30. März 2023
Die Frankfurter Schule wollte einst den Marxismus neu auflegen. Doch einige ihrer Vordenker entwickelten sich zu Apologeten des Kapitalismus. Der kritische Anspruch ihrer Theorie lässt sich nur mit dem Marxismus einlösen.
Horkheimer und Adorno beim Heidelberger Soziologentag, 1964.
CC BY-SA 3.0Das Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main gibt es seit nunmehr hundert Jahren. Hier wurde 1923 das Fundament der Kritischen Theorie gelegt, die auch unter dem Namen Frankfurter Schule bekannt ist. Bis heute prägt sie das Selbstverständnis der Linken in der Bundesrepublik – im positiven wie im negativen Sinn. Zu ihren frühen Vertretern gehören etwa Max Horkheimer, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse.
Teile der antikapitalistischen Linken sehen die Kritische Theorie als letzte Bastion gegen den allumfassenden Verwertungszwang der Kapitallogik, der auch vor Kultur und Kunst keinen Halt macht. Andere hingegen schreiben der Frankfurter Schule eine Schlüsselrolle in der Legitimation Westdeutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg zu und verstehen sie entsprechend als »intellektuelle Gründung« der kapitalistischen BRD, wie es unter anderem der Soziologe Clemens Albrecht einmal umschrieben hat. Wieder andere, insbesondere Bewegungslinke, empfinden die Kritische Theorie als bürgerliche oder sogar elitäre Rückzugsbewegung aus den politischen Kämpfen. In gewisser Weise haben alle Recht – was auch daran liegt, dass sehr unterschiedliche, wenn auch nicht einander ausschließende Positionen mit dem Etikett »Frankfurter Schule« versehen werden.
Schon der Begriff »Frankfurter Schule« ist eine Fremdbezeichnung, die erst Jahrzehnte nach der Etablierung der Kritischen Theorie aufkam und die ihr Begründer Horkheimer lediglich als Deckname einer bestimmten Strömung des Marxismus verstand. Er entwickelte sie im Verbund mit Kollegen in der institutseigenen Zeitschrift für Sozialforschung. Gemäß dem Selbstverständnis arbeitete man hier an einer disziplinübergreifenden Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Gesamtheit – an jener Totalität des Kapitalismus also, die sich dem unvermittelten Alltagsverstand entzieht.
Das klassische marxistische Gesellschaftsmodell einer wirtschaftlichen Basis, die ihren kulturellen Überbau im Wesentlichen bestimme, lehnte man ab. Vielmehr weise die Basis in der Ökonomie genauso ideologische Züge auf wie ihr Überbau ökonomische Substanz. Die daraus resultierende Methode kritischer Totalitätsanalyse wäre undenkbar gewesen ohne die Leistung der damals heterodoxen Marxisten Georg Lukács und Karl Korsch. Sie verteidigten das politische Moment des Revolutionären im historischen Materialismus gegen den Determinismus geschichtsphilosophischer Notwendigkeiten.
Das hundertjährige Jubiläum des Instituts für Sozialforschung ist daher auch ein gegebener Anlass, um an zwei bedeutende Klassiker der marxistischen Theorie zu erinnern, nämlich an Lukács’ Geschichte und Klassenbewusstsein sowie Korschs Marxismus und Philosophie – die ebenfalls je vor hundert Jahren erschienen. Lukács und Korsch verteidigten den »subjektiven Faktor« gegen die »objektiven Gesetzmäßigkeiten« und legten damit den Grundstein für die Kritische Theorie. Kritischer Marxismus und Kritische Theorie sind also – zumindest in ihren Anfängen – bloß zwei Namen für dieselbe emanzipatorische Sache.
Von seinem austromarxistischen Vorgänger Carl Grünberg übernahm Horkheimer 1931 die Leitung des Instituts für Sozialforschung, das jedoch schon bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten geschlossen wurde und in die USA übersiedelte. Anders als noch zu seiner Gründung acht Jahre zuvor hatte sich das Institut zu diesem Zeitpunkt vor allem der Frage gewidmet, wie die europaweiten Hoffnungen, die von der sowjetischen Februar- sowie Oktoberrevolution 1917 und der gescheiterten Novemberrevolution 1918/19 in Deutschland ausgegangen waren, im braunen Sumpf der Faschismen untergehen konnten. Dafür war die Kritik der politischen Ökonomie um soziologisierte Psychoanalyse und Kulturtheorie zu ergänzen und in Richtung einer ausgearbeiteten Ideologiekritik zu entwickeln.
»Während die Kontinuität zwischen Kapitalismus und Faschismus in der Theorie zunehmend unbenennbar wurde, blieb sie in der realen Welt ungebrochen aufrechterhalten.«
Die Kritische Theorie identifizierte auf diesem Weg einen internationalen Homogenisierungsprozess, den sie als Symptom monopolkapitalistischer Globalisierung begriff. Davon betroffen waren ihres Erachtens nicht nur Hitlers oder Stalins Regime, sondern auch zunehmend die kapitalistischen USA, deren Gesellschaft unter dem wachsenden Einfluss der Massenproduktion, Kulturindustrie und des Konsumismus stand. »Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, der sollte auch vom Faschismus schweigen«, konstatierte Horkheimer in Bezug auf die Dialektik zwischen faschistischen und kapitalistischen Gesellschaften. Diese Einsicht sollte Horkheimer im Laufe der Zeit jedoch selbst verdrängen.
Spätestens als das Institut – nunmehr stark geschmälert zum berüchtigten Tandem Horkheimer/Adorno – von New York nach Los Angeles umzog, verwässerte sich auch seine Analyse des Nationalsozialismus. An die Stelle der ideologiekritischen Kapitalismuskritik trat zunehmend eine Zivilisationskritik mit kulturpessimistischen Zügen. Diese schloss sich statt an Marx insbesondere an Schopenhauer und Nietzsche und damit an einen tendenziell konservativen (Kultur-)Pessimismus und eine Psychologisierung sowie Verewigung der Machtfrage beziehungsweise an eine negative Anthropologie an. So münzte man die einstige Kritik am irrationalistischen, da »automatischen Subjekt« (Marx) des Kapitals – also an der blind laufenden Eigengesetzlichkeit kapitalistischer Wachstumszwänge – auf eine undifferenzierte Kritik an »der Vernunft« um. Implizit unterstellt wurde damit, dass nicht etwa der Klassenkampf, sondern »die Vernunft« den Weltlauf bestimme.
In diesem Moment vollzog sich also eine Überidentifikation »der Vernunft« mit kapitalistisch dressierter instrumenteller Vernunft. Damit jedoch gab es keine Vernunft mehr als die identifizierend-herrschaftliche, womit es keinen historischen Horizont mehr gibt, in dem Vernunft emanzipatorisches Potenzial beinhaltet.
Das Buch, das jenes dehistorisierende Grundtheorem ausformulierte, gilt vielen heute als das Standardwerk Kritischer Theorie: Adornos und Horkheimers Dialektik der Aufklärung (1944). Wegen seiner einschneidenden Antisemitismusanalysen und dem Kapitel zur Kulturindustrie ist diese Kanonisierung zurecht erfolgt. Dennoch muss festgehalten werden, dass die abstrakte Vernunftkritik der Dialektik der Aufklärung de facto einer Verabschiedung vom Marxismus gleichkam, da sie die polit-ökonomische Kritik am ausbeuterischen Kapitalismus auf eine philosophische Kritik am identifzierenden Denken ummünzte. Während die Kontinuität zwischen Kapitalismus und Faschismus in der Theorie daher zunehmend unbenennbar wurde, blieb sie in der realen Welt ungebrochen aufrechterhalten, wie sich etwa an der Kollaboration zwischen dem Franco-Regime und dem IWF in den 1960er Jahren zeigte.
Vor diesem Hintergrund erscheint es nur folgerichtig, dass Horkheimer 1951 zusammen mit Adorno in die kapitalistische Bundesrepublik Deutschland zurückkehrte, um dort mit den Westalliierten gegen »den Totalitarismus« von Hitler und Stalin zu arbeiten. Der neue Hauptfeind hieß für Horkheimer nun nämlich Kommunismus. Er saß im Osten und bedrohte den Westen. Horkheimers schwindelerregender Antikommunismus sollte später so weit reichen, dass er den US-amerikanischen Vietnamkrieg unterstützte aus Angst vor den kommunistischen »Chinesen am Rhein«.
Die Kritische Theorie, die von ihrer einstigen Solidarisierung mit der Arbeiterklasse nichts mehr wissen wollte, versank so in politischer Ohnmacht. Adorno schrieb zeitlebens dennoch nicht nur gegen die anhaltende Nazifiziertheit der BRD an, sondern auch gegen die damit verbundene warenförmig »verwaltete Welt« von Ost bis West. Damit kann ihm zwar nicht unterstellt werden, dass er die inhärente Verbindung zwischen Kapitalismus und Faschismus je verschwiegen hätte, denn kapitalistisches Tauschprinzip und nationalsozialistische Gleichschaltung, ökonomische Monopolbildung und politischer Totalitarismus, abstrakte Arbeit und paranoide Personifizierung des Bösen im Antisemitismus gingen für ihn miteinander Hand in Hand. Doch war es ausgerechnet Adorno, der auf die Mithilfe der Polizeigewalt gegenüber seinen rebellierenden 68er-Studierenden nicht verzichten wollte, sodass er selbst in den Verdacht einer Koalition mit den Verwaltern der Welt gerückt wurde.
»Allerspätestens seit der Wiedervereinigung 1990 avancierte Habermas zum Staatsphilosophen der westlichen Wertegemeinschaft.«
Sein Assistent Jürgen Habermas hatte solches Vorgehen mit der abenteuerlichen Begriffskonstruktion eines »linken Faschismus« knapp zwei Jahre zuvor als bloße Reaktion bereits vorauseilend gerechtfertigt. Andererseits sollte Habermas im weiteren Verlauf seines Lebens den späten Horkheimerschen Weg einer Versöhnung mit den kapitalistischen Verhältnissen des Westens auf eine Art mitgehen, der Adorno mit Sicherheit erbittert widersprochen hätte. Adorno allerdings starb bereits 1969 – und Marcuse fast exakt zehn Jahre später. Als 1981 Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns erschien, konnten sie darum keinen Widerspruch mehr einlegen.
Habermas bereinigte die Frankfurter Schule sukzessive von allen marxistischen Beständen, die ihr noch geblieben waren. Allerspätestens seit der Wiedervereinigung 1990 avancierte Habermas zum Staatsphilosophen der westlichen Wertegemeinschaft mit moral- und rechtsphilosophischem Ausweis. Was in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften seither als Paradigmenwechsel der Frankfurter Schule gehandelt wird, ist jedoch besser beschrieben als »Godesberg der Kritischen Theorie«, um es mit den Worten der Politikwissenschaftler Karsten Fischer und Raimund Ottow zu sagen. Wie die SPD mit dem Godesberger Programm wurde auch die Kritische Theorie von einer Arbeiter- restlos in eine bürgerliche Instanz verwandelt.
Habermas’ Entwicklung seit den 1970er Jahren ist damit weniger als philosophisch denn als politisch zu begreifen: als Wende von einem kritischen Marxismus zu einem sozialdemokratischen Liberalismus. Dabei bleibt zu betonen, dass der Liberalismus immer schon in Habermas’ Werk eingeschrieben war. Bereits 1958, als der Antikommunist Horkheimer in diesem noch zu viel marxistische »Revolution« und deren Duktus zu erkennen glaubte, ließ sich bei Habermas ein kategorischer Dualismus ausmachen. Er spiegelt ein fundamental liberales Weltbild wider, das eine unsichtbare Wand zwischen »Privatheit« und »Öffentlichkeit«einzieht.
In Habermas’ Jargon heißen diese beiden voneinander zu isolierenden Einheiten »System« und »Lebenswelt«, oder früher, »Arbeit« und »Kommunikation«. Mit dieser Spaltung der Welt möchte Habermas nicht nur die Sache der Öffentlichkeit vor ihrer Privatisierung, sondern auch – klassisch liberal – den Markt und seine Arbeitsteilungen vorm politischen Primat schützen. Habermas markiert damit die liberale Wende der Frankfurter Schule. Jegliche Alternativen zur kapitalistischen Arbeitsteilung, die für ihre vermeintliche »Differenzierung« und »Komplexität« gefeiert wurde, stand von da an unter Totalitarismusverdacht.
Jene Transformation Kritischer Theorie von marxistischer Totalitätsanalyse in linksliberale politische Theorie war für die Linke hierzulande fatal. Bald schon erschien der Poststrukturalismus, der sich von allem Marxismus läutern wollte, als eine letzte Zufluchtsstätte für halbwegs linkes Denken. Dieser Schein jedoch trügte.
Zunächst hatte der Poststrukturalismus nie die Emanzipation im Sinn, da es Emanzipation für ihn ontologisch nicht gibt. Denn wo sollte Emanzipation auch herkommen, wenn es kein Jenseits der Macht, des Diskurses oder der Struktur gibt, sodass Subjektivität und Selbstbestimmung zu bloßen metaphysischen Plattitüden der Moderne erniedrigt werden? »Emanzipation« wurde entsprechend bald zusammen mit dem »Sozialismus« als »große Erzählung« auf den Schrottplatz der Geschichte manövriert.
Hinzu kommt, dass diese Hinwendung zum Poststrukturalismus die Kritische Theorie im Ganzen auf die Theorie Horkheimers und Adornos seit ihrer Rückkehr aus dem Exil nach Frankfurt reduzierte. Jene Reduktion lässt Figuren wie Herbert Marcuse außer Acht, der Anfang der 1950er Jahre nicht nach Frankfurt zurückkehrte, sondern bis zu seinem Tod in den USA verblieb. Von dort aus analysierte und kritisierte er beide Seiten des Kalten Krieges, den Stalinismus des Ostens ebenso wie den Kapitalismus des Westens. Das tat er, um am ursprünglichen Ziel Kritischer Theorie umso unbeirrter festhalten zu können.
Was einst von Horkheimer bis Erich Fromm geteilt worden war, bildete so weiter Marcuses Horizont: die Aufhebung der Philosophie in etwas, das man demokratischen Kommunismus nennen könnte. Damit war das anzustrebende Ziel nicht nur, die Produktivkräfte zu verstaatlichen, wie es teils schon in der Sowjetunion geschehen war, sondern diese Verstaatlichung von oben in eine Vergesellschaftung von unten zu verwandeln. Erst, wenn eine substanzielle Demokratisierung der Gesamtgesellschaft, inklusive der Wirtschaft, realisiert wäre, könnten neben Ausbeutung und Kommodifizierung auch Verdinglichung und Entfremdung endlich aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit verschwinden.
Wegen dieses Festhaltens am Ziel der einstigen Zeitschrift für Sozialforschung konnte Marcuse nach dem Krieg nicht ins Institut für Sozialforschung zurückkehren. Insofern ist es nur folgerichtig, dass er aus dem engen Kreis der Frankfurter Schule mehr oder weniger bis heute exkommuniziert bleibt. Trotzdem ist Marcuse jener Kritische Theoretiker, der Horkheimers ursprüngliches marxistisch-ideologiekritisches Programm am konsequentesten in die nächsten Generationen gerettet hat. In dieser Linie müssten neben dem offiziellen Habermas und seinem Gefolge zur zweiten Generation der Kritischen Theorie auch antiautoritäre Marxistinnen und Marxisten gezählt werden, wie etwa Hans-Jürgen Krahl, Oskar Negt, Angela Davis oder viele weitere 68er. In dritter daran anschließender Generation wären zudem Fredric Jameson oder Gillian Rose zu nennen. Diese durchgängig englischsprachigen Intellektuellen konnten an Adornos Marxismus im Windschatten Marcuses festhalten.
Aus dieser Perspektive betrachtet ergäbe sich nun ein Spalt zwischen Kritischer Theorie und Frankfurter Schule: Letztere bezeichnet dann den geographischen wie intellektuellen Standort einer Legitimationsinstanz der kapitalistischen Bundesrepublik, während erstere einen ideologiekritischen Marxismus meinte.
Diese Differenzierung erklärt auch, warum die Frankfurter Schule beziehungsweise die Kritische Theorie innerhalb der Linken so unterschiedlichen Lagern zugerechnet werden. Zwar mag die Frankfurter Schule mit ihrer geschlossen defätistischen Haltung (Horkheimer), mit ihrer Apologie der kapitalistischen Moderne (Habermas) und mit ihrer Verschiebung von Verteilungs- auf Anerkennungsfragen (Honneth) der heute tätigen Linken wenig zu bieten haben. Anders jedoch ist es bestellt um die Kritische Theorie. Sie errang eine Analyse, die vermeintlich disparate gesellschaftliche Erscheinungen zusammendenkt. Sie errang solches Zusammendenken jedoch totalitätsanalytisch und damit ohne den Wald des Kapitalismus vor lauter Bäumen der Diskriminierung aus den Augen zu verlieren. Um aus den Fallen einer sektiererischen statt solidarischen linken Politik zu finden, wäre solche Kritische Theorie somit die beste Adresse.
Deshalb sei an dieser Stelle erneut daran erinnert, dass in diesem Jahr nicht nur das Institut für Sozialforschung hundert Jahre alt wird. Dasselbe Jubiläum ist zu feiern für die erste marxistische Arbeitswoche, während der zwei Klassiker des kritischen Marxismus in Anwesenheit ihrer beiden Autoren diskutiert wurden: Lukács und Korsch. Erst zusammen bilden sie das Fundament Kritischer Theorie. Nutzen wir also die Jubiläen 2023 zur Aktualisierung kritischer marxistischer Theorie, statt die Kritische Theorie weiter unter einer liberalisierten Frankfurter Schule begraben zu lassen.
Lukas Meisner promovierte zur kritischen Theorie und lehrt z.Z. u.a. an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Kürzliche Buchpublikation: Medienkritik ist links. Warum wir eine medienkritische Linke brauchen (Eulenspiegel Verlag, 2023).