24. März 2023
Die Deutsche Bahn ist in einem desolaten Zustand. Genau deshalb sollten wir die Streiks bei der Bahn unterstützen. Denn die Beschäftigten kämpfen nicht nur für sich. Sie kämpfen für uns alle.
Ohne Beschäftigte läuft nichts – das gilt auch für die Verkehrswende.
IMAGO / Ralph PetersDer Frühling könnte – passend zur Branche – mit etwas Verspätung zu einem »Frühling des Grauens« werden. So zumindest bezeichnete die Wirtschaftswoche die laufende Tarifrunde der Deutschen Bahn und befeuert damit schon einmal die gewerkschaftsfeindliche Stimmungsmache. Dabei fordern die Beschäftigten der Bahn von ihrem Arbeitgeber lediglich das Mindeste für die Verantwortung, die sie tragen. Die Bahn ist in einem desolaten Zustand und gerade deswegen ist es wichtig, dass die Gesellschaft den Beschäftigten den Rücken freihält. Denn sie kämpfen nicht nur für sich, sondern für uns alle.
»Der Schienenverkehr könnte der Grundstein einer deutschen Klimawende sein – stattdessen ist er für Kunden eine Zumutung und für Beschäftigte eine Quelle des Frusts.«
Wenn man sich einmal alle Probleme der Privatisierung an einem Fallbeispiel vor Augen führen möchte, muss man sich nur die Geschichte der Bahn anschauen. So ziemlich alle Klischees über die Zerstörung der öffentlichen Daseinsvorsorge lassen sich hier finden: Profitorientierung, Wettbewerb, Entlassungen. Nachdem die Deutsche Bundesbahn und die Deutsche Reichsbahn der DDR nach der Wiedervereinigung zusammengelegt wurden, verwandelte man die Bahn in eine Aktiengesellschaft, mit dem Bund als alleinigem Aktionär. Nur der Börsengang wurde abgewendet.
Die verschuldete Behörde mit ihrem damals schon teils maroden Netz wurde privatisiert, um Anreize für mehr Effizienz zu schaffen: Als Aktiengesellschaft würde man nur noch Dinge umsetzen, »die sich rechnen«. Die Folgen sind heute jedem bekannt. Der Schienenverkehr könnte der Grundstein einer deutschen Klimawende sein – stattdessen ist er für Kunden eine Zumutung und für Beschäftigte eine Quelle des Frusts.
Auf den Schienen sollte der »Markt« den Verkehr verbessern und den Wettbewerb zwischen verschiedenen Betreibern zulässig machen. EU-Organe forderten zur Hochzeit neoliberaler Reformen ebenfalls die Liberalisierung des Schienenverkehrs und verklagten ironischerweise erst 2013 den Bund wegen Wettbewerbsverzerrung, da er die Deutsche Bahn ihren Konkurrenten gegenüber bevorzugt behandele. Die Zersplitterung des Bahnbetriebs zeigt sich im Regionalverkehr, wo sie zu unnötiger Bürokratie und entsprechenden Mehrkosten sowie schlechteren Arbeitsbedingungen führte, wie auch die Initiative Bahn für alle aufgezeigt hat. Zur Stärkung des Nahverkehrs fordert die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) vom Bund, den Ländern mehr Mittel zur Verfügung zu stellen, da diese den Nahverkehr zu zwei Dritteln bezahlen, während die Fahrgäste für den Rest aufkommen.
»Seit den 1990er Jahren 5.400 unwirtschaftliche Streckenkilometer stillgelegt. Das sind satte 16 Prozent der Schienenstrecke in ganz Deutschland.«
Die finanzielle Lage der Bahn ist bescheiden. In der komplizierten Konzernstruktur müssen unterschiedliche Gesellschaften mit verschiedenen Verwaltungskörpern teilweise gegeneinander agieren. Das erschwert den Betrieb zusätzlich. Da sich das Geschäft der Bahn – beziehungsweise die Geschäfte der 600 Verbundunternehmen, die wir »Bahn« nennen – als Aktiengesellschaft rechnen musste, wurden seit den 1990er Jahren 5.400 »unwirtschaftliche« Streckenkilometer stillgelegt. Das sind satte 16 Prozent der Schienenstrecke in ganz Deutschland. Das Angebot wurde weder günstiger noch größer und das Netz verwahrloste. Denn aufgrund des Rendite-Zwangs wurden Sanierungen vernachlässigt. Das hat dazu geführt, dass heute nur jede fünfte Bahn mängelfrei ist und sich Baumaßnahmen häufen, die sich über Jahrzehnte angestaut haben.
Mit der Etablierung einer privaten Aktiengesellschaft in der Hand des Bundes wurde also absurderweise ein Anreiz dafür geschaffen, die Infrastruktur verschleißen zu lassen, da Sanierungen wirtschaftlich sein mussten, während Neuinvestitionen vom Bund getragen wurden. Dieser verantwortungslose Umgang mit der öffentlichen Daseinsvorsorge hatte mitunter tragische Konsequenzen: Die maroden Schienen verursachten ein Zugunglück – vorherige Warnungen der Mitarbeitenden wurden ignoriert.
Neben dem Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bahn AG Richard Lutz ist auch FDP-Verkehrsminister Volker Wissing für dieses Versagen zur Verantwortung zu ziehen. Während Lutz mit seinem maßlosen Jahresgehalt von 900.000 Euro persönlich gut wegkommt, sieht es für sein Unternehmen schlecht aus: Nach den schweren Pandemiejahren hat die Bahn 2022 erstmals wieder schwarze Zahlen geschrieben. Die eine Hälfte des Umsatzes macht die Bahn im Schienenverkehr, die andere Hälfte durch die Töchterfirmen im Transport- und Logistikgeschäft, beides teilweise außerhalb Deutschlands. Bis vor einigen Jahren schüttete das Unternehmen sogar eine Dividende an seinen einzigen Anteilseigner, den Bund, aus. Das hat sich inzwischen eingestellt. Gleichzeitig wird der Investitionsstau immer offensichtlicher und die Versprechen der Politik immer großspuriger.
Bevor der Ex-Verkehrsminister Andi Scheuer das Feld räumte, hinterließ er seinem Nachfolger das undankbare Projekt Deutschlandtakt: Bis 2030 sollte damit ein koordinierter, getakteter Fahrplan nach Schweizer Vorbild auf dem ganzen Bundesgebiet die Fahrgastzahlen verdoppeln und ein Viertel des Güterverkehrs auf die Schiene verlagern. Als FDP-Verkehrsstaatssekretär Theurer den Deutschlandtakt kürzlich zu einem Jahrhundertprojekt erklärte, das erst bis 2070 umgesetzt werden wird, war die Schadenfreude in der Opposition groß. Die geradezu lächerlich lange Umsetzungsdauer sei ein Geständnis des Scheiterns der Ampel. Das Verkehrsministerium und die Deutsche Bahn, so der Zungenschlag, sollten angesichts des Zustands des Schienenverkehrs lieber kleine Brötchen backen und etwa den laufenden Betrieb gewährleisten.
Das Jahr 2022 war nicht nur in Sachen Pünktlichkeit ein Tiefpunkt für die Bahn. Der Verkehr verfehlte letztes Jahr neben der Baubranche als einziger Wirtschaftszweig seine Umweltziele, da sich der CO2-Ausstoß des PKW-Verkehrs – dank Tankrabatt und trotz 9-Euro-Ticket – erhöhte. Neben den großspurigen Investitionsankündigungen hat die Ampel im Koalitionsvertrag noch ein anderes brisantes Versprechen gemacht: Entgegen dem Privatisierungstrend soll die Infrastruktur künftig gemeinwohlorientiert betrieben werden. Was erstmal ermutigend klingt, offenbart sich als zweischneidiges Schwert. Denn zum einen soll insbesondere der Fernverkehr weiter wettbewerbsorientiert bleiben, zum anderen setzen Grüne und FDP damit die Desintegration des Bahnbetriebs durch, indem sie die Züge und die Gleise – bildlich gesprochen – voneinander entkoppeln.
Nach dem 9-Euro-Ticket startet im Mai mit dem 49-Euro-Ticket dessen Nachfolgeprojekt – das wohl nicht weniger Chaos nach sich ziehen wird wie sein Vorgänger, da Personalmangel auf eine desolate Infrastruktur trifft. Während sich alle darüber einig sind, dass das schlechte Netz ein kolossales Hindernis für den Erfolg des Schienenverkehrs ist, dementierte der Bahn-Chef letztes Jahr noch, dass Personalmangel bei der Bahn ein Problem darstelle. Jedoch bedeutete die Rationalisierung der Deutschen Bahn auch Personalabbau: Während vor der Privatisierung über 350.000 Menschen bei der Bahn beschäftigt waren, sind es heute weniger als 200.000, von denen viele über Überbelastung klagen.
»Im Bereich der Reinigung oder Sicherheit zahlt die Bahn zurzeit noch weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro, was lediglich mit Zuzahlungen ausgeglichen wird.«
Da Personalkosten gekürzt wurden und man es jahrelang versäumte, Nachwuchs einzustellen, ist die Belegschaft überaltert. Massenweise Beschäftigte gehen in Rente. Die Bahn plant dieses Jahr zwar 25.000 Neueinstellungen, doch davon sind nur 9.000 neugeschaffene Stellen. Doch selbst die werden nicht leicht zu besetzen sein, weshalb das Unternehmen auch Mitarbeitende aus dem Ausland rekrutiert. Laut dem Verband Deutscher Verkehrsunternehmen musste 2022 jedes zweite Unternehmen den Fahrplan aufgrund von Personalmangel einschränken. Darunter fällt selbstverständlich auch der Betrieb der Deutschen Bahn, der im Sommer des 9-Euro-Tickets einige Rekorde brach, sei es in Sachen Mitarbeiterüberlastung, Personalmangel oder Krankheitsausfällen. Auch Bonuszahlungen sind nicht unüblich, um die Beschäftigten zum Verzicht auf freie Tage und Urlaub zu bewegen.
Die Beschäftigten machen auch während der aktuellen Tarifrunde auf diesen Missstand aufmerksam, der zu erheblichen Überstunden und gesundheitlichen Beschwerden unter der Belegschaft führt. Die Probleme sind seit längerem bekannt. Gefährlich wird es, wenn trotz maroder Technik zu viel Verantwortung auf zu wenige Beschäftigte übertragen wird, die dieser Verantwortung mangels Entscheidungsgewalt im Unternehmen und begrenzten Kapazitäten schlichtweg nicht gerecht werden können. Der Bund hat mit der Profitorientierung der Bahn eine künstliche Verknappung der Finanzen verschuldet, während die wirklich knappe Ressource, menschliche Arbeitskraft, vollkommen überstrapaziert wird.
Die Beschäftigten sind einem Schichtsystem ausgesetzt, das einen Dienstbeginn zu jeder Tages- und Nachtzeit erfordert. Sechs oder mehr Tage am Stück zu arbeiten, gehört dabei zur Norm. Hinzu kommen Schichten von bis zu zwölf Stunden, auch an Wochenenden und Feiertagen. Angesichts dieser Bedingungen könnte man meinen, dass zumindest etwas Planungssicherheit gewährleistet wird, indem man langfristige und verbindliche Dienstpläne festlegt – dem ist aber nicht so. Alle Angestellten im Schienenverkehr haben mit ihren eigenen Tücken und Herausforderungen zu kämpfen, seien es Lokführer, die mit der hastig organisierten Digitalisierung Schritt halten müssen, oder Bordgastronominnen, die nicht damit rechnen können, dass ihr Anschlusszug (also ihr Arbeitsplatz) bei Verspätungen auf sie wartet. Die EVG beansprucht, sie alle zu vertreten – und das nicht nur bei der Deutschen Bahn, sondern auch in den konkurrierenden Unternehmen.
Die zersplitterte Landschaft des Schienenverkehrs hat den »Tarifdschungel« verdichtet. So verhandelt die Gewerkschaft seit Ende Februar für 180.000 DB-Beschäftigte und für 50.000 weitere in fünfzig anderen Unternehmen. Die Deutsche Bahn hat als größtes Unternehmen eine besondere Relevanz und durfte dementsprechend in der ersten Verhandlungsrunde den Vorstoß machen. Die Gewerkschaft betont jedoch immer wieder, dass sie für alle verhandelt. Man will innerhalb der Branche keine Spaltung der Beschäftigten.
Ein Flächentarifvertrag wurde zuletzt von der Deutschen Bahn verhindert. Auch jetzt kämpft die Gewerkschaft gegen Versuche an, die Belegschaft einzelner Betriebe, wie beispielsweise den Busgesellschaften oder der Logistiktochter DB-Cargo, aus den Verhandlungen auszuklammern. Je zersplitterter die Arbeitgeber sind, desto einfacher ist es für sie, die Löhne zu drücken, unter dem Vorwand des Wettbewerbs und der Profitorientierung.
»Die Geschäftsführung genauso wie die Vertreter des Bundes im Verkehrsministerium nutzen den selbstverschuldeten Sanierungsstau als Ausrede, um die Forderungen der Beschäftigten abzuwenden.«
Konkret wollen die Beschäftigten eine Lohnerhöhung von 12 Prozent über zwölf Monate hinweg, mindestens aber 650 Euro mehr pro Monat. Zunächst aber sollen die Tarifstruktur und die Einhaltung des Mindestlohns bei der Deutschen Bahn geklärt werden. Denn im Bereich der Reinigung oder Sicherheit zahlt die Bahn zurzeit noch weniger als den gesetzlichen Mindestlohn von 12 Euro, was lediglich mit Zuzahlungen ausgeglichen wird. Diese klare Haltung hat die Fronten verhärtet, denn die Deutsche Bahn legte nach der ersten Verhandlungsrunde kein Angebot vor. Die Gewerkschaft zeigte sich souverän und beteuerte, dass die Sozialpartnerschaft gefährdet werden würde, wenn die DB ihre Verhandlungspartnerin so provoziert.
Am 14. März demonstrierten die Beschäftigten in Berlin und beendeten ihren Protest mit einer Kundgebung vor dem Verkehrsministerium. Die Bahn reagierte darauf mit einem Gegenangebot: 13 Euro Mindestlohn ab August 2024 sowie eine Lohnerhöhung von 5 Prozent über 27 Monate und eine Einmalzahlung von 2.500 Euro. Dies wurde zu einer Lohnerhöhung von 11 Prozent über zwölf Monate umgerechnet, wobei diese Rechnung nur aufgeht, wenn die Beschäftigten im dreizehnten Monat eine Lohnkürzung hinnehmen würden. Die Tarifführer lehnten das entschieden ab und signalisierten ihrerseits Streikbereitschaft: Heute wird entschieden, ob die Beschäftigten in einen bundesweiten Warnstreik treten werden. Die zweite Verhandlungsrunde beginnt Ende April.
Um Lohnforderungen abzulehnen, verweisen Unternehmen gerne auf externe Krisen. Und auch die Geschäftsführung der Bahn argumentiert, dass das Unternehmen in Zeiten von Krieg und Inflation und nach der Pandemie nicht imstande sei, die Erwartungen der Beschäftigten zu erfüllen, und dafür zu sorgen, dass auch ihre eigene Belegschaft diese Krisenzeit übersteht. Außerdem könnte man Arbeitskämpfe auch nicht auf dem Rücken der Fahrgäste austragen.
Ignoriert wird dabei, dass die Fahrgäste ohnehin schon unter dem schlechten Management des Betriebs und unter dem Personalmangel leiden. Gerade die Forderungen der Belegschaft nach besserer Bezahlung und besseren Arbeitsbedingungen würden dafür sorgen, dass die Deutsche Bahn ein attraktiverer Arbeitgeber und ein besserer Dienstleister werden würde – und davon würde die Allgemeinheit natürlich profitieren.
Dieser oft herbeigeschriebene Antagonismus zwischen Streikenden und Kunden ist nicht neu. Davon sollten sich Bürgerinnen nicht beeindrucken lassen. Die Beschäftigen im Schienenverkehr verdienen unsere Solidarität. Das arbeitgebernahe Narrativ ist, dass ein weitreichender Streik in systemrelevanten Bereichen die Bürgerinnen und Bürger gegen die Streikenden aufhetzt und deshalb zu vermeiden sei. Doch gerade weil die Bahn so wichtig ist und ein bundesweiter Streik die Bundesrepublik lahmlegen könnte, bietet dieser Arbeitskampf so eine große Chance.
Die Geschäftsführung genauso wie die Vertreter des Bundes im Verkehrsministerium haben die Verkehrswende nicht nur Jahrzehnte lang verschleppt, sondern ihr teilweise mit marktgläubigen Reformen und kurzsichtigen Unternehmenspraktiken aktiv entgegengewirkt. Jetzt nutzen sie den selbstverschuldeten Sanierungsstau als Ausrede, um die Forderungen der Beschäftigten abzuwenden. Dabei waren es die Beschäftigten, die nicht müde wurden, mehr Investitionen in Sicherheit, Personal und die Infrastruktur zu fordern und eine Integration des Schienenverkehrs zu unterstützen.
Eine echte Klimawende muss die Arbeiterinnen und Arbeiter nicht nur einbinden, sie wird erst durch sie möglich. Die Deutsche Bahn ist der Schlüssel zur Verkehrswende und ihre Beschäftigten sind ihre kostbarste Ressource. Es wird Zeit, dass sie auch so behandelt werden.
Ady Zymberi ist Operations Manager beim Brumaire Verlag.