11. März 2022
Die Waffenlobby freut sich über das geplante 100-Milliarden-Euro-Rüstungsprogramm der Bundesregierung. Doch es formiert sich linker Widerstand, auch von den Gewerkschaften.
Aktienkurse von Waffenunternehmen wie Rheinmetall steigen nach der Ankündigung zur Aufrüstung.
Was für eine »Zeitenwende«: Kanzler Olaf Scholz nutzte den Schock über den Angriffskrieg gegen die Ukraine, um bisherige Grundsätze der deutschen Sicherheitspolitik vom Tisch zu wischen und zugleich das größte Aufrüstungsprogramm seit Gründung der Bundeswehr 1955 zu verkünden. Mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sollen in die Verteidigung investiert werden. Bei einer Wirtschaftsleistung von 3,57 Billionen Euro sind das über 71,4 Milliarden Euro – knapp 25 Milliarden mehr als im vergangenen Jahr.
Mit der Neujustierung der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik erfolgt der größte Militarisierungsschub seit dem Ende des Kalten Krieges. In den zurückliegenden Jahren hatte sich die Ukraine-Krise bereits als Segen für den Rüstungshaushalt erwiesen, der zwischen 2014 und 2021 um über 14 Milliarden angestiegen ist.
Die Ampelkoalition will noch im aktuellen Bundeshaushalt das »Sondervermögen« von 100 Milliarden Euro bereitstellen. Ziel sei eine leistungsfähige, hochmoderne Bundeswehr, »die uns zuverlässig schützt«. Scholz nannte einige Vorhaben: Die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern werde insbesondere gemeinsam mit Frankreich gebaut. Projekte wie die »Eurodrohne« bekommen höchste Priorität. Bis diese fliegt, sollen bewaffnete Drohnen aus Israel angeliefert werden. Für die »nukleare Teilhabe« werde man »rechtzeitig einen modernen Ersatz für die veralteten Tornadojets beschaffen«.
Scholz, Habeck und Lindner nutzen die Gunst der Stunde, um gigantische Summen aus dem Steueraufkommen in die Rüstungsindustrie umzuleiten. Damit entziehen sie der Gesellschaft enorme Mittel, die dringend für die ökologische Transformation, Bildung, Gesundheit, Infrastruktur und den Ausbau des Sozialstaats benötigt werden. Ergänzt wird der Militarisierungsplan durch Forderungen, die Wehr- oder eine allgemeine Dienstpflicht wiedereinzuführen.
Der einhellige Applaus, den Scholz für seinen Coup erntete, lässt an den 4. August 1914 denken, an dem im Reichstag geschlossen für die »Kriegskredite« gestimmt wurde. CDU-Fraktionschef Friedrich Merz, der spontan eine »große Rüstungskoalition« anbot, ätzte im Parlament in Richtung Friedensbewegung: »Lichterketten, Friedensgebete, Ostermärsche sind eine schöne Sache. Aber mit Moral allein wird die Welt um uns herum nicht friedlich«. Wer auch der NATO eine Teilschuld an der Eskalation gibt, mache sich zum Werkzeug von Putins Propaganda, so der Tenor des CDU-Chefs.
Auch Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) sieht »dringendsten Handlungsbedarf«. Schützenhilfe leisten dabei Lobbyistinnen und Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes, die in Talkshows hysterisch betonen, die Bundeswehr sei nach dem Kalten Krieg kaputt gespart worden. Bedeutende Teile der Verteidigungsausrüstung, darunter Kampfflugzeuge, Panzer und U-Boote seien aufgrund von Reparaturen und Problemen bei der Ersatzteilbeschaffung nicht einsatzfähig. Der Inspekteur des deutschen Heeres, Generalleutnant Alfons Mais, klagte am Tag der Invasion Russlands, die Bundeswehr stehe »mehr oder weniger blank« da. Der Vorsitzende des Bundeswehrverbands, André Wüstner, legte im ZDF nach: »Wir haben im Bereich Munition, Fahrzeuge, Schiffe, Flugzeuge, Ersatzteile massive Probleme.« Finanzminister Lindner pflichtet ihnen bei und bekräftigt: »Sinkende Verteidigungsausgaben, die passen nicht mehr in die Zeit.«
Alarmierende Meldungen über den »desolaten« Zustand der Bundeswehr überschlugen sich schon 2014 am Beginn der Ukraine-Krise. Kaum ein Tag verging, an dem nicht das »Schrott-Chaos« beschworen wurde: Die Hälfte aller Kampf- und Transportflugzeuge müsse wegen technischer Mängel am Boden bleiben und von den Marinehubschraubern sei so gut wie keiner mehr einsatzbereit. Eine bedrohliche Katastrophe wurde herbeigeredet: Die wirtschaftlich stärkste Kraft in der Europäischen Union unterhält eine Armee, die weder fahren, noch fliegen noch schwimmen kann. Dieser von militärisch-industriellen Interessengruppen geschürten Legende muss entschieden entgegengetreten werden.
Die Ankündigung einer großen nationalen »Kraftanstrengung« löste in den Chefetagen der bundesdeutschen Waffenkonzerne eine Goldgräberstimmung aus. Die Rüstungsindustrie gehört zu den Gewinnern des Krieges in der Ukraine. Nach Scholz’ Regierungserklärung stiegen die Rüstungsaktien zeitweise um bis zu 85 Prozent.
Medienberichten zufolge hat die Bundesregierung bereits erste Schritte eingeleitet, um die Vergabe neuer Rüstungsaufträge in die Wege zu leiten. So lud das Verteidigungsministerium umgehend Manager der wichtigsten Rüstungsfirmen zu einem Dringlichkeitstreffen ein. Im Gespräch sind unter anderem die Anschaffung neuer Militärhubschrauber bei Airbus, neuer Kriegsschiffe bei ThyssenKrupp Marine Systems (TKMS) und neuer Radarsysteme bei Hensoldt.
Rheinmetall, dessen Aktienkurs nach Scholz’ Rede um 40 Prozent stieg, präsentierte mit dem »Lynx 120« jüngst einen neuen Schützenpanzer. Mit diesem Modell wolle man auf die Bedrohung durch »hochtechnologische Kampfsysteme« reagieren. Herkömmliche Lösungen und Konzepte hätten »ihr Leistungsmaximum erreicht«, prophezeit der Konzern. Der hochtechnologische Gegner, der hier gemeint ist, wird wohl vor allem der neue russische Panzer T-14 Armata sein. Laut Rheinmetall-Vorstandschef Armin Papperger könne man die Produktion von Munition für Panzer in kürzester Zeit versechsfachen und 3.000 neue Arbeitsplätze schaffen. Mittelfristig sehe man in Deutschland ein jährliches Potenzial von bis zu 2 Milliarden Euro an zusätzlichem Umsatz, ließ der Düsseldorfer Rüstungskonzern verlauten.
Ein weiterer Kriegsgewinner ist die Unternehmensgruppe Hensoldt, die auf hochentwickelte Abwehrtechnik spezialisiert ist. »Es ist möglich geworden, was bis vor ein paar Jahren undenkbar war: Mit einem einzigen TwInvis können wir bis zu 200 Flugzeuge in einem Umkreis von 250 km in 3D überwachen«, so CEO Thomas Müller bei der Vorstellung eines neuen Passiv-Radarsystems. Die Aktie steht mit rund 80 Prozent im Plus. Und der Bund verdient mit. Er hält nicht nur Anteile am Luftfahrt- und Rüstungskonzern Airbus, sondern seit dem vergangenen Jahr auch eine Sperrminorität von 25,1 Prozent am Rüstungsunternehmen Hensoldt.
Die Debatte über Rüstungsproduktion versus Rüstungskonversion (also die Umstellung von Rüstungsproduktion auf Zivilproduktion) ist angesichts der sich ausbreitenden weltweiten Krisenherde in den Gewerkschaften neu entfacht worden. Gliederungen der IG Metall bekräftigten die friedenspolitischen Positionen des Gewerkschaftstages: Senkung der Rüstungsausgaben, keine Unterstützung von Kriegen und kriegsähnlichen Handlungen, Konversion von Rüstungsproduktion. Eine dauerhafte, gute Beschäftigung sei langfristig nur mit der schrittweisen Umstellung auf zivile Güter zu bewerkstelligen.
Doch nun ist zu befürchten, dass die »100-Milliarden-Euro-Rüstungsbombe« aus dem Kanzleramt dieser gewerkschaftlichen Debatte den Boden entzieht. Das in Aussicht gestellte Konjunkturprogramm für die Rüstungsbetriebe wird von den Gesamtbetriebsräten der entsprechenden Unternehmen wohl als Arbeitsplatzsicherungsprogramm begrüßt werden. IG Metall-Geschäftsstellen mit Rüstungsbetrieben in ihrem Organisationsbereich sowie IG Metall-Bezirke mit großen Rüstungsclustern werden wohl kaum in die Auseinandersetzung mit den betrieblichen Funktionären gehen, um Forderungen nach der Entwicklung und Produktion von Drohnen, Panzern und Fregatten zum Erhalt von Arbeitsplätzen entgegenzutreten. Konversionsprogramme scheiterten bereits in den 1980er Jahren an Unternehmen und Interessenvertretern, die nicht bereit waren, ihre geschäftliche Ausrichtung zu ändern.
Mittlerweile haben vor allem junge Abgeordnete von SPD und Grünen nach der Schockstarre die Fassung zurückgewonnen – und wollen eine Grundgesetzänderung für die 100-Milliarden-Euro-Aufrüstung nicht einfach durchwinken. Die parlamentarische Linken in der SPD-Bundestagsfraktion hält in einer gemeinsamen Erklärung mit außerparlamentarischen Verbänden fest: »Wir lehnen das von Bundeskanzler Scholz … vorgeschlagene Sondervermögen für Aufrüstung in Höhe von 100 Milliarden Euro und dauerhafte Rüstungsausgaben von über 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ab.« Die Entscheidung sei »ein beispielloser Paradigmenwechsel«, den die Unterzeichnerinnen klar ablehnen. Die Bundeswehr sei nicht von Unterfinanzierung geplagt, sondern von strukturellen Problemen. Stattdessen solle darüber diskutiert werden, wie man den Menschen in der Ukraine schnellstmöglich helfen könne. Auch der ehemalige Ver.di-Vorsitzende und heutige sozialpolitische Sprecher der Grünen im Bundestag, Frank Bsirske, weist darauf hin, dass der Rüstungsetat seit 2015 um mehr als ein Drittel gestiegen ist. »Wenn 50 Milliarden Euro an Rüstungsausgaben zu mehr nicht reichen, muss man zuallererst fragen, was da falsch läuft, nicht aber noch zusätzlich Geld hinterherwerfen.«
Peter Wahl hat Recht, wenn er betont, dass durchaus eine Alternative zu einer weiteren Eskalation besteht, wenn der politische Wille dazu da wäre. Ein »ernst zu nehmendes Angebot zur Neutralität der Ukraine und ein Bekenntnis zum Prinzip der ungeteilten Sicherheit gegenüber Russland« könnte auch jetzt noch den Kurs entscheidend ändern.
Richard Detje ist Mitglied im Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Otto König war Bevollmächtigter und Vorstandsmitglied der IG Metall. Beide Autoren veröffentlichen regelmäßig in der Zeitschrift »Sozialismus«.
Richard Detje ist Mitglied im Vorstand der Rosa Luxemburg Stiftung.
Otto König war Bevollmächtigter und Vorstandsmitglied der IG Metall.