10. August 2023
Die LINKE muss ihr Verhältnis zu Gewerkschaften, Bewegungen und Ostdeutschland neu justieren – und die Partei einen. Dabei können Gewerkschafter in ihren Reihen eine wichtige Rolle spielen, denn sie wissen vom Arbeitskampf, dass Einheit unverzichtbar ist.
Der Block der Linkspartei auf der DGB-Demo am 1. Mai 2023.
IMAGO / IPONPünktlich zur Sommerpause präsentierte die LINKE der Öffentlichkeit ihr Spitzenteam zur Europawahl. Mit der Seawatch-Kapitänin Carola Rackete und dem Sozialmediziner Gerhard Trabert soll die Partei sichtbarer an die Seite der sozialen Bewegungen gestellt werden. Doch die Nominierung war nicht nur der Auftakt zu Diskussionen des linken Personaltableaus. Sie war auch ein Versuch der Parteispitze, den innerparteilichen Streit mit dem Flügel um Sahra Wagenknecht machtpolitisch und – auch das gehört zur Wahrheit dazu – unter Verletzung der innerparteilichen Demokratie zu entscheiden.
Denn das Vorschlagsrecht für die Europaliste obliegt laut Bundessatzung nicht der Parteiführung, sondern dem Bundesausschuss. Dieser tagt vierteljährlich und ist das höchste beschlussfassende Gremium zwischen den Parteitagen. Er wurde durch die Pressekonferenz der Parteivorsitzenden ebenso vor vollendete Tatsachen gestellt wie der Rest der Partei.
Statt machtpolitische Pflöcke einzuschlagen, wäre die Partei gut beraten, ihre strategischen Leerstellen zu schließen. In der innerparteilichen Diskussion stehen sich die Forderung einer »disruptiven Neugründung« und die Idee einer »konstruktiven Erneuerung« scheinbar unversöhnlich gegenüber. Dieser Konflikt steht zugleich für das innerparteiliche Ringen um das richtige Verhältnis von Einheit und Klarheit. Denn einerseits muss die LINKE angesichts komplexer gesellschaftlicher Krisen klare politische Einschätzungen liefern, die über die Flügelkompromisse der Vergangenheit hinausgehen. Doch werden solche klaren Positionierungen mittels politischer und organisatorischer Brüche erzielt, leidet andererseits die Einheit der Partei. Eine Strategie der Aufsplitterung würde die gesellschaftliche Linke aber insgesamt nicht stärken und wäre angesichts wachsender AfD-Zustimmungswerte unverantwortlich.
»Akteure aus den Bewegungen für die Spitzenplätze auf Wahllisten zu nominieren, ist noch keine Strategie, sondern spiegelt allenfalls ein gegenseitig instrumentelles Verhältnis zwischen Partei und Bewegung wider.«
Die Suche nach dem richtigen Verhältnis von Einheit und Klarheit sollte sich daher an den zentralen gesellschaftlichen Konfliktlinien ausrichten. Diese sind in einer Zeit multipler Krisen, die die Gesellschaft auf einen permanenten Ausnahmezustand einstimmen, einerseits leicht zu identifizieren – etwa im Kampf gegen den Klimakollaps, die zunehmende soziale Ungleichheit und das wachsende militärische Eskalationspotential. Andererseits ist es hochkompliziert, sie zu bearbeiten.
In der Strategiedebatte der LINKEN könnte es hilfreich sein, wenn sich die Partei auf den sozialistischen Analyserahmen – die Betrachtung der Klassenverhältnisse – konzentriert. Damit stünde am Anfang des Strategieprozesses die Frage, wie sich die multiplen Krisen auf die Arbeits- und Lebensbedingungen der arbeitenden Menschen auswirken. Ausgehend davon müsste die bisherige Politik der Partei in drei Punkten einer Prüfung unterzogen werden: in ihrem Verhältnis zu Gewerkschaften, in ihrem Verhältnis zu Bewegungen, in ihrem Verhältnis zu Ostdeutschland.
Die Zunahme der sozialen Ungleichheit, epochale Umbrüche in der Arbeitswelt, eine zu gesellschaftlicher Dysfunktionalität führende Krise der öffentlichen Infrastruktur, der drohende Klimakollaps, die Krise der Demokratie und nicht zuletzt die Mobilisierung für einen neuen Kalten Krieg – diese Krisen kommen unterschiedlich bei den Menschen an, aber in ihrer Gesamtheit schaffen sie ein neues Gefühl von Unsicherheit. Das gilt in besonderer Weise für die Lohnabhängigen.
Gegenwärtig saugt die AfD dieses Unsicherheitsgefühl auf. Sie lebt von der wachsenden Unzufriedenheit und schürt die Konkurrenz in den unteren Klassen. Dadurch gelingt es ihr, sich als »Partei des kleinen Mannes« zu inszenieren, obwohl sie wie keine zweite Partei für weiteren Sozialabbau, eine weitere Umverteilung nach oben und für den Abbau von Arbeitnehmerrechten steht. Das gelingt ihr auch deshalb, weil die Politik der Bundesregierung bestehende Sorgen vor Verarmung, Klimawandel oder militärischer Eskalation befördert, anstatt sie abzubauen.
Will die LINKE als Opposition zu dieser Politik wahrgenommen werden, muss sie ebenso empathisch wie lösungsorientiert an dieses Gefühl anknüpfen. Wut und Verunsicherung müssen eine Handlungsperspektive bekommen. Denn nicht die Partei ist die Trägerin gesellschaftlicher Veränderung, sondern die Klasse der Lohnabhängigen. Für die LINKE heißt das: Sie muss ihren Beitrag dazu leisten, dass die arbeitenden Menschen den Krisenfolgen nicht ohnmächtig ausgesetzt sind, sondern ihnen handlungsfähig entgegentreten und ihre Interessen durchsetzen können.
Die gewerkschaftspolitische Orientierung der Partei beschränkt sich zumeist darauf, Solidarität mit kämpfenden Belegschaften zu bekunden, etwa wenn die Vorsitzenden sich an der Autobahnraststätte Gräfenhausen mit streikenden LKW-Fahrern zeigen oder wenn die Partei die Streiks im öffentlichen Dienst unterstützt. Solche Solidaritätsbekundungen sind wichtig. Sie waren es für die LKW-Fahrer, die von ihrer polnischen Spedition erst monatelang um ihren Lohn geprellt und dann von einem paramilitärischen Schlägertrupp bedroht wurden. Und sie waren es auch für die streikenden Pflegekräfte und Kitabeschäftigten, die in Krisenzeiten auf eine faire Bezahlung drängten.
Gerade Streiks im öffentlichen Dienst entfalten nur wenig ökonomische Macht und sind deshalb um so mehr auf den Rückhalt und die Unterstützung durch die Bevölkerung angewiesen. Die Solidarisierung mit streikenden Belegschaften gehört zur politischen DNA linker Parteien und ist unverzichtbar. Doch in einer Zeit epochaler Umbrüche in Arbeitswelt und Gesellschaft kann diese Solidarisierung nur der Ausgangspunkt linker Politik sein, nicht der Weisheit letzter Schluss.
Gewerkschaften sind Klassenorganisationen, die die Arbeits- und Lebensbedingungen der Lohnabhängigen verbessern wollen – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Dass dieses Interesse mittels Arbeitskampfmaßnahmen durchgesetzt wird, ist allerdings eher die Ausnahme als die Regel. Der Schutz der Beschäftigteninteressen findet überwiegend entlang von Detailfragen des Arbeitsalltags statt: Wenn Arbeitgeber versuchen, kurzfristig Betriebsferien durchzusetzen, die zu Lasten der Beschäftigten gehen. Wenn Mitarbeitende mit Rückenproblemen an Maschinen beordert werden, an denen sie den ganzen Tag stehen müssen. Oder wenn Beschäftigte in Bauberufen beweisen sollen, dass die Hautkrebserkrankung tatsächlich auf die 220 Tage Arbeit unter freiem Himmel zurückzuführen ist und nicht – wie die Arbeitgeberseite unterstellt – auf den zweiwöchigen Mallorca-Urlaub.
»Wenn Umverteilungskämpfe in Zeiten von Inflation, Energiekrise und Aufrüstung schwieriger werden, dann müssen die Gewerkschaften sich politisch mehr zu Wort melden. Die Partei sollte diese Rolle einfordern und unterstützen.«
Gewerkschaftsarbeit ist also viel kleinteiliger, als es sich in romantischen Vorstellungen von Klassenkampf oft darstellt. Dennoch gilt: Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter sind der fortschrittlichste Teil der Arbeiterklasse. Sie haben sich dazu entschlossen, ihre Interessen nicht individuell, sondern gemeinsam durchzusetzen. Das schließt nicht aus, dass sie verengten Blickwinkeln aufsitzen und ihnen politische Irrtümer unterlaufen. Doch es ist wichtig zu verstehen, dass nicht subjektives Führungsagieren Gewerkschaftsarbeit widersprüchlich macht, sondern die objektiv bestehende kapitalistische Konkurrenz zwischen den Unternehmen die Gewerkschaften immer wieder auch in Widersprüche hineinmanövriert – etwa in Fragen von Migration, Standortpolitik oder Aufrüstung. Deshalb braucht die gewerkschaftliche Diskussion gerade in zugespitzten gesellschaftlichen Krisensituationen Impulse von links – nicht zuletzt um das Bewusstsein der Klasse für die Notwendigkeit systemischer Brüche zu schärfen.
Die Verankerung in der organisierten Arbeiterklasse muss daher zu einem notwendigen Element des Parteiaufbaus werden. Denn linke Impulse finden nur dann Eingang in die gewerkschaftliche Diskussion, wenn sie in der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit eine Rolle spielen, in den Vertrauensleutestrukturen diskutiert werden und in den strategischen Debatten der Funktionäre Berücksichtigung finden. Ohne Verankerung bleibt es bei Appellen, Ideen und Ratschlägen von außen.
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft ist der größte innerparteiliche Zusammenschluss der LINKEN. Das lässt darauf schließen, dass die Partei über eine relevante Anzahl von aktiven Betriebsrätinnen, Vertrauensleuten und hauptamtlichen Gewerkschaftern verfügt. Sie brauchen Material, Argumente und vielleicht auch Schulungen, um in die gewerkschaftliche Diskussion über die Vier-Tage-Woche, den Krieg in der Ukraine oder das politische Mandat der Gewerkschaften eingreifen zu können. Eine solche Verankerung würde zudem die Partei erden, weil sie sich mit den Erfahrungen, den Fragen und auch mit den Flausen der Arbeiterklasse konstruktiv auseinandersetzen müsste.
Die Gewerkschaftsorientierung der Partei muss also weiterentwickelt werden. Nicht zuletzt weil gegenwärtig der gewerkschaftspolitische Blick der LINKEN wie auch der Rosa-Luxemburg-Stiftung stark auf Organizing-Strategien verengt ist. So wichtig der Aufbau von Organisationsmacht ist – gewerkschaftliche Handlungsfähigkeit entsteht dann, wenn betriebliche und gesellschaftliche Kräfteverhältnisse zusammen in den Blick genommen werden. Es reicht nicht, mehr zu werden. Wenn gewerkschaftliche Umverteilungskämpfe in Zeiten von Inflation, Energiekrise und Aufrüstung schwieriger werden, dann müssen die Gewerkschaften sich politisch mehr zu Wort melden. Die Partei darf einer Stärkung der politischen Rolle der Gewerkschaften nicht ausweichen, sondern sollte diese Rolle einfordern und unterstützen.
Die LINKE muss zudem ihr Verhältnis zu sozialen Bewegungen konkretisieren. Akteurinnen und Akteure aus den Bewegungen für die Spitzenplätze auf Wahllisten zu nominieren, ist noch keine Strategie, sondern spiegelt allenfalls ein gegenseitig instrumentelles Verhältnis zwischen Partei und Bewegung wider. Bewegungen sind aufsehenerregende, aber organisatorisch lose politische Eruptionen, die oftmals von großer Euphorie getragen werden und häufig auf ein einzelnes Thema ausgerichtet sind. Daraus ziehen sie ihre Stärke.
Doch auch soziale Bewegungen können politisch irren oder in strategischen Zielkonflikten feststecken. Das zeigt der aktuelle Zustand der Klimabewegung. Seit der Bundestagswahl 2021 hat sich die Strategie breiter Mobilisierungen mit dem Ziel eines Regierungs- und Politikwechsels als Sackgasse herausgestellt. Lützerath gilt hier als Symbol für den Verrat der Grünen an den Forderungen der Klimabewegung. Doch mehr noch als das Abbaggern von Lützerath wurde Deutschlands Engagement im Ukrainekrieg zum ökologischen Offenbarungseid der Bundesregierung – allein wenn man an die exportierten Leopard-Panzer denkt, die auf 100 Kilometer 530 Liter Kraftstoff verbrauchen. Im November 2021 mit dem Versprechen einer klimapolitischen Wende als Fortschrittskoalition angetreten, hat die Ampel ein in der Geschichte der Bundesrepublik beispielloses Sondervermögen verabschiedet, das effektiv ein Konjunkturprogramm für eine Wegwerfindustrie darstellt.
Die multiplen Krisen, die sich, wie Krieg und Klimakrise, miteinander verschränken und gegenseitig verstärken, lassen sich weniger denn je als voneinander losgelöste Problemfelder behandeln. Doch die Klimabewegung tut sich schwer damit, sich zum Krieg zu positionieren. Derweil kompensiert sie den Verlust ihrer Illusionen in die Regierungspolitik, indem sie Straßen blockiert und auf Rollbahnen stürmt. Diese Radikalisierung ist Ausdruck ihrer strategischen Schwäche. Sie kann nur durch den Schulterschluss mit wirkmächtigen Bündnispartnern aufgelöst werden.
»Weil sich die spontane Energie der Bewegungen schnell wieder verflüchtigt, besteht verantwortungsvolle Bewegungspolitik darin, starke Parteistrukturen aufzubauen.«
Der Zeitdruck, den das Fortschreiten des Klimawandels objektiv erzeugt, macht diese Krise zu einem strategischen Dilemma. Doch in einer Studie der Universität Oslo aus dem Jahr 2019 fand das Forschungsteam um Sirianne Dahlum, Carl Henrik Knutsen und Tore Wig heraus, dass bei sämtlichen sozialen Bewegungen der letzten hundert Jahre und über den gesamten Globus betrachtet, Proteste vor allem dann erfolgreich waren, wenn sie sich mehrheitlich aus der städtischen Mittelschicht und der organisierten Industriearbeiterklasse zusammensetzten. Im Kontext des Krisen- und Kriegskapitalismus müssen daher das geostrategische Einordnungsvermögen der Friedensbewegung, die gesellschaftliche Diskursmacht der Klimabewegung und die Durchsetzungsstärke der Industriegewerkschaften zusammenfinden, um der Zerstörung von Mensch und Natur wirksam etwas entgegensetzen zu können.
Linke Parteien verfügen über zwei strategische Vorteile gegenüber sozialen Bewegungen: Sie sind in der Regel im Besitz eines leistungsstarken politischen Apparats. Und sie weiten die Einzelanliegen ihrer Mitglieder zu einer politischen Gesamtperspektive aus. Damit können sie zum organisatorischen Zentrum strategischer Debatten und Aktivitäten werden. Weil sich die spontane Energie der Bewegungen schnell wieder verflüchtigt, besteht verantwortungsvolle Bewegungspolitik darin, starke Parteistrukturen aufzubauen. »Keine Bewegung hält für immer – und auf immer neue Bewegungen zu hoffen, ist ein Lotteriespiel«, schreibt Max Veulliet von der KPÖ in einem Beitrag über das Verhältnis von Bewegungen, Parteien und Parlamenten.
Die LINKE kann ihren Gebrauchswert als sozialistische Partei nicht entfalten, wenn sie sich moralisch in den Widersprüchen einrichtet – wie sie es beispielsweise im Februar 2023 getan hat, als sie von den Initiatorinnen und Initiatoren des »Manifests für Frieden« eine immer stärkere Distanzierung von rechts verlangte und eine solche zur Bedingung für die eigene Mobilisierung gegen den Krieg machte; oder als sie sich in der Frage des Kohleausstiegs einseitig der Klimabewegung anschloss und dabei übersah, dass zeitgleich die Beschäftigten der Kohleindustrie für einen sozialen Übergang kämpften.
Während die LINKE gemeinsam mit der Klimabewegung gegen das Abbaggern von Lützerath protestierte, bemühten sich die Gewerkschaften unter dem Druck des Strukturwandels darum, dass die Kohlereviere nicht zu abgehängten Landstrichen, sondern aus fossilen Energieregionen nachhaltige Energieregionen werden. Der Gebrauchswert einer linken Partei besteht vielmehr darin, in die bestehenden Widersprüche zu intervenieren. Bewegung und Klasse zusammenbringen, sollte die zentrale Aufgabe einer linken Partei sein. Wer die Welt des Kapitals schwächen möchte, wird an einer Stärkung der Welt der Arbeit nicht vorbeikommen.
Im Kontext hoher Umfragewerte und zunehmender Wahlerfolge für die AfD ziehen Teile der Partei die Bilanz, die LINKE habe das Vertrauen der Menschen in Ostdeutschland eingebüßt und müsse sich nun wieder stärker um sie kümmern. Vor dem Hintergrund zunehmender Lohnunterschiede zwischen Ost und West ist dieser Impuls richtig. Als strategischer Ansatz, die LINKE aus der Krise herauszuführen, scheint er allerdings weniger geeignet. Viel eher müsste es der Partei darum gehen, die Ungleichheit als Klassenkonflikt zu artikulieren und die Solidarität zwischen den Lohnabhängigen in Ost und West zu organisieren.
Seit Jahren bekommen Beschäftigte in den neuen Bundesländern monatlich etwa 800 Euro weniger im Vergleich zu ihren Kolleginnen und Kollegen in Westdeutschland – bei gleicher Arbeit. Die wachsende Tarifflucht gerade im Osten und die Kompensation schwieriger Tarifpolitik im Kontext von Pandemie, Inflation und Energiekrise durch Sonderzahlungen und Inflationsausgleichsprämien hat diese Differenz mittlerweile auf 13.000 Euro jährlich ansteigen lassen. Dies ist eine Ungerechtigkeit, die von keiner linken Partei widerspruchslos hingenommen werden kann. Im 33. Jahr der deutsch-deutschen Einheit stellt sich aber die Frage, wie diese Situation überwunden werden kann.
Will sich die LINKE stärker um den Osten kümmern, muss sie ihr Engagement für Ostdeutschland in eine gesamtdeutsche Bearbeitung von Strukturbrüchen einbetten. Diese haben zu früheren Zeitpunkten auch in anderen Teilen der Bundesrepublik stattgefunden. Etwa im Ruhrgebiet, wo die Krise der Steinkohle und später die Krise der Stahlindustrie für Hunderttausende den Verlust gut bezahlter Arbeitsplätze nach sich zog. Von den zwanzig selbständigen Hüttenwerken Mitte der 1970er Jahre waren 1988 nur noch acht übrig. Die Beschäftigtenzahl hatte sich halbiert. Es folgte ein wirtschaftlicher Niedergang der Region. Heute liegt das verfügbare jährliche Pro-Kopf-Einkommen in den Ruhrgebiets-Hochburgen Duisburg und Gelsenkirchen bei 17.741 beziehungsweise 17.015 Euro. Nirgendwo in Deutschland verdienen die Menschen so wenig wie in diesen beiden Städten.
Aber auch wenn man andere Parameter heranzieht, wird deutlich: Trotz des Strukturbruchs in Ostdeutschland, der in rasanter Geschwindigkeit Industrie, Arbeitsplätze und regionale Wertschöpfung vernichtete, ist die Zunahme von Armut, abgehängten Regionen und sozialer Ungleichheit ein gesamtdeutsches Problem. So hat beispielsweise das Saarland die höchste kommunale Pro-Kopf-Verschuldung, gefolgt von Hessen und Rheinland-Pfalz. In Brandenburg, Bayern und Sachsen war der kommunale Pro-Kopf-Schuldenstand dagegen sogar besonders niedrig. Baufällige Schulgebäude, ausgedünnte ÖPNV-Linien und weiße Flecken in der öffentlichen Infrastruktur sind das Ergebnis einer solchen Entwicklung.
Dennoch gibt es einen entscheidenden Unterschied zwischen den Strukturwandelerfahrungen in Ost und West: die Geschwindigkeit. Der Niedergang der Ruhrkohle begann Ende der 1950er Jahre mit dem verstärkten Einsatz von Erdöl in privaten Haushalten und industrieller Fertigung. Er zog sich über ein halbes Jahrhundert bis weit in die 2000er Jahre. Gleiches gilt für die Stahl- und die Werftenindustrie. Dagegen vollzog sich der industrielle Niedergang Ostdeutschlands viel rasanter und unter ganz anderen Rahmenbedingungen. Hier halbierte sich allein zwischen 1989 und 1991 die Beschäftigtenzahl im verarbeitenden Gewerbe. Ein Trend, der sich fortsetzte: Bis 1995 ging die Zahl der Industriebeschäftigten noch einmal um die Hälfte zurück, sodass innerhalb weniger Jahre nur noch 14,5 Prozent der Menschen in der ostdeutschen Industrie tätig waren. Dieser Strukturbruch wurde begleitet von einer rücksichtslosen »Freilandpraxis«: Ostdeutschland wurde zu einer Art Experimentierfeld, in dem die Unternehmen versuchten, die Arbeitskraft so abzuwerten, wie sie es in Westdeutschland aufgrund starker Gewerkschaften nicht konnten.
»Der Vertrauensverlust der LINKEN in Ostdeutschland ist eine regionale Tragödie. Doch der Vertrauensverlust der LINKEN unter den arbeitenden Menschen in ganz Deutschland ist das viel größere strategische Problem.«
Mit der Vereinigung von WASG und PDS zur LINKEN ergriffen beide Parteien die historische Gelegenheit, die Erfahrungen der Menschen in Ost und West gleichermaßen in den Blick zu nehmen. Der rot-grüne Neoliberalismus der Regierung Schröder traf die arbeitenden Menschen in beiden Teilen Deutschlands und war ein wesentlicher Faktor, weshalb Ost- und Westlinke zusammenfinden konnten. Dadurch gelang es erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik, eine in der Arbeiterbewegung verankerte Partei links von der Sozialdemokratie zu etablieren.
Die ähnlichen Erfahrungen halfen, die Trennung in der deutsch-deutschen linken Parteiengeschichte zu überwinden und ein gemeinsames Agieren zu ermöglichen. Auch das machte die LINKE in ihrer Gründungszeit stark. Nicht zuletzt, weil sich der Anteil von Arbeiterinnen, Angestellten und Arbeitslosen in ihrer Wählerschaft zwischen 2002 und 2005 mehr als verdreifachte. Nur vier Jahre später – bei der Bundestagswahl 2009 – wählte nahezu jeder fünfte Arbeiter die LINKE. Bei den Arbeitslosen war es sogar jede vierte Person. »Über Nacht« habe die PDS einen Arbeitnehmerflügel bekommen, schrieb der Soziologe Horst Kahrs damals im Wahlnacht-Bericht der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Mittlerweile ist der Anteil der Arbeiter in der Wählerschaft der LINKEN auf 5 Prozent geschrumpft. Der Rückgang drückt das Misstrauen der Klasse aus. Sie geben ihre Stimme eher den Grünen, der FDP oder der AfD, als die LINKE zu wählen. Der Vertrauensverlust der LINKEN in Ostdeutschland ist eine regionale Tragödie. Doch der Vertrauensverlust der LINKEN unter den arbeitenden Menschen in ganz Deutschland ist das viel größere strategische Problem. Die LINKE muss die Erfahrungen der Lohnabhängigen in Ostdeutschland in besonderer Weise in den Blick nehmen, sie aber in den Erfahrungshorizont der gesamten Klasse einbetten. Eine einseitige Konzentration auf Ostdeutschland, im schlimmsten Fall ohne den Fokus auf den Faktor Klasse, würde die notwendige Gesamtperspektive aufgeben, die mit dem Zusammenschluss der LINKEN bei ihrer Gründung gebildet wurde.
Hinzu kommt: Ostdeutschland ist nicht nur die Region, in der sich der heftigste Strukturbruch deutsch-deutscher Nachkriegsgeschichte vollzogen hat. Ostdeutschland ist nicht nur eine abgehängte Region. Ostdeutschland ist auch der Teil Deutschlands, in dem eine neue Generation von Beschäftigten heranwächst, die nicht mehr bereit ist, widerspruchslos hinzunehmen, dass sie länger arbeiten muss und dafür weniger Geld bekommt. Die sich gewerkschaftlich organisiert und anfängt, im Arbeitskampf Tarifverträge durchzusetzen. Im neoliberalen Experimentierfeld Ostdeutschland beginnt sich der Wind zu drehen – gegen längere Arbeitszeiten, gegen fehlende Tarifbindung, gegen Union-Busting. Diese Menschen führen einen Kampf um Lohngleichheit, der lange überfällig ist.
Für die Strategiedebatte der LINKEN lohnt sich der Rückblick auf die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland. Damals waren in den neuen Bundesländern die Beschäftigten der Stahlindustrie sowie der Metall- und Elektroindustrie in den Streik getreten. Aber als es aufgrund von Zulieferverflechtungen zu einer Fernwirkung des Streiks auf westdeutsche Firmen kam und diese Kurzarbeit anmelden mussten, sah sich die IG Metall gezwungen, den Streik ergebnislos abzubrechen. Diese Erfahrung zeigt, dass es die Entschlossenheit im Osten und die Solidarität aus dem Westen ebenso braucht wie eine Gesamtperspektive.
Eine konstruktive Erneuerung der LINKEN ist alternativlos, denn ein Scheitern dieser Partei wäre eine politische Tragödie für die gesamte Linke. Soll dieser Prozess gelingen, muss er mit analytischer Schärfe ebenso wie mit integrativen Angeboten an alle Teile der Partei organisiert werden. Die Einschätzungen zur Krise der Partei und ihren Ursachen sind sehr unterschiedlich. Ziel eines solchen Prozesses muss daher sein, dass sich die Positionen annähern und die Schlussfolgerungen zueinander finden – insbesondere in Bezug auf die Gewerkschaften, die Bewegungen und auch in Bezug auf Ostdeutschland.
Über das Verhältnis der Partei zu Gewerkschaften nachzudenken, würde die Betrachtung der Klassenverhältnisse in den Mittelpunkt der strategischen Debatte stellen und der innerparteilichen Diskussion einen tragfähigen Analyserahmen geben. Das Verhältnis zu sozialen Bewegungen neu zu verhandeln, könnte der Partei helfen, sich strategischer auf die Fragen zu beziehen, an denen gesellschaftliche Mobilisierungen entstehen, und sie auch gegenüber den Bewegungen handlungsfähiger machen. Die Diskussion über Ostdeutschland schließlich würde fortsetzen, was mit dem Vereinigungsprozess von WASG und PDS begonnen wurde: eine Gesamtperspektive einzunehmen, ohne die besondere Zurücksetzung Ostdeutschlands dabei zu vergessen.
Die Rücksichtslosigkeit der Flügelkämpfe in den letzten Jahren hat die Partei extrem polarisiert. Der Aufbau eines strategischen Zentrums, das nicht nur die Interessen der eigenen Strömung im Blick hat, sondern die Entwicklung der Gesamtpartei, kann daher ein integratives Angebot mit dem Ziel einer konstruktiven Erneuerung sein. Doch ein solches Zentrum entsteht nicht von allein. Es braucht die Einsicht und die Bereitschaft der einzelnen Flügel ebenso wie die Unterstützung der Parteiführung.
Auf der Tagesordnung steht also, innerparteilichen Kontroversen auf den Grund zu gehen. Auf der Tagesordnung steht aber auch, eine innerparteiliche Kultur zu entwickeln, die Mehrheitsbeschlüsse nicht zur Ausgrenzung nutzt, sondern so organisiert, dass sie die Partei mit all ihren Flügeln tragen. Im Prozess der konstruktiven Erneuerung können die Erfahrungen linker Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter eine besondere Rolle spielen. Ihre größte Kompetenz: Sie wissen, dass Einheit notwendig ist, aber nicht von allein kommt. Einheit muss über Meinungsverschiedenheiten hinweg organisiert werden, um gemeinsam handlungsfähig zu werden.
Hinzu kommt: Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter stehen tagtäglich in den kleinen und großen Konflikten zwischen Kapital und Arbeit. Und es sind Erfahrungen wie diese, die den Blick der Partei auf die zentralen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen schärfen und neben der Einheit auch für die notwendige Klarheit sorgen können.
Ulrike Eifler ist Bundessprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Betrieb & Gewerkschaft in der Partei DIE LINKE.