19. Juli 2023
Wie können wir frei sein in einer Welt unfreiwilliger Freiheiten und verbotener Verbote?
»Jede Figuration von Freiheit ist in sich plural und inkonsistent.«
Illustration: Andy KingIch muss oft daran denken, wie mich mein jüngerer Sohn vor vielen Jahren einmal aufzog. Wir saßen zusammen beim Mittagessen. Als ich ihn fragte, ob er mir das Salz reichen könne, das an seinem Ende des Tisches stand, antwortete er mir: »Natürlich kann ich das«, und tat – nichts. Als ich ihn daraufhin noch einmal um das Salz bat, erwiderte er grinsend: »Du hast mich gefragt, ob ich es tun kann, und ich habe dir geantwortet – du hast aber nicht gesagt, dass ich es auch wirklich tun soll!«
Wer hat sich in dieser Situation freier verhalten, ich oder mein Sohn? Wenn wir Freiheit als Entscheidungsfreiheit verstehen, dann war es wohl mein Sohn: Denn die Entscheidung darüber, wie er meine Frage verstehen wollte – wörtlich (bin ich dazu in der Lage?) oder im gebräuchlichen, übertragenen Sinn (als Bitte, die aus Höflichkeitsgründen als Frage formuliert wird) –, lag bei ihm. Ich habe diese Entscheidungsfreiheit geleugnet und mich automatisch auf die alltägliche Bedeutung verlassen. Stellen wir uns einmal vor, die Mehrheit der Menschen würde immer so agieren wie mein Sohn: Wir wüssten nie genau, was unser Gegenüber sagen will, und würden mit müßigen Interpretationen wahnsinnig viel Zeit verlieren.
Aber konfrontiert uns die politische Entwicklung der letzten Jahrzehnte nicht mit einer ganz ähnlichen Situation? Donald Trump und andere Rechtspopulisten verstoßen zwar nicht explizit gegen das Gesetz, aber sie ignorieren die ungeschriebenen Regeln und Gepflogenheiten. Im US-amerikanischen Rechtssystem ist eine bemerkenswerte Sondermaßnahme festgeschrieben: Der Kongress eines Bundesstaates kann direkt Wahlmänner ernennen, wenn das Wahlergebnis im betreffenden Bundesstaat nicht eindeutig ausfällt. Die Republikaner interpretieren das so, dass ein von ihnen kontrollierter Kongress einfach Wahlmänner ernennen kann, die zu ihren Gunsten abstimmen werden, wenn sie mit einem Wahlergebnis nicht zufrieden sind.
Die Demokratie setzt jedoch voraus, dass alle politischen Akteure die gleiche Sprache sprechen – dass sie zum Beispiel die Regeln einer Wahl ähnlich auslegen und ein Wahlergebnis auch dann akzeptieren, wenn es zu ihrem Nachteil ist. Ist das nicht der Fall, dann sind wir von bürgerkriegsähnlichen Zuständen nicht weit entfernt.
Aber ganz so einfach ist es auch wieder nicht: Wir können auch dieselbe Sprache sprechen, sie aber auf je eigene Weise verstehen. Das Finale des ersten Aktes von Mozarts Don Giovanni beginnt mit folgendem, eindringlichen Appell des Protagonisten an alle Anwesenden: »Viva la liberta!« – Es lebe die Freiheit! Sie alle wiederholen den Ausruf mit Nachdruck, wobei sie den melodischen Fluss unterbrechen, als wäre die Musik in diesem Moment überschwänglichen Einsatzes steckengeblieben. Der Haken an der Sache ist natürlich: Auch wenn alle dort Versammelten in ihrem enthusiastischen Ruf nach Freiheit vereint sind, projiziert jede Untergruppe ihre eigenen Träume und Hoffnungen in die »liberta«. Um Étienne Balibar zu zitieren: »Soziabilität ist die Einheit einer realen Übereinstimmung und einer imaginären Ambivalenz, die beide reale Effekte haben.«
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Slavoj Žižek, ein Enfant Terrible der Philosophie, ist Autor von mehr als dreißig Büchern und gilt als »der Elvis der Kulturtheorie« und »der gefährlichste Philosoph in der westlichen Welt«.