13. Juni 2021
Die Horrorfilmnächte meiner Kindheit sind immer noch leichter zu verkraften als die Missachtung der Linken für die Armen.
ILLUSTRATION Marie Schwab
Als kleiner Junge durfte ich Horrorfilme sehen. Wenn meine Mutter nicht zu Hause war, holte mein Vater meinen Bruder und mich aus dem Bett, und dann lehrten uns Stephen-King-Verfilmungen vor dem Fernseher das Fürchten. Der Clown in Es, die Untoten aus Friedhof der Kuscheltiere oder die Geisteskranke in Misery ängstigten mich, wie sie wohl jedes Kind ängstigen würden. Wie kann ein Vater so etwas tun? Das war die Frage, die sich mir immer stärker aufdrängte, je älter ich wurde. Als Sohn eines Möbelpackers und einer Hausfrau entstamme ich einem Milieu, über das sich die Leute gemeinhin ihren Teil denken. Mich trugen verschiedene Umstände bis zu einem Universitätsabschluss; und je mehr studierte Menschen aus studierten Elternhäusern mein soziales Umfeld bevölkerten, umso häufiger dachte ich an die Gruselfilmnächte.
Es ging mir nicht in den Kopf, warum dieser Mann in Kauf nahm, seine Kinder zu traumatisieren. Nach dem Abspann eines jeden dieser Filme schlief ich schlecht oder gar nicht. Jahrelang musste meine Mutter allabendlich unter dem Bett nachsehen, den Schrank durchsuchen und die Schlafstubentür offen stehen lassen. Mir fiel aber auch immer wieder ein, wie ich gegenüber meinen Schulfreunden in mannhafter Pose mit Horrorfilmwissen prahlte und mich dafür bewundern ließ, Szenen ausgehalten zu haben, die sie frühestens im späten Jugendalter würden ertragen können. Irgendwann, es ist erst ein paar Jahre her, kam mir dann ein unerhörter Gedanke: Was, wenn mein Vater sich in diesen Stunden von seiner besten Seite zeigte? Waren die Flimmerkistengräuel letztlich nichts anderes als – Liebesbeweise?
Mein Vater war ein Mensch, der in Vollzeit schuftete und unter dem viel zu geringen Lohn litt – denn seinen Kindern konnte er darum nichts bieten. Das hielt ihn im Alkoholismus, und es trieb ihn oft in die Gewalt; doch ebenso war er zu einer Herzenswärme fähig, die sich erst auf den zweiten Blick als solche herausstellte. Wem aus materiellen Gründen die Möglichkeit verwehrt bleibt, dem Sohn ein Musikinstrument samt Unterrichtsstunden oder der Tochter eine Skifreizeit in den Alpen inklusive Sportausrüstung zu schenken, der muss sich mit dem Alltagsglück begnügen. Das kann dann in einem Stephen-King-Filmabend für Kinder bestehen, der aus bildungsbürgerlicher Sicht nichts Gutes an sich hat. Aus der Perspektive »von unten« sieht selbst das scheinbar eindeutig Verwerfliche ganz anders aus. Diesen Blickwinkel öfter einzunehmen, täte in diesen Zeiten vor allem dem Teil der gesellschaftlichen Linken gut, der die Diskurse bestimmt.
In den Debatten der Gegenwart geht es wild durcheinander zwischen Identitäts- und Klassenpolitik, zwischen »einfachen Leuten« und »Lifestyle-Linken«, zwischen linker Häme für Kritikerinnen und Kritiker der herrschenden Pandemiepolitik und einem bürgerlichen Streit um den Klassismus-Begriff. Es gibt zumindest eine Partei in Deutschland, die Menschen in der Klassenlage meines Vaters ein attraktives Politikangebot unterbreitet. Hätte die Linkspartei das alleinige Sagen im Land, dann wären Mindestlohn und Renten armutsfest, es würde von oben nach unten umverteilt, und überhaupt wäre das gute Leben nicht mehr ein Privileg der Bessergestellten. SPD und Grüne wiederum, die vor knapp zwanzig Jahren als Regierungsparteien einen grausamen Sozialabbau vorantrieben, arbeiten ihre jüngere Vergangenheit auf. Sie sind inzwischen sogar bereit, einige Schandtaten der Agenda 2010 zurückzunehmen. Allein, was bringt es ihnen?
Du hast ein Abo, aber hast dich noch nicht registriert oder dein Passwort vergessen?
Klicke hier!