14. Dezember 2022
Allen Erklärungen zum Trotz: DIE LINKE bricht auseinander. Die Frage ist wohl nicht mehr ob, sondern wann.
Eine Wageknecht-Partei könnte erfolgreich sein – ob sie auch sozialistisch wäre, steht auf einem anderen Blatt.
IMAGO / photothekEs ist die Frage, die gerade viele Genossinnen und Genossen innerhalb und außerhalb der Partei umtreibt. Denn ob es die DIE LINKE noch geben wird, interessiert nicht nur diejenigen, die selbst ein Amt innehaben oder ein Parteibuch besitzen, sondern auch alle, die realisieren, dass eine linke Kraft neben SPD und Grünen eine historische Begründung hat, die nicht abgegolten ist. Und selbst wenn man der Partei nicht wohlgesinnt ist – was etwa für viele bürgerliche Zeitungen gilt –, gibt es ein reges Interesse an der Selbstzerstörung der Partei. Man muss an dieser Lust an der Zerstörung nicht teilhaben, wohl aber den Tatsachen ins Auge sehen.
Um es gleich vorwegzunehmen: Bis vor wenigen Monaten war ich selbst noch überzeugt, dass man an dieser linken Partei festhalten muss. Denn allen Unkenrufen zum Trotz gäbe es ohne sie schlicht keine Vertretung derjenigen, die seit den Agenda-Jahren in Armut geknechtet und vom politischen System im Prinzip ausgeschlossen sind. Und auch wenn die Partei in Landesregierungen eher einen maßvollen Sozialdemokratismus vertritt, gäbe es ohne sie keine bundesweite sozialistische Kraft, die in einem Parteiensystem, das vom Zentrismus durchzogen ist, als Korrektiv agiert und zumindest potenziell eine andere Perspektive als einen verwalteten Kapitalismus bietet.
Nüchtern betrachtet muss man jedoch feststellen, dass die Widersprüche innerhalb der Partei mittlerweile nicht mehr überbrückbar sind. In allen wesentlichen strategischen und inhaltlichen Fragen ist man sich uneins. Die Partei ist zu bequem, um sich am Riemen zu reißen und sich mit allen Kräften zu reformieren, sie ist aber auch zu bequem, um die Spaltung zu vollziehen. In diesem Stand-off zwischen Wagenknecht-Lager und allen anderen herrscht nur eine unangenehme Unruhe. Jede Seite wartet im Prinzip auf einen Fehler der anderen, um letztgültig zu beweisen, dass man habe gehen müssen oder aber, dass man keine andere Wahl gehabt hätte, als Wagenknecht nun endlich rauszuwerfen.
Die drei Machtblöcke um die »populäre Linke«, die Reformer und die Bewegungslinke, die sich nach dem Parteitag im Juni herausgestellt hatten, bestehen im Wesentlichen weiterhin – nur hat sich die »populäre Linke« rund um Sahra Wagenknecht weiter isoliert. Aus der für den Herbst angekündigten Konferenz wurde nichts und abgesehen von Youtube-Videos, Pressestatements und einer Rede im Bundestag zum Wirtschaftskrieg von Wagenknecht hörte man jenseits ihrer Person fast nichts aus dem Lager. Es spricht also einiges dafür, dass man sich im Hintergrund sammelt und den richtigen Moment abwartet. Nach dem Desaster um »Aufstehen«, das den richtigen politischen Impuls hatte, um Abgehängte und Enttäuschte zu erreichen, aber an der Organisation und letztlich auch am Machtkampf der Partei scheiterte, ist man natürlich vorsichtig. Das gesteht auch Wagenknecht selbst ein.
Eine Variante wäre, als »Liste Wagenknecht« zur Europawahl im Frühjahr 2024 anzutreten. So könnte man das relativ strenge deutsche Parteiengesetz umgehen und würde außerdem vermutlich nur 3,5 Prozent der Stimmen benötigen. Vorbilder wie die »Liste Pilz« oder eine »Liste Kurz« aus Österreich gäbe es ja. Diese setzten allein auf die Personalisierung, waren aber trotzdem politische Parteien im traditionellen Sinne. Eine »Liste Wagenknecht« könnte, so eine Umfrage von Civey aus dem November, bundesweit 20 Prozent erreichen, im Osten könnte sich sogar jeder Zweite vorstellen, eine Wagenknecht-Partei zu wählen. Jedoch ist fraglich, ob es wirklich Wagenknechts Ziel wäre, wieder zurück ins Parlament nach Brüssel zu gehen, wo sie vor Jahren bereits saß, und von dort den Sprung in die Bundespolitik schaffte. Zwar würde das EU-Parlament Ressourcen bereitstellen, politisch wäre es aber eher ein Rückschritt.
»Es ist durchaus realistisch, dass eine solche Konstellation in der Lage wäre, durch populistische Zuspitzung die Prozentpunkte der AfD, zumindest im Osten, zu halbieren.«
Die Gründung einer richtigen Partei, die perspektivisch auch zur Bundestagswahl antritt, ist allerdings weitaus aufwendiger: Man müsste Landesverbände aufbauen, eine Mitgliederstruktur entwickeln und natürlich in allen Verbänden wichtige Positionen besetzen. In diesem Fall könnte man auch zur im kommenden Herbst bevorstehenden Landtagswahl in Hessen oder bei der für DIE LINKE entscheidenden Wahl 2024 in Thüringen antreten, wo sich gerade ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Bodo Ramelow und dem rechten Björn Höcke abzeichnet. Den linken Ministerpräsidenten selbst herauszufordern, wäre allerdings ein starkes Stück.
Ob es gelingt, in diesem Tempo eine Organisation aufzubauen und auch das Personal zu stellen, ist fraglich. Denn nicht nur vereint die »populäre Linke« relativ wenige Kader, sie hat jenseits von Wagenknecht auch noch keine weiteren Persönlichkeiten herausgebildet, die populär – im Sinne von wirklich bekannt – wären. Wagenknecht kann aber selbstredend nicht bei jeder Wahl selbst antreten und ihre Kräfte als Zugpferd dürften dann auch an ihre Grenzen kommen. Die zweite Schwierigkeit bestünde darin, die neuen Mitglieder einzubinden und die Programmdebatte zu moderieren – etwas, das nicht zu Wagenknechts Stärken gehört. Am erfolgreichsten wäre man wahrscheinlich mit wenigen Programmpunkten, um damit einige zentrale Wahlen zu gewinnen, anstatt wirklich eine neue Partei aufzubauen. Und das würde ein paar Jahre vielleicht sogar gut gehen. Es ist durchaus realistisch, dass eine solche Konstellation tatsächlich in der Lage wäre, durch populistische Zuspitzung die Prozentpunkte der AfD, zumindest im Osten, zu halbieren. Das für sich genommen wäre schon mehr als die Lethargie von heute.
Aber wäre das eine »linke« Partei? Das ist noch offen. Inhaltlich hielte es sich streng genommen um einen marktwirtschaftlichen Protektionismus mit starken populistischen Zügen und gesellschaftspolitisch eher konservativen Positionen, wenn man Wagenknechts eigene Thesen zugrunde legt. Das entspricht auch ihrem realen Wählerpotenzial. Der Anspruch, die arbeitende Klasse als Ganzes anzusprechen, und die Einzelnen in einer Organisation zusammenzuführen und sie zur demokratischen Teilhabe zu befähigen, ist in Wagenknechts Ausführungen bisher nicht erkennbar. Kurz gesagt: Eine solche Partei wäre vermutlich eine erfolgreiche Partei, aber nicht notwendig eine sozialistische. Auch ist nicht klar, ob sie durch ihr erratisches Verhalten eine Rechtsöffnung einer solchen Partei betreiben würde, die sie oder andere in ihrem Umfeld nicht mehr kontrollieren könnten.
Denjenigen, die ein wie auch immer geartetes Wagenknecht-Projekt unterstützen, schwebt vermutlich ein Jean-Luc Mélenchon von vor einigen Jahren vor. Dieser war mit einer solchen Strategie und ähnlichen Programmatik durchaus erfolgreich. Seine EU-Kritik ging weiter als die von Le Pen, und er machte sich zum echten Gegner des Zentrismus von Macron, indem er unmissverständlich an den Kämpfen der Arbeitenden interessiert war und ihre Interessen ausdrückte.
Doch auch er wechselte in den Folgejahren seine Strategie: Bei der letzten Parlamentswahl trat er mit der links-grünen Wahlvereinigung NUPES an, die sich durchaus einer eher sozial-ökologischen Programmatik öffnete. Anstatt im Alleingang an der Spitze einer Bewegung positionierte sich Mélenchon als Spitzenkandidat eines linken Parteizusammenschlusses, das seine Positionen nicht verwässerte, aber mehr organisatorische Stärke hinter ihm vereinen konnte. Wagenknecht und ihre Anhänger springen insofern auf einen Zug auf, der vor Jahren in Frankreich unter anderen Bedingungen funktionierte, so wie auch der Linkspopulismus von Podemos unter besonderen Krisenbedingungen funktionierte. Es ist unklar, ob sich diese Strategie auch in Deutschland, das nicht gerade für Sozialproteste brennt und durch die eigene ökonomische Stärke immer auch Stabilität festschreibt, bewähren kann.
Was auch immer Wagenknecht und ihre Unterstützer entscheiden: Es wird auf den Moment ankommen. Während sich im November durch die Umfragewerte und die Debatte um ihre Rede im Bundestag der innerparteiliche Konflikt zuspitzte, scheint nun wieder etwas Ruhe einzukehren. Einige befürchten nun, das Momentum zu verpassen, und wollen lieber gestern als heute etwas Neues gründen. Andere mahnen, dass der nächste Flop drohen würde. Wagenknecht selbst hält sich bedeckt.
In der Zwischenzeit gab es auch immer wieder prominente Rufe nach Zusammenhalt, etwa von Gregor Gysi, der dem Spitzenpersonal seine historische Verantwortung in Erinnerung rief. Außerdem ist nun die Neuwahl in Berlin im Februar dazwischen gekommen, die eigentlich niemand durch ein neues Projekt, das dort nicht mal antreten kann, torpedieren wollen würde. Wollte man schon in Hessen antreten, müsste sich eine neue Formation allerdings spätestens im Frühjahr gründen. Wählt man die sicherere Europa-Variante, wäre noch Zeit bis zum Herbst 2023. Eine lange Zeit für den Todeskampf einer Partei, die in einer sozialen und wirtschaftlichen Krise mehr gebraucht wird denn je und in einigen Bundesländern immerhin mitregiert.
Die LINKE produziert immer wieder eine besondere Textgattung, die ihresgleichen sucht: die Erklärung, die nichts erklärt – zumindest nicht nach außen. Derlei gab es jüngst einige, doch zwei sind besonders erwähnenswert, weil sich hier die Machtkonstellationen sehr klar zeigen. Das wäre zum einen die Berliner Erklärung der »progressiven Linken«, die sich als Gegenprojekt zu Wagenknechts Linkskonservatismus versteht. Die Verbindung ist machtpolitisch weitgehend irrelevant, weil wenige aus dem Parteivorstand, Parteiintellektuelle, aus der Bundestagsfraktion oder Funktionsträger in Regierungsverantwortung anwesend waren. Doch sie vereint bundesweit Funktionsträger wie Basismitglieder aus den sonst eher konkurrierenden Strömungen der Bewegungslinken und der Liberal-Reformer. Ihre Erklärung ist vor allem eine Ansage an den Fraktions- wie den Parteivorstand, diese mögen Reden, die nicht im Sinne der Beschlüsse sind, (gemeint ist Wagenknecht, die kindischerweise aber nicht namentlich erwähnt wird) zu untersagen, und eine Klärung herbeizuführen.
Demgegenüber steht eine weitere Erklärung, die machtpolitisch relevanter ist, weil sie eben Partei- und Fraktionsvorsitz sowie alle Vorsitzenden und Fraktionen der Landesverbände zusammenbringt: die Leipziger Erklärung vom vergangenen Wochenende. Darin wird bekräftigt, die Partei als »historisches Projekt einer geeinten, pluralen sozialistischen Partei zu verteidigen und weiterzuentwickeln«. Sie wiederholt im Wesentlichen bekannte Programmpunkte und bekräftigt, DIE LINKE sei eine sozialistische Partei – für Umverteilung, Frieden und gegen Rechts. Interessant sind vor allem die Unterzeichnenden. Denn unter denen sind eben auch machtstrategische Partnerinnen und Partner von Wagenknecht, etwa Amira Mohamed Ali oder Dietmar Bartsch. Erklären lässt sich das wohl nur mit der Zahnlosigkeit dieses Strategiepapiers.
»Über allem steht eine Parteiführung, die kein Machtwort spricht, sondern sich selbst die Fähigkeit zuspricht, etwas zusammenzuhalten, ohne auf diejenigen, die zusammengehalten werden sollen, zuzugehen.«
Die beiden Erklärungen zeigen vor allem, dass sich die drei Machtblöcke, die ich nach dem Parteitag skizzierte, noch weiter ausdifferenzieren und intern gespalten sind. Es sei zu »Umbildungen der Strömungen« gekommen, schreibt etwa Alex Demirović in der aktuellen Ausgabe der Prokla. Die früheren Strömungen der Partei haben sich demnach »einerseits zu einem linkssozialdemokratischen Projekt mit einer linksgewerkschaftlichen Strömung, der Bewegungslinken, [...] andererseits zu einem Reformerlager mit einem sozialdefensiven, einem sozialliberalen und einem pragmatisch-regierungsorientierten Flügel« herausgebildet. Diese Ausdifferenzierung ist wichtig, denn in der Berliner Erklärung war vor allem der sozialliberale Flügel stark (wenn auch Teile fehlten, weil sie sich selbst in Regierungen in Berlin oder Thüringen befinden und daher an der Auseinandersetzung nicht aktiv teilhaben). In anderen Landesverbänden wie Brandenburg oder in der Bundestagsfraktion ist hingegen der pragmatische Flügel stark. Dass gerade das Reformerlager, das immer der stabilste Machtblock gewesen war, sich so ausdifferenziert, ist bemerkenswert. Denn es bringt die Partei auch jenseits von Wagenknechts exzentrischem Verhalten in einen Konflikt zwischen einem bewegungsorientiert-sozialliberalen Block, der sich hart gegen Wagenknecht stellt, und einem pragmatisch-defensiven Block, der sie am liebsten einbinden würde.
Über allem steht eine Parteiführung, die kein Machtwort spricht, sondern sich mittels Erklärungen selbst die Fähigkeit zuspricht, etwas zusammenzuhalten, ohne jedoch auf diejenigen, die zusammengehalten werden sollen, zuzugehen. Mehr Selbstvergewisserung als Diplomatie, könnte man sagen. Aber selbst Diplomatie würde an diesem Punkt vermutlich auch nicht mehr vermitteln können. Da es seit dem Parteitag im Juni eher mehr Krisenmomente gab als weniger, gibt es kein Anzeichen, dass die Spaltung, die sich über Jahre hinweg angebahnt hatte, noch abzuwenden wäre. Irgendwann ist ein Punkt erreicht, an dem es kein Zurück mehr gibt. Vielen Beteiligten ist inzwischen längst klar: Das geht nicht mehr zusammen. Die Erklärungen mögen einige Schwankende in Sicherheit wiegen, durch sie lässt sich aber Einigkeit nicht herstellen. Sie schieben die Spaltung nur etwas nach hinten.
Eine Spaltung wäre vor der Geschichte nicht haltbar, sagte ein Genosse vor einigen Wochen zu mir – und dieser Gedanke ist hängen geblieben. Sozialistische Parteien spalteten sich immer wieder an großen historischen Krisen, an Weltkriegen. Heute sind die Anlässe viel diffuser. Bei der LINKEN brechen Konfliktlinien auf, die sie seit ihrem Bestehen durchziehen, die aber immer wieder durch einen Konsens als Protestpartei gegen die Agenda-Politik und starke Führungsfiguren wie Lafontaine oder Gysi überdeckt wurden. Von dieser »antineoliberalen Sammlungsbewegung« habe sie den Schritt zur eigenständigen sozialistischen Partei noch nicht gemacht, so Horst Kahrs, der von einem »ideologischen Glutkern« spricht und fragt, ob es diesen heute noch geben könnte, samt einer ideologisch gefestigten Wählerbasis, die noch aufzubauen oder wiederzugewinnen wäre.
Die Frage ist, ob eine Abspaltung diesen Glutkern freilegen könnte oder ob eine jahrelange Phase der Neuorientierung zweier Lager folgen würde, deren Ausgang noch nicht abzusehen ist. Viel wird davon abhängen, wann genau und unter welchen Vorzeichen sich diese wahrscheinliche Abspaltung vollzieht und durch welche gesellschaftlichen Krisen beide Gruppierungen sich hindurch navigieren müssen. Die Frage ist nun nicht mehr, ob eine Spaltung historisch haltbar, ob sie wünschenswert oder moralisch gerechtfertigt ist. Wenn sie kommt, wird das eine Disruption für die gesamte gesellschaftliche Linke bedeuten, vielleicht auch für die deutsche Parteienlandschaft im Ganzen.
Ines Schwerdtner ist Host des JACOBIN-Podcasts Hyperpolitik und war von 2020-2023 Editor-in-Chief von JACOBIN.