07. Juni 2021
Die Wahl in Sachsen-Anhalt hat gezeigt, dass sich die Rechte im Osten halten kann. Die politische Linke verliert dagegen krachend. Sie verkennt systematisch das Mobilisierungspotenzial im Osten.
Björn Höcke aus Thüringen, Andreas Kalbitz vor seinem Parteiausschluss aus Brandenburg und Jörg Urban aus Sachsen singen 2019 gemeinsam die Nationalhymne.
Man kann das Ergebnis in Sachsen-Anhalt drehen und wenden wie man will: Für die Mitte-Links-Parteien war die Landtagswahl eine herbe Niederlage. Relativ unabhängig davon, welche Art von Koalition sich schließlich bilden wird, ist eine konservative bis rechte Dominanz nicht von der Hand zu weisen. Die CDU hat mit ihrem Wahlsieg alle Trümpfe in der Hand: Sie kann sich aussuchen, ob die sogenannte »Kenia-Koalition« noch weitere fünf Jahre fortgesetzt werden soll, ob sie eine »Deutschlandkoalition« mit FDP und SPD eingehen will oder eine »kleine Koalition« nur mit der SPD. Der befürchtete Handlungsdruck, gegebenenfalls auch eine Koalition mit der zweitstärksten AfD eingehen zu müssen (was bestimmt nicht alle CDU-Abgeordneten so pauschal ablehnen würden, wie der Generalsekretär Paul Ziemiak stets behauptet), ist vorerst abgewendet.
Besonders vorm Erstarken der AfD stehen die Parteien – und nicht zuletzt die LINKE – wie das Kaninchen vor der Schlange. Seit Jahren verfolgt man den Trend einer sich radikalisierenden Rechten im Osten – doch der reflexhafte Antifaschismus ist bislang hohl geblieben: Es wurde keine Alternative zur Alternative ausgebildet, sondern sich insbesondere zum Ende des Wahlkampfs nur noch am »Gegen rechts«-Sein abgearbeitet. Nach der Wahl sind sich einige Sozialdemokraten und Linke nicht zu schade, der CDU nicht nur zu gratulieren, sondern sie auch als demokratisches Bollwerk gegen die AfD zu bezeichnen. Karl Lauterbach etwa machte aus dem Sieg Rainer Haseloffs kurzerhand einen »Sieg für uns alle«. Indem man die Politik auf einen Kampf zwischen Demokraten und Antidemokraten verengt, befeuert man allerdings nur das Außenseiter-Narrativ, das der AfD von Beginn an in die Hände gespielt hat hat. In Sachen »Bollwerk gegen rechts« an einen der rechtesten Landesverbände der CDU zu appellieren, ist außerdem machtpolitisch naiv.
Auch Teile der LINKEN stimmten ein in den Lobgesang auf »die Demokraten«, wenn auch zurückhaltender. Die Spitzenkandidatin Eva von Angern beglückwünschte Haseloff nach der Wahl und freute sich über das vergleichsweise schlechte Ergebnis für die AfD. Der von Umfrageinstituten gepushte Zweikampf habe den kleineren Parteien geschadet. Man wähnt sich auf der Seite der Guten gegen die Bösen, außerdem beruhigt man sich mit dem Glauben aufgrund einer Dynamik verloren zu haben, auf die man keinen Einfluss hatte. Die bittere Wahrheit aber ist, dass man in der Bevölkerung schlichtweg nicht die Erwartung wecken konnte, sozialpolitisch und wirtschaftlich etwas für den Osten bewegen zu können. SPD und LINKEN fehlten das glaubwürdige Spitzenpersonal und das Vertrauen der Bevölkerung, tatsächlich für soziale Gerechtigkeit einzustehen, obwohl soziale Sicherheit sogar ganz oben auf der Liste der Themen stand, die die Menschen bewegt.
Der mittlerweile offiziell aufgelöste, personell und inhaltlich aber natürlich fortbestehende rechtsradikale »Flügel« der AfD im Osten dürfte derweil die Ergebnisse in Sachsen-Anhalt, aber auch die Umfragen in anderen Ost-Bundesländern – insbesondere in Sachsen, wo die AfD laut der jüngsten Umfrage als stärkste Partei rangiert – als Anlass dafür sehen, aus der eigenen Stärke eine neue Strategie zu machen. Beobachter der Partei konstatieren immer wieder Flügelkämpfe auf Parteitagen und machen Mehrheitsverhältnisse an gewählten Kandidaten und abgestimmten Anträgen fest. Das ist formal richtig, lässt aber die Spezifik und relative Macht der Ostverbände außen vor.
Was das Ergebnis in Sachsen-Anhalt vor allem bestätigt, ist nämlich die ost-spezifische Stärke der Rechten. Getragen und vorbereitet wurde diese Entwicklung sicherlich von einer konservativ-stabilisierenden und verhamlosenden CDU – doch der Schwung, den die AfD besitzt, ist auch Folge einer schwachen LINKEN. Schwach insofern, als sie weder »vor Ort« als Kümmerer-Partei noch als soziales Bollwerk, geschweige denn mit einer dezidierten Ost-Politik hätte punkten können. Das mit »Nehmt den Wessis das Kommando« bedruckte Wahlplakat der LINKEN, das vor kurzem für Furore sorgte, war ein solches identitätspolitisches Aufbäumen, allerdings too little too late. So sehr der Groll gegen Wessis in Führungspositionen noch immer mobilisierendes Potenzial haben mag, ist das doch nur die Oberfläche einer tiefsitzenden Skepsis gegen politische Eliten und gesellschaftliche Umbrüche im Allgemeinen. Linke, aber auch Grüne und Sozialdemokraten, sind in den Augen vieler Menschen Teil dieser Elite – egal, ob sie nun Ossis oder Wessis sind. Die Debatte um Ossis in Spitzenpositionen greift also zu kurz.
Zwar stellt die AfD de facto auch ein solches politisches Elitenpersonal, jedoch gelingt es ihr immer noch besser, ihre Heimattümelei und ihren Rassismus zusammen mit einer sozialpolitischen Komponente als bürgernahe Alternative zu inszenieren. Gerade in Bundesländern wie Sachsen oder Sachsen-Anhalt trifft dieser ideologische Kern auf eine organisierte rechte Szene, die sich seit der Wende herausbilden und festsetzen konnte, und speist sich der Parteiapparat auch aus der »Bewegung«. Mit jeder politischen oder ökonomischen Krise – ob nun die Finanzkrise, die sogenannte Migrationskrise oder die Corona-Krise – öffnet sich für die AfD ein Fenster, Ängste, Sehnsüchte und Ressentiments für sich auszunutzen.
Die gesellschaftliche Linke kann nur von Glück reden, dass die AfD während der Pandemie nicht in der Lage war, das diverse und widersprüchliche Querdenker-Milieu ganz aufzusaugen und eine dezidierte Regierungskritik zu formulieren. Die Partei war glücklicherweise zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um mehr politisches Kapital aus dieser Krise zu ziehen – aber darauf kann man sich für die Zukunft nicht verlassen.
Die relative Stärke der AfD im Osten drückt sich nicht in Millionen von Stimmen aus (tatsächlich kommen bundesweit 68 Prozent der Wählerinnen und Wähler der Partei aus dem Westen), sondern in ihrer expliziten Ost-Identität und ihrem Anti-Establishment-Kurs. Als Block wären die Ost-Landesverbände damit zwar nicht in Zahlen besonders stark, doch aber als politische Kraft. Innere Machtkämpfe mögen dies bisher verhindert haben, doch strategisch konsequent wäre durchaus eine Abspaltung der Ost-AfD gegen den weiterhin neoliberalen Kurs der eher westlichen Meuthen-AfD, was einen weiteren Radikalisierungsschub und womöglich die Freisetzung eines gewaltigen Mobilisierungspotenzials ermöglichen könnte – insbesondere dann, wenn der rechte Flügel sich als soziale Bewegung inszeniert, so wie es sich Björn Höcke mit seiner Revolution von rechts schon seit langem für die gesamte AfD wünscht.
Vorbild könnte dabei die Lega Nord von Matteo Salvini sein, deren Separatismus im Norden Italiens den landesweiten Aufstieg des rechten Politikers überhaupt erst ermöglichte. Die Analogie greift nicht unmittelbar – immerhin mobilisierte die Lega im industrialisierten, vergleichsweise reichen Norden gegen den ärmeren Süden und griff von da aus auf das ganze Land über. In Deutschland scheinen diese Vorzeichen vertauscht. Allerdings war auch in Italien nicht unbedingt die ökonomische Stärke der entscheidende Faktor, sondern der Sinn der Abspaltung vom ländlichen und »anderen« Süden. Hierzulande ist die Spaltung in Ost und West ja auch nicht nur eine ökonomische, sondern zugleich eine politische, kulturelle und sehr persönliche. Sie ist neben der Spaltung in Arm und Reich nach wie vor die prägendste Differenz im Land. Das Versprechen einer Ost-Alternative würde lauten: »Wir kümmern uns erst um den Wohlstand im Osten, dann um den Rest.« Das wäre für nicht wenige Menschen durchaus attraktiv.
Eine Sache der Möglichkeit ist ein Experiment Lega Ost auch deshalb, weil die Kleinstaaterei und der Separatismus noch einmal ebenso in die deutsche Geschichte eingeschrieben ist wie in die italienische. Nicht zuletzt die bayerische CSU beweist, dass ein gewisses föderales Selbstbewusstsein und die Reserviertheit gegenüber dem Rest die eigene politische Identität stärken oder gar ausmachen kann. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder wurde zwar nicht Kanzlerkandidat, doch er zeigte, dass der Sprung vom Separatismus auf die bundespolitische Bühne mit einem autoritären Führungsstil mit modernen Anstrich nicht unmöglich ist. Auch hier verhinderte ein interner Machtkampf ein Experiment, das nicht wenige Bundesbürger attraktiv gefunden hätten.
Natürlich ist so eine Lega Ost derzeit nicht mehr als ein Schreckgespenst. Niemand hat öffentlich je diesen Vorschlag gemacht, auch wenn rechte Strategen sicher schon einmal darüber nachgedacht haben dürften. Jedenfalls sollte die gesellschaftliche Linke dieses Szenario einmal gedanklich durchspielen. Nicht um den Teufel an die Wand zu malen, sondern um auf die Möglichkeit gefasst zu sein und vorausschauend zu agieren, anstatt bloß wieder zu reagieren. Die Verteilungskämpfe werden nach der Pandemie nicht weniger und die fehlenden Arbeitsplätze sowie der Bevölkerungsschwund und die Überalterung des Ostens werden uns noch lange Zeit beschäftigen. Wir haben bisher keine umfassende Strategie entwickelt, das Potenzial des Ostens für linke oder gar sozialistische Politik auszuschöpfen. Im Gegenteil: Man bekommt zuweilen den Eindruck, der Osten sei bereits ans rechte Lager verloren gegeben worden.
Nach Sachsen-Anhalt wäre ein erster Schritt, sich nicht darauf zu beschränken, das mögliche Bündnis zwischen CDU und AfD anzumahnen. So meinte zum Beispiel der SPD-Parteivorsitzende Norbert Walter-Borjans, Sachsen-Anhalts CDU müsse nun »zeigen, wie ernst es mit der Aussage ihres MP ist« – die Frage nach der Distanz zur rechten AfD zog sich durch die gesamte Wahlberichterstattung. Der Appell an das »Bollwerk gegen rechts« verkennt auf unheimliche Weise, wie nah sich Konservatismus und Faschismus in ihrer Sehnsucht nach Hierarchie und Ordnung in Wirklichkeit stehen. Auch machtpolitisch ist das Bündnis realistisch. Die moralische Fixierung auf eine Trennlinie zwischen Demokraten und Antidemokraten hilft an dieser Stelle nicht weiter. Im Landtag von Sachsen-Anhalt waren sich die Fraktionen von CDU und AfD schon mehrmals einig – so zum Beispiel bei dem Antrag für eine Enquete-Kommission gegen »Linksextremismus«
Die Kunst bestünde darin, der Gefahr einer separatistischen Rechten ins Auge zu sehen und das Mobilisierungspotenzial im Osten stattdessen für sozialistische Politik und lokale Organisierung zu nutzen. Nicht mit seidenweichen Floskeln, sondern zupackend, vielleicht auch etwas wütend. Programme reichen nicht – es braucht auch das Gefühl. Dafür wiederum braucht es politische Persönlichkeiten und eine mittelfristige Strategie, den Osten wieder zurückzugewinnen.
Auch der Erfolg eines Matteo Salvini wurde erst möglich, als das Land ohne eine Linke dastand. Die kommunistische und die sozialdemokratische Partei gingen durch Regierungsbeteiligungen und Zugeständnisse an die kapitalistische Ordnung zugrunde. Wie in der Bundesrepublik, so verlor auch die Linke in Italien den Bezug zur arbeitenden Klasse. Ohne diese soziale Basis wird jedoch jede sozialistische Partei zwischen einem technokratischen Regierungsstil, dem bürgerlichen Zentrum und einer sich aufbäumenden Rechten zerrieben. Die deutsche Linke darf das italienische Szenario nicht zulassen. Wer den Ostern verliert, verliert womöglich das ganze Land.
Ines Schwerdtner ist seit Oktober 2024 Bundesvorsitzende der Linkspartei. Von 2020 bis 2023 war sie Editor-in-Chief von JACOBIN und Host des Podcasts »Hyperpolitik«. Zusammen mit Lukas Scholle gab sie 2023 im Brumaire Verlag den Sammelband »Genug! Warum wir einen politischen Kurswechsel brauchen« heraus.