19. Januar 2022
In den 1990er und 2000er Jahren legten Technokraten die politische Auseinandersetzung lahm. Heute ist die Gesellschaft wieder extrem politisiert – aber kaum politisch organisiert.
In der Ära der Hyper-Politik ist alles politisch – doch die Institutionen der Massenpolitik sind nicht erstarkt.
In ihrer Autobiografie Die Jahre zeichnet die französische Schriftstellerin Annie Ernaux ein Panorama der Mitte der 1990er Jahre: »Eine politische Endzeitstimmung breitete sich aus. Eine ›neue Weltordnung‹ wurde ausgerufen. Das Ende der Geschichte sei nahe … Das Wort ›Kampf‹ wurde als Überbleibsel des Marxismus entsorgt, den niemand mehr ernst nahm, und mit ›Widerstand‹ war nur noch der Widerstand der Verbraucher gemeint.«
Das Buch wurde erstmals 2008 veröffentlicht, kurz vor der Pleite der Lehman Brothers. Ernaux beschreibt darin eine Welt, in der sich die Menschen in die Sphäre des Privaten zurückgezogen haben, in der Politik in den Hintergrund gedrängt worden ist und in der Technokraten das Kommando übernommen haben. Dieser Zustand spiegelt sich beispielsweise in Aussagen wie Tony Blairs Behauptung, der Widerstand gegen die Globalisierung sei in etwa so vergeblich wie ein Kampf gegen den Wandel der Jahreszeiten. »Wir wussten nicht so recht, was uns eigentlich am stärksten zermürbte«, erinnert sich Ernaux an diese Zeit, »die Medien und ihre Meinungsumfragen, wem man noch trauen könne, ihre herablassenden Kommentare, die Politiker mit ihren Versprechen, Arbeitslosigkeit zu bekämpfen und das Loch im Sozialhaushalt zu stopfen oder die Rolltreppe im RER-Bahnhof, die immer außer Betrieb war«.
Jetzt liegt ein Jahrzehnt populistischer Umbrüche hinter uns und Ernauxs Beschreibung liest sich gleichermaßen vertraut wie ungewohnt. Denn die von ihr konstatierte rasante Individualisierung und der Niedergang kollektiver Institutionen sind weiter vorangeschritten. Abgesehen von wenigen Ausnahmen haben die politischen Parteien ihre Mitglieder nicht zurückgewonnen. Die Mitgliederzahlen in den Vereinen sind nicht gestiegen. Den Kirchen ist es nicht gelungen, die Kirchenbänke wieder zu füllen, auch die Gewerkschaften sind nicht sprunghaft gewachsen. Die Zivilgesellschaft überall auf der Welt steckt noch immer in einer tiefen Krise.
Und doch beschreibt die Mischung aus Zurückhaltung und Apathie, die für Ernaux so symptomatisch für die 1990er Jahre war, heute kaum noch unsere Realität. Biden wurde mit einer ungewöhnlich hohen Wahlbeteiligung zum Präsidenten gewählt; das Brexit-Referendum war die größte demokratische Abstimmung in der Geschichte Großbritanniens. Die Black-Lives-Matter-Proteste waren ein Massenereignis; viele der größten Unternehmen der Welt starteten Marketingkampagnen unter deren Deckmantel sie vorgaben, das Anliegen der Proteste zu teilen.
Eine neue Form von »Politik« ist entstanden. Sie ist auf dem Fußballplatz präsent, in populären Netflix-Sendungen und der Selbstbeschreibung von Menschen in den sozialen Medien. Rechte reagieren darauf mit der Behauptung, die Gesellschaft würde von einer permanenten Dreyfus-Affäre überrollt, die bei Familienfeiern, Kneipenabenden mit Freunden und dem Mittagessen mit Kolleginnen für Konflikte sorge. Viele in der vermeintlichen politischen Mitte sehnen sich zurück in eine Zeit vor dieser Hyper-Politik. Sie schwelgen in nostalgischen Erinnerungen an die Post-Historie der 1990er und 2000er Jahre, als die Politik ausschließlich von Märkten und Technokraten bestimmt wurde.
Diese Reaktionen spiegeln eine reale Veränderung: Die Ära der »Post-Politik« ist ganz eindeutig zu Ende gegangen. Doch an ihre Stelle ist nicht die Politik des 20. Jahrhunderts getreten – mit einem Wiederaufleben der Massenparteien, der Gewerkschaften oder einer kämpferischen Arbeiterbewegung. Es scheint fast so, als sei dieser Schritt übersprungen worden. In der Zeit des Finanzcrashs konnte nichts, nicht einmal die Austeritätspolitik, die auf den Crash folgte, als politisch bezeichnet werden. Heute dagegen gilt: Alles ist politisch. Und obwohl viele Menschen stark politisiert sind, sind nur sehr wenige von ihnen in organisierte Interessenkonflikte eingebunden, die wir vielleicht als typisch für das 20. Jahrhundert bezeichnen könnten.
Um den Umbruch von der »Post-Politik« zur »Hyper-Politik« zu verstehen, sollten wir einen Blick auf das politische Zwischenstadium werfen, das wir gerade verlassen. In den Jahren nach 2008 begann die politische Eiszeit, die auf den Fall der Berliner Mauer gefolgt war, allmählich zu tauen.
Überall im Westen – von Occupy in den USA über 15-M in Spanien bis hin zum Kampf gegen die Austeritätspolitik in Großbritannien – entstanden Bewegungen, die das Schreckgespenst widerstreitender Interessen wieder aufleben ließen. Sie bewegten sich jedoch nicht innerhalb der formalen Strukturen der Politik und bisweilen wurde ihre Rhetorik, die »weder rechts noch links« stehe, als »anti-politisch« bezeichnet. Nichtsdestoweniger markierten sie das Ende einer Zeit, in der es so schien, als sei sich die Gesellschaft darin einig, dass Interessengegensätze eine Sache der Vergangenheit seien.
Doch all diese Bewegungen hatten mit denselben, bereits bekannten Defiziten zu kämpfen. Insbesondere fetischisierten sie den für die Ära der Alter-Globalisierung typischen Horizontalismus. Auch nach dem Finanzcrash blieb er weiter vorherrschend und führte zu wenig effektiven Ansätzen zur Entscheidungsfindung, für die Aufstellung von Vertreterinnen oder die Erarbeitung von Programmen. Zeitweise erinnerte das gesamte Bewegungsmilieu an die 1960er Jahre und damit die Art von Bewegungen, die Jo Freeman in ihrem ikonischen, ebenfalls in den 1960er Jahren erschienenen Pamphlet Tyranny of Structurelessness (dt. Die Tyrannei in strukturlosen Gruppen) kritisierte. Der Wandel von den Bewegungen zu den Bewegungsparteien war ein Versuch, diese Probleme zu überwinden – aber tatsächlich verschleppte man sie häufig nur. Selbst als diese neuen Gruppierungen die Mitte-links-Kräfte zwangen, sich anzupassen und zu verändern, verkannten sie die Bedeutsamkeit der Mitgliederdemokratie, die ihre sozialdemokratischen Vorgänger gestützt hatte.
In ihrem Roman erwähnt Ernaux an anderer Stelle den Parteisitz der Sozialistischen Partei, die sie 1981 wählte. Die französischen Sozialisten zogen 1980 unter Präsident François Mitterrand dort ein, der mit einer Koalition aus Kommunisten und Sozialisten radikale soziale Reformen durchzusetzen hoffte. Nachdem die Sozialisten bei den Präsidentschaftswahlen 2017 auf dem fünften Platz gelandet waren, beschloss der Parteikader, das Gebäude einem Notar zu überlassen. Die vielgerühmte Bastion linker Politik im 20. Jahrhundert stand zum Verkauf.
Seither sind eigenartige neue Formationen an die Stelle der Massenorganisationen des 20. Jahrhunderts getreten. Von La France Insoumise und Podemos auf der Linken bis zu Macrons La République en Marche in der Mitte und Italiens Fünf-Sterne-Bewegung auf der Rechten versprachen zahlreiche sogenannte digitale Parteien weniger Bürokratie, mehr Partizipation und neue Formen der hierarchiefreien Politik. In Wirklichkeit verschafften sie vor allem den Persönlichkeiten, um die diese Projekte aufgebaut worden waren, geballte Macht.
Die Brexit-Partei in Großbritannien war da zumindest ehrlicher. Sie etablierte sich vor der Wahl 2019 als Unternehmen und blieb nur eine ernstzunehmende Kraft, insofern sich die Partei als förderlich für die Karriere von Nigel Farage erwies. Alle diese neuen Organisationen hatten zwar Gesellschaftsschichten politisiert, aber keine von ihnen brachte ihre Anhängerschaft dazu, sich im klassischen Sinne politisch zu engagieren.
Wahlopportunismus ist sicherlich ein Teil der treibenden Kraft hinter diesem neuen Bewegungsfetisch. Bei den meisten europäischen Parteien findet die jüngste Umstellung auf das Bewegungsmodell vor dem Hintergrund eines doppelten Wandels statt: zum einen ist die Zahl der Parteimitglieder langfristig zurückgegangen und zum anderen wird ihre Wählerschaft kontinuierlich kleiner. Belgien bietet ein anschauliches Beispiel für diesen Trend. Die flämischen Christdemokraten zählten 1990 noch beeindruckende 130.000 Mitglieder, heute sind es nur noch 43.000. Im gleichen Zeitraum sank die Anzahl der Mitglieder bei den Sozialisten von 90.000 auf 10.000. Die deutsche SPD zählte im Jahr 1986 noch 1 Million Mitglieder, im Jahr 2019 waren es nur noch etwas mehr als 400.000. Und die Sozialdemokraten in den Niederlanden schrumpften von ehemals 103.760 auf 41.000 Mitglieder. Fast überall vollzog sich eine ähnliche Entwicklung: Die ehemalige Massenpartei fristet ein Dasein als eine Art Policy-Lieferant (in den Politikwissenschaften bezeichnet man das als »Output-Faktor« der Demokratie), während sie im Inneren von PR-Spezialisten und Funktionärinnen zersetzt wird.
Großbritannien stellt in gewisser Weise eine Ausnahme von dieser Regel dar. Unter der Führung von Jeremy Corbyn wuchs die Zahl der Mitglieder der Labour-Partei exponentiell, von knapp über 150.000 auf zeitweise fast 600.000. Zudem handelte es sich dabei nicht nur um eine Anhängerschaft, sondern um Mitglieder, die über eine Reihe von Verfassungs- und Stimmrechten verfügten: Selbst diejenigen, die sich nicht regelmäßig engagierten, konnten in unregelmäßigen Abständen zu Wahlkreistreffen erscheinen und in einem erheblichen Maß mitbestimmen, wer die Partei öffentlich vertreten sollte. Es überrascht nicht, dass sich die von Keir Starmer eingeleitete Gegenoffensive innerhalb der Partei vor allem auf die Entmachtung der Mitglieder der Labour Party und die Beschneidung ihrer Befugnisse konzentriert: Um die Partei zu einem Vehikel der Berufspolitik umzuwandeln, müssen die Mitglieder entmachtet, zum Austritt ermutigt oder ganz ausgeschlossen werden. Und mit über 150.000 bereits erfolgten Austritten ist dieser Prozess in vollem Gange.
All das sind bittere Lehren für linke Populistinnen und Populisten. Während die meisten linken Projekte der letzten Jahre (von Syriza bis Podemos und La France Insoumise) neue Organisationsformen erprobten, war der Corbynismus der wahrscheinlich letzte Versuch, die Arbeiterparteien von einst wiederzubeleben, die von Politikern und Bürgerinnen heute gleichermaßen als zu träge wahrgenommen werden. Die Parteimitglieder von gestern können sich heute leicht gegen eine langfristige Mitgliedschaft entscheiden und die Politikerinnen und Politiker stoßen auf ihren Parteitagen so auf immer weniger Widerstand.
Der Vorsitzende der belgischen sozialistischen Partei feierte kürzlich das Aufbruchsklima in der Partei, indem er die frische »Start-up-Atmosphäre« in seiner Partei begrüßte und seine Followerzahlen auf Instagram präsentierte. Parteien stellen nun regelmäßig »Social Media Managerinnen- und manager« ein und verbreiten ihre Botschaften über Influencer. Macron empfing kürzlich etwa zwei YouTube-Vlogger in seinem Präsidentenpalast. Letztlich zeigt sich in den neuen digitalen Parteien und den Bewegungen, aus denen sie hervorgingen, keine Ablehnung der postindustriellen Wirtschaft, sie sind vielmehr deren Ausdruck – hochgradig informell und temporär organisiert, ohne langfristige Verträge, um flüchtige Start-ups und Projekte herum organisiert.
Bürgerinnen und Bürger, die sich von einem befristeten Arbeitsverhältnis zum nächsten hangeln, können an ihrem Arbeitsplatz kaum dauerhafte Beziehungen aufzubauen. Stattdessen bieten die kleineren, privaten Kreise um Familie und Freunde oder auch das Internet eine zuverlässigere soziale Umgebung. Es gibt zwei Pole, die die konkreteste und die abstrakteste Form von Solidarität verkörpern: die Familie als eine Art Versicherung und das Internet als ein völlig freiwilliger Zusammenschluss.
Dieser Voluntarismus spiegelt sich auch in der anhaltenden Proteststimmung wider, die in der heutigen Politik so verbreitet ist. Oberflächlich betrachtet lässt sich zwischen den Protesten von Black Lives Matter, QAnon oder den Unruhen vom 6. Januar in Washington D.C. kaum eine Gemeinsamkeit ausmachen. Und sicherlich liegen moralisch betrachtet Welten zwischen ihnen. Die eine Bewegung protestiert gegen Polizeibrutalität und Rassismus, die andere Gruppe gegen einen fingierten Wahlbetrug und eine vermeintliche Verschwörung. Organisatorisch ähneln sich die Bewegungen jedoch: Sie haben keine Mitgliederlisten, es gibt kaum Möglichkeiten, die Mitglieder zu disziplinieren und sie haben keine formalisierte Form.
Der Soziologe Paulo Gerbaudo beschreibt die neuen Protestbewegungen als Körper ohne Organe: voller geballter Kraft, aber ohne echten inneren Stoffwechsel. Es ist kaum überraschend, dass eine solche fließende Form des Autoritarismus mit der heutigen Dienstleistungswirtschaft harmoniert. Im Zeitalter häufig wechselnder Beschäftigungen und zunehmender Selbstständigkeit entstehen wenige lange und dauerhafte Bindungen innerhalb von Organisationen. An ihre Stelle tritt eine merkwürdige Kombination aus Horizontalität und Hierarchie, mit Führungsfiguren, die eine lose Gruppe von Anhängerinnen und Anhängern leiten, ohne sich jemals einem klaren Parteirahmen zu unterwerfen.
Diese Fokussierung auf die Führungsfiguren einer Bewegung wird bereits in Werken wie Elias Canettis Masse und Macht, ursprünglich 1938 im Wien der Zwischenkriegszeit veröffentlicht, beschrieben. Canetti verfasste den Klassiker in Reaktion auf die großen Arbeiteraufstände der 1930er Jahre. Die Arbeiterbewegung der Zwischenkriegszeit provozierte eine aggressive Gegenreaktion der Rechten, und so standen sich in dieser Zeit letztlich zwei organisierte Massenbewegungen gegenüber. Statt einer mobilen »Masse« haben die heutigen QAnon-Truppen und Anti-Lockdown-Proteste eher die Form von »Schwärmen«. Sie stellen eine Gruppe dar, die auf kurze und starke Reize reagiert, angetrieben von charismatischen Einflussnehmenden und digitalen Demagogen. Jeder kann einer Facebook-Gruppe beitreten, die mit QAnon sympathisiert; wie bei allen Online-Medien ist der Preis für die Mitgliedschaft sehr niedrig und die Kosten für den Austritt noch niedriger.
Die politischen Führungsfiguren können natürlich versuchen, diese Schwärme zu choreografieren – mit Tweets, Fernsehauftritten oder mutmaßlich russischen Bots. Aber aus dieser Choreografie entsteht noch keine dauerhafte Organisierung. Das ist eine entscheidende, aber auch fragile Abkehr von der Parteiendemokratie auf Massenbasis. Während die Parteien der Nachkriegszeit über ein festes Team von Mittelfeldspielern und Verteidigerinnen verfügten, sind die neuen populistischen Parteien hauptsächlich um ihre Stars herum aufgebaut. Und wie Gerbaudo schon betonte, sind die heutigen populistischen Führungsfiguren absolute Medienprofis.
Die wirkliche Lehre aus der »postpolitischen« Ära besteht darin, dass die Politik wieder in den öffentlichen Raum zurückgeführt werden muss. Ohne die Wiederentstehung von Massenorganisationen kann dies nur auf einer diskursiven Ebene oder im Prisma der Medienpolitik geschehen: Jedes Großereignis wird auf seinen ideologischen Charakter hin untersucht, was zu Kontroversen führt, die sich zwischen immer stärker voneinander abgegrenzten Lagern auf Social-Media-Plattformen entspinnen und dann von den bevorzugten Medien der jeweiligen Seite aufgegriffen werden. Über diesen Mechanismus wird viel kommuniziert, aber wenig erreicht.
Die aktuelle Periode lässt sich in vielerlei Hinsicht als ein Übergang von der »Post-« zur »Hyper-Politik« oder als Wiedereinzug der Politik in die Gesellschaft beschreiben. Die »Hyper-Politik« zeichnet sich jedoch auch durch ihren spezifischen Fokus auf zwischenmenschliche und persönliche Gepflogenheiten aus. Das drückt sich vor allem in Moralismus aus und in der Unfähigkeit, die Dimensionen kollektiver Kämpfe zu durchdenken. Die »Hyper-Politik« tritt an die Stelle der »Post-Politik«, aber eben nicht in den Politik-Formen, die uns aus dem 20. Jahrhundert vertraut sind. Sie ist die Form, die der politische Konflikt annimmt, wenn es keine Massenpolitik mehr gibt. Die Frage, was die Menschen besitzen und kontrollieren, wird dabei zunehmend durch die Frage ersetzt, wer oder was die Menschen sind, und der Kampf der Klassen wird durch die Gegenüberstellung von Identitäten ersetzt.
So geht die Ära der Post-Politik eindeutig zu Ende. Das Gerücht vom Tod der Politik, das Ernaux 2008 beschrieb, hat sich nicht gehalten, und die neue Form der »Hyper-Politik« bietet nur eine schwache Alternative zu der Politik des 20. Jahrhunderts. Ernaux muss das wohl gewusst haben: Am Ende ihres Buches ruft sie die Leserinnen und Leser dazu auf, »etwas aus der Zeit zu retten, die nie wieder sein wird«.