verbreitet.
Der Cultural turn schürte die Selbstüberschätzung der Intellektuellen: Wenn die Arbeiterinnen und Arbeiter sich nicht so verhalten und handeln, wie es die Intellektuellen vorausgesagt haben, dann kann das nur daran liegen, dass sie ihre eigenen Umstände nicht verstehen.
Aber während ich die materialistische Lesart von Gramsci verteidige, glaube ich auch, dass eine rein materialistische Theorie, die Standhaftigkeit des Kapitalismus nicht ausreichend erklären kann. Bezüglich der Hegemonie hat Gramsci meiner Meinung nach den Fehler begangen, die Frage der kapitalistischen Stabilität mit der Frage der Hegemonie zu vermengen.
Es gibt eine offentliche Annahme, die in den Gefängnisheften deutlich wird: Sobald man die Frage beantwortet hat, wo die Zustimmung der Arbeitenden herrührt, so hat man auch die Frage beantwortet, warum der Kapitalismus so stabil ist. Diese Schlussfolgerung kann man aber nur ziehen, wenn man glaubt, dass die Stabilität ausschließlich in der Zustimmung der Arbeiterklasse begründet ist. Nach vierzig Jahren Neoliberalismus müssen wir das jedoch bezweifeln.
Das Wirtschaftsmodell in der neoliberalen Ära, von Margaret Thatcher bis Ronald Reagan war bei der Bevölkerung nicht gerade beliebt. In den frühen 1980er Jahren sah es zwar tatsächlich danach aus, als hätte eine starke Zustimmung der Wählerinnen und Wähler Thatcher und Reagan zur Macht verholfen. Doch in den 1990er Jahren wurde deutlich, dass der Zynismus, die Unzufriedenheit und die Entfremdung, die ein Großteil der Bevölkerung empfand, eher stärker als schwächer wurde.
»Eine der unglücklichen Folgen des Cultural Turn ist, dass sie die Hybris und Arroganz der Intellektuellen geschürt hat.«
Wenn wir davon ausgehen, dass das stimmt, dann war der Kapitalismus über fast fünf Jahrzehnte hinweg stabil und der Zustimmung zu diesem System hat in dieser Zeit nicht zugenommen, sondern ist schwächer geworden. Wie ließe sich die Stabilität des Systems heute erklären, wenn die Zustimmung tatsächlich schwindet? Ich argumentiere, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter das System nicht deshalb akzeptieren, weil sie es für legitim oder wünschenswert halten, sondern weil sie keine andere Wahl sehen. Mit anderen Worten: Sie finden sich damit ab.
Dies führt uns zurück zum »stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse«, um es mit Marx zu sagen. Es ist richtig, dass die Zustimmung innerhalb der Arbeiterklasse zu bestimmten Zeiten zunimmt, etwa in Zeiten starken Wachstums, steigenden Wohlstands und vor allem dann, wenn die Arbeiterklasse gut organisiert ist und in einer starke Verhandlungsposition gegenüber den Bossen ist.
Inzwischen wissen wir zwei Dinge: In der Geschichte des westlichen Kapitalismus ist dies eher eine Ausnahme als die Norm. Im globalen Kapitalismus ist ein Großteil der Arbeiterklasse nie so organisiert gewesen, dass sie in einer Position der Stärke mit den Kapitalistinnen und Kapitalisten verhandeln konnte. Wieso konnte der Kapitalismus dann stabil bleiben? Die Antwort liegt im »stumme[n] Zwang der ökonomischen Verhältnisse«, die Arbeiterinnen und Arbeiter jeden Tag wieder an ihren Arbeitsplatz zurückbringt, ob sie wollen oder nicht.
Die Stabilität wird also durch die Zustimmung unterstützt, ist aber nicht von ihr abhängig. Sie beruht auf der materiellen Situation der Arbeiterklasse, den Schwierigkeiten, sich selbst zu organisieren, und der Tatsache, dass sie letztendlich einen Job brauchen – auch wenn sie ihn hassen. Wenn man eine Antwort auf die Frage der Neuen Linken sucht, dann ist die Zustimmung im Vergleich zur Resignation von zweitrangiger Bedeutung.
Es mag eigenartige erscheinen, dass sich ausgerechnet Marxistinnen und Marxisten die Frage stellen, wie sich der Kapitalismus stabilisiert – denn ihr Interesse galt traditionell eher Revolutionen, Streiks usw. Aber in den letzten beiden Kapiteln Deines Buches legst du eindrücklich dar, warum diese Frage für heutige Gesellschaftstheorien so zentral ist. Warum gibt es also so wenige systemische Herausforderungen für den Neoliberalismus in der fortgeschrittenen kapitalistischen Welt?
Ich bin überzeugt, dass die arbeitende Klasse als denkende, vernunftbegabte Menschen gesehen werden muss, die sich ihrer Umstände und ihrer Situation bewusst sind und darauf so reagieren, wie es am vernünftigsten und rationalsten ist.
Eine der unglücklichen Folgen des Cultural Turn ist, dass sie die Hybris und Arroganz der Intellektuellen geschürt hat – und diese besagt, dass die Arbeitenden sich anscheinend nicht so verhalten und handeln, wie es ihre Theorien vorhersagten. Und wenn sie es nicht tun, dann deshalb, weil sie das System – und, was noch wichtiger ist, ihre eigenen Umstände – nicht so gut verstehen, wie die Intellektuellen sie verstehen. Die Vorstellung, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter dem Kapitalismus spontan zustimmen und das System deshalb stabil bleibt, basiert auf der Idee, dass sie schlichtweg nicht verstehen, dass sie ausgebeutet werden und dass dieses System ihnen schadet. Hier wird ihnen unterstellt, dass mit ihren kognitiven Fähigkeiten etwas nicht stimmen muss.
Wenn man aber begreift, dass sie sich nur deshalb an das System halten, weil sie nur zu gut verstehen, was sie durchmachen, und es für unvernünftig halten, alle damit verbundenen Risiken auf sich zu nehmen, dann besteht die erste Aufgabe des Organizing nicht darin, sie zu belehren. Stattdessen darin, zu versuchen, bis ins kleinste Detail zu verstehen, was arbeitende Menschen daran hindert, sich als Klasse zu organisieren und Strategien zu entwickeln, die vernünftige, rationale Menschen für tragbar erachten – und nicht Strategien, die sie wie Dummköpfe behandeln. Und das ist der erste Schritt hin zu einer politischen Strategie, mit der wir diese Umstände überwinden können. Und ich würde sagen, das ist die eigentliche Motivation für dieses Buch.
Vivek Chibber ist Professor für Soziologie an der New York University. Sein Buch Postkoloniale Theorie und das Gespenst des Kapitals ist 2019 im Dietz Verlag erschienen. Im selben Jahr haben wir im Brumaire Verlag sein dreiteiliges ABC des Kapitalismus veröffentlicht.