03. November 2022
Die US-amerikanische Gesellschaft ist im Zerfall. Und die Demokraten haben keine Antworten auf die tiefgreifenden Probleme des Landes. Das spielt den Republikanern in die Hände. Es wird noch schlimmer werden, bevor es besser wird.
Joe Biden bei einer öffentlichen Rede, Washington, 18. Oktober 2022.
IMAGO / ZUMA WireEs ist an der Zeit, dass wir uns klarmachen, wie desaströs die bevorstehenden Zwischenwahlen in den USA ausgehen könnten. Das Land steht vor einer politischen Katastrophe, deren Auswirkungen möglicherweise noch schlimmer sein könnten, als die der Wahl von 2016, die Donald Trump zum Präsidenten machte. Die Demokraten haben gute Chancen, die Zwischenwahlen zu verlieren, und zwar deutlich. Für den Senat und den Kongress sieht es düster aus, und selbst im demokratisch geprägten Bundesstaat New York, in dem ich lebe, könnte ein rechtsextremer Gouverneur an die Macht kommen.
Dieser drohende Horror hat eine Vielzahl von Ursachen. Die US-Politik ist so polarisiert, dass die Macht in einem ziemlich vorhersehbaren Kreislauf von Wut und Ablehnung zwischen den Demokraten und Republikanern hin und her schwankt. Außerdem haben viele Amerikanerinnen und Amerikaner, mich eingeschlossen, nicht genug dafür getan, die Rechten zu besiegen. An manchen Orten wurde auch nicht genug für die Wahl mobilisiert. (Ich als registrierte Demokratin habe zum Beispiel nicht einen einzigen Anruf oder eine SMS erhalten, in der ich aufgefordert wurde, mich im Wahlkampf zu engagieren – oder auch nur wählen zu gehen und für die amtierende Demokratische Gouverneurin zu stimmen. Und ich habe auch keine Wahlkampfaktionen gesehen.)
Hinzu kommt, dass die Demokratische Partei keine starken wirtschaftspolitischen Botschaften vermittelt, weder in Bezug auf ihre eigenen Erfolge noch ihre Pläne für die Zukunft. Die Demokraten – und auch die Progressiven unter ihnen – haben die Themen, die den Menschen wichtig sind, spektakulär vernachlässigt, und die politische Kommunikation war unterirdisch. Die Bilder, die Demokraten beim Champagner-Trinken mit reichen Spenderinnen und Spendern zeigen, während die einfachen Leute vor den Lebensmittelausgaben Schlange stehen, tun ihr Übriges.
In einem verblüffenden Akt der Dummheit hat die Demokratische Partei außerdem extremistische Republikaner finanziert, weil sie davon ausging, dass diese bei den Wahlen leichter zu schlagen sein würden. Jetzt sieht es aber – wer hätte es gedacht – danach aus, als würden einige dieser Verrückten gewinnen.
Doch leider ist das zugrundeliegende Problem noch schlimmer und schwieriger zu lösen als all das. Die Republikaner stehen vor einem Sieg, weil die gesamte US-amerikanische Gesellschaft auf eine Art und Weise zerfällt, für die die Mainstream-Demokraten strukturell nicht gerüstet sind.
Die Kriminalität ist in einigen Städten ein echtes Problem – und es mit der Aussage abzutun, die rechten Medien würden es übertreiben, ist keine angemessene Antwort darauf. In New York City sind alle Formen von Kriminalität seit 2019, dem Jahr vor der Corona-Pandemie, dramatisch angestiegen (Mordfälle, das am häufigsten gemeldete und furchtbarste Verbrechen, um ganze 35 Prozent). Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Morde nicht gestiegen – ein kleiner Trost –, dafür aber die aller anderen schweren Verbrechen um 24 Prozent. Die Demokratische Gouverneurin Kathy Hochul liegt vor allem aus diesem Grund in Umfragen nur mit einem sehr geringen Vorsprung vor dem Trump-Anhänger Lee Zeldin – und sie könnte verlieren.
Wenn die Republikaner humane Reformen der Demokraten anprangern (zum Beispiel die Abschaffung der Bargeldkaution bei Strafverfahren im Bundesstaat New York), fällt den Demokraten nichts besseres ein, als einen Rückzieher zu machen und zuzustimmen, dass die Reformen das Problem sind. Das ist eine dumme Reaktion – denn wenn die Politik der Demokraten an allem schuld ist, warum sollten die um die öffentliche Sicherheit besorgten Wählerinnen und Wähler dann nicht zur Abwechslung dem durchgreifenden Law-and-Order-Ansatz der Republikaner eine Chance geben?
Der wahre Weg, die US-amerikanische Gesellschaft weniger Anfällig für Kriminalität zu machen, bestünde darin, auf vielen Ebenen mehr öffentliche Hilfe zu leisten. Die Gemeinden brauchen mehr Sport- und andere außerschulische Programme für junge Menschen. Und die Schulen brauchen mehr Mittel für psychologische Betreuung. Aber das stellt für die Demokraten ein Problem dar.
Noch wichtiger ist es jedoch, die extreme Prekarität zu bekämpfen, die uns alle in den Wahnsinn treibt. Familien brauchen mehr Sicherheit: gute Arbeitsplätze, sichere Einkommen, höhere Löhne. Jeder Mensch braucht ein Zuhause, sei es eine komfortable und sichere Sozialwohnung oder eine sichere, mietpreisgebundene Privatwohnung. Aber die USA bieten nichts von alledem, und infolgedessen ist eines von zehn Kindern, das in New York City auf eine öffentliche Schule geht, obdachlos – eines von zehn! Die Antwort der Demokraten? Den Schulen das Budget zu kürzen.
Psychische Erkrankungen und wirtschaftliche Unsicherheit sind zwei der wichtigsten Korrelate von Kriminalität, und beides lässt sich nicht kostengünstig bewältigen. Das bedeutet, dass diese Probleme nicht von einer politischen Führung gelöst werden können, die nach wie vor dem reichsten Prozent der Gesellschaft verpflichtet ist. Die Demokraten mit ihren Großspendern aus der Immobilienbranche und der Unternehmerklasse sind nicht in der Lage, auf die Nöte der Menschen adäquat zu reagieren, um Probleme wie die Kriminalität in den Griff zu bekommen.
Der allgemeine gesellschaftliche Kollaps, dessen in den Medien sichtbarstes Symptom die Kriminalität ist, macht sich aber noch auf andere Weise bemerkbar. Antisoziales Verhalten jeglicher Art hat zugenommen – darunter auch solche Formen, die den Republikanern aus dem einen oder anderen Grund egal sind, wie häusliche Gewalt und gefährlich rücksichtsloses Autofahren. Dass Unternehmen im Dienstleistungssektor große Probleme haben, Arbeitskräfte zu finden, liegt auch daran, wie extrem unhöflich Kundinnen und Kunden zu den Angestellten sind. (Die Ausbeutung durch die Chefs ist natürlich ein noch größeres Problem, aber die weit verbreitete Unhöflichkeit ist ein Zeichen für den Zusammenbruch des Gesellschaftsvertrags.)
Und die Menschen sind nicht nur grausam zu anderen: Auch Selbstzerstörung ist erschütternd weit verbreitet. Die Selbstmordraten sind nach zwei Jahren des Rückgangs im vergangenen Jahr wieder gestiegen. Auch die Zahl der Drogentoten stieg 2020 und 2021 erneut dramatisch an.
Der US-amerikanischen Gesellschaft geht es nicht gut – und die Mainstream-Demokraten, die sich dem »business as usual« verschrieben haben, geben ihr nicht die Fürsorge, die sie dringend benötigt. Die Menschen in den USA waren bereits vorher entfremdet, ängstlich und verzweifelt. Aber die Pandemie, die ein entsetzliches massenhaftes Sterben mit sozialer Isolation verband und viele öffentliche Einrichtungen, vor allem Schulen, für viel zu lange Zeit ausschaltete, hat viel von dem sozialen Gefüge zerstört, das noch übrig war.
Für all das sind die Demokraten nicht stärker verantwortlich als die Republikaner. Und es stimmt, dass die Demokraten auf nationaler Ebene mit dem Infrastrukturgesetz und dem Inflationsbekämpfungsgesetz zumindest zwei ernsthafte Schritte zur Finanzierung öffentlicher Güter unternommen und einige Preise für verschreibungspflichtige Medikamente gesenkt haben – mehr, als ihnen oft zugestanden wird. Aber das ist längst nicht genug, und viele Menschen sehen keinen Sinn darin, eine Partei wiederzuwählen, die über einen gesellschaftlichen Zustand regiert, der sich wie ein allgemeiner sozialer Kollaps anfühlt.
Und dann ist da noch das Thema, das in der Meinungsforschung am häufigsten genannt wird, mit weitem Abstand selbst vor der Kriminalität: die Inflation. Angesichts der alarmierenden und oft unvorhersehbaren Preissteigerungen bei essenziellen Gütern wie Lebensmitteln, Benzin und Wohnraum sorgen sich viele Menschen zurecht darüber, wie sie ihre Familien versorgen sollen. Wenn ich in meiner Nachbarschaft herumlaufe, sehe ich vor den Essensausgaben der Kirchen Schlangen, die bis um die Ecke des Häuserblocks reichen.
Die Inflation ist keineswegs die Schuld von Joe Biden, sondern ein globales Phänomen. Eine kürzlich durchgeführte Ipsos-Umfrage ergab, dass sie seit sechs Monaten überall auf der Welt die größte Sorge der Menschen darstellt. Biden ist nicht der Präsident der Türkei, wo die Inflation im Juli 79,6 Prozent erreichte. Aber all die anderen Anzeichen, die darauf hinweisen, dass das soziale Gefüge der USA auseinanderbricht, verstärken die Verzweiflung und den Ärger der Menschen über die steigenden Preise.
Kriminalität, der soziale Zusammenbruch und wirtschaftliche Ängste lassen sich nur auf eine Art beheben: durch nachhaltige, langfristige Investitionen in öffentliche Güter und menschliches Wohlergehen sowie durch das Gefühl von Verbundenheit und sozialer Verantwortung, das entsteht, wenn man in einer Gesellschaft lebt, die sich um einen kümmert. In den USA waren die öffentliche Versorgung und das Gefühl der sozialen Verbundenheit schon vor der Pandemie angeschlagen, aber in den letzten Jahren sind sie noch mehr geschwächt worden. Das ist eine Krise für sich.
Insbesondere Eltern, deren Kinder eine öffentliche Schule besuchen – eine Institution, die in den Jahren 2020 und 2021 praktisch nicht mehr funktionierte – könnten sich bei den Zwischenwahlen gegen die amtierenden Demokraten wenden. Die Republikaner haben ihre strafenden und mithin halbfaschistischen Forderungen, auf die sie immer setzen können; die Demokraten hingegen stecken in einer Zwickmühle: Sie sollen eigentlich die Partei der einfachen Leute sein, aber sie sind zugleich den Reichen hörig.
Wenn die Demokraten es nicht schaffen, die Menschen genügend über die unpopulären Positionen der Republikaner in Fragen wie dem Abtreibungsrecht zu empören, sind sie verloren. Und es kann durchaus sein, dass ihnen das in diesem Jahr nicht gelingt.
Es gibt hier keine schnelle Lösung. Ich würde gern glaubhaft argumentieren, dass die Demokraten dieses Problem angehen könnten, indem sie mehr Kandidatinnen vom Bernie-Sanders-Flügel der Partei sowie demokratische Sozialisten in republikanischen oder umkämpften Wahlbezirken antreten lassen würden – und vielleicht auch wieder für das Präsidentenamt. Wir haben allen Grund zur Annahme, dass eine demokratisch-sozialistische Politik eine gesündere, sicherere Gesellschaft mit einer weniger ängstlichen Bevölkerung zum Ergebnis hätte, wodurch rechtsextreme Politik an Attraktivität verlieren würde.
Aber leider verfügen wir nicht über ausreichende Wahlerfahrung und lokale Präsenz linker Kräfte, um sicher sagen zu können, dass eine demokratisch-sozialistische Botschaft in den USA derzeit konservative Wählerinnen oder Wechselwähler besser überzeugen würde als die zentristische Botschaft. Es wird noch einige Jahre dauern, bis der wehmütige Slogan »Bernie hätte gewonnen« zu einer konsistenten und zuverlässigen Wahrheit wird.
Ganz unabhängig vom Wahlausgang bedeutet das, dass es keine einfache, magische Lösung gibt, sondern nur mühevolle politische Arbeit: Wir müssen die Rechten bekämpfen, die Organisationen der Arbeiterklasse aufbauen und weiterhin auf eine Massenbasis für den demokratischen Sozialismus hinarbeiten. Es sind dunkle Zeiten, aber wir wissen, was zu tun ist.